# taz.de -- Sozialpsychologe über die SPD: „Unsicher, nervös und zerrissen“
       
       > Die SPD leidet an einem Minderwertigkeitskomplex, analysiert Christian
       > Schneider. Sie sei sowohl alte Dame als auch Rebellin.
       
 (IMG) Bild: Mächtig, das sind die Konservativen: Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) hinter der Kanzlerin Angela Merkel (CDU).
       
       taz am wochenende: Herr Schneider, die SPD hat gerade den 70. Jahrestag der
       Wiedergründung nach der Nazizeit gefeiert. Mir wird oft traurig zumute,
       wenn ich über die SPD nachdenke. Sie ist ein schwerer Fall, oder?
       
       Christian Schneider: In der Tat. Um das Dilemma der SPD zu verstehen, muss
       man ihren Grundkonflikt betrachten.
       
       Welcher wäre? 
       
       Die SPD ist ja die deutsche Partei schlechthin. 150 Jahre alt, viel älter
       als die Konkurrenz. Sie ist eine alte, ehrwürdige Dame, die schon alles
       gesehen hat. In ihr steckt aber auch ein rebellisches Mädchen mit
       Punkhaarschnitt und Nasenring. Die SPD lebt eine Tradition des
       Antitraditionalismus.
       
       In Politische übersetzt: Die Sozialdemokratie will regieren, aber immer
       auch Opposition sein. Diese Dialektik führte historisch gesehen dazu, dass
       die CDU seit 1949 fünfmal den Kanzler stellt, die SPD nur dreimal. Sie ist
       die ewige Zweite. 
       
       Gleichzeitig staatstragend und dagegen zu sein, ist nicht einfach. Die SPD
       ist nie wirklich in der Macht angekommen. Ihr Ursprung liegt in der
       Arbeiterbewegung, sozusagen in sozialrevolutionären Quellen. Deshalb hat
       sie – psychologisch gesprochen – das Problem des Unterlegenen. Sie nimmt
       die Position des rebellischen Kindes ein. Macht ausüben kann aber nur der
       Erwachsene, der Vater oder die Mutter.
       
       Konservative Politiker strahlen oft ein natürliches Selbstbewusstsein aus.
       Diese höflich-entspannte Gelassenheit, im Sinne von: Wir regieren und
       werden das auch weiter tun, egal was ihr Journalisten schreibt. Die SPD ist
       empfindlicher, schneller beleidigt, sie merkt sich jede kleine Spitze. 
       
       Ich würde das konservative Lebensgefühl sogar noch grundsätzlicher
       formulieren. Wir sind da. Wir werden immer da sein.
       
       Uns kann keiner was? 
       
       Genau. Bei den Politikerporträts, die ich für die taz schreibe, ist mir
       aufgefallen, dass diese Menschen in sich ruhen. Sie stammen aus geordneten
       Verhältnissen, haben einen bildungsbürgerlichen Hintergrund, sind
       vielleicht gläubig. Das sind oft sympathische, innerlich gefestigte
       Persönlichkeiten, mit denen man sich gerne unterhält. Bei der SPD gibt es
       viel mehr gebrochene Lebensentwürfe. Sie kämpft viel stärker um Anerkennung
       als die CDU.
       
       Nehmen wir ihren Vorsitzenden, [1][Sigmar Gabriel]. Seine Neigung zu
       schlechter Laune ist unter Journalisten geradezu legendär.
       Pressekonferenzen arten oft zu Machtspielchen aus. Er hat auch kein Problem
       damit, Leute zusammenzustauchen, die in der Parteihierarchie weit unter ihm
       stehen. 
       
       Gabriels Jugend muss nicht einfach gewesen sein. Die Eltern früh getrennt,
       die Mutter war Krankenschwester, der Vater ein überzeugter Nazi. Ich würde
       hier nicht von einem bestimmten Typus sprechen wollen. Aber solche
       Verhaltensweisen kommen bei Aufsteigerkarrieren vor. Sie haben es von unten
       nach ganz oben geschafft und zeigen das auch. Wer mit dem goldenen Löffel
       im Mund aufwuchs, hat es nicht nötig, sich so zu produzieren.
       
       Die SPD hat mit Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder auch
       Kanzler gestellt. Waren das keine Vaterfiguren, um in Ihrem Bild zu
       bleiben? 
       
       Brandts Lebensentwurf war zu gebrochen. Er war eigentlich ein echter
       Linker, ein Rebell. Die Emigration während der Nazizeit, die depressiven
       Verstimmungen, er war kein in sich ruhender Vater. Helmut Schmidt
       repräsentierte den Typus kühler Manager. Wenn überhaupt, war er der
       abwesende Vater, der den ganzen Tag arbeitet, schlecht gelaunt nach Hause
       kommt und die Kinder wegen schlechter Noten bestraft. Und Schröder? Der
       verkörperte doch den Prototyp des jungen Aufsteigerrüpels.
       
       Die SPD hat in Bundesregierungen Überzeugungen geschleift, die ihr heilig
       waren. Erst die Agenda 2010 mit den Hartz-Gesetzen, dann die Rente mit 67,
       dann eine Mehrwertsteuererhöhung. Sie hat ihren Wesenskern, nämlich den der
       sozialen Gerechtigkeit, verraten, weil sie dachte, eingebildeten oder
       realen Sachzwängen genügen zu müssen. 
       
       Unabhängig davon, ob man die Agenda-Politik für richtig oder falsch hält:
       Die SPD hat damit ihren Markenkern zerstört. Ihr Verhalten während dieser
       Jahre passt übrigens hundertprozentig in das erwähnte Muster. Im
       Rebellentum ist die Überanpassung ja oft schon angelegt.
       
       Inwiefern? 
       
       Nehmen Sie eine typische Adoleszenzentwicklung: Ein Kind kommt in die
       Pubertät und wird erwachsen. Dabei rebelliert es gegen die Eltern oder,
       ganz allgemein, gegen die Werte der Gesellschaft. In den meisten Fällen
       legt sich diese rebellische Phase wieder. Und in einigen kommt es danach
       zur Überanpassung. Der Erwachsene nimmt nicht nur die gängigen Normen an,
       er muss dauernd beweisen, dass er total vernünftig geworden ist. Aus
       Rebellen werden manchmal Oberspießer.
       
       Wenn Menschen lange gegen ihre Wünsche und Überzeugungen handeln, hat das
       unterschiedliche Folgen. Sie werden aggressiv, sie gehen in die innere
       Emigration oder es kommt zu charakterlichen Deformationen. Was passiert mit
       Politikern oder einer Partei? 
       
       Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder der Politiker wird zynisch. Das
       würde ich zum Beispiel Gabriel unterstellen, ich nenne ihn ja auch gerne
       „Zickzack-Dicksack“, weil er alle paar Tage seine Meinung ändert. Oder der
       Politiker tritt aus. Ich glaube, dass man Realpolitik ohne ein gewisses Maß
       an Zynismus nicht betreiben kann.
       
       Mein Eindruck ist, dass die SPD an sich selbst leidet wie keine andere
       Partei. Das hat oft etwas Selbstquälerisches. Ein Sozi findet sich immer,
       der öffentlich den eigenen Laden schlechtredet. 
       
       Natürlich, das ist so. Die SPD ist schizophren, weil sie eigentlich aus
       zwei Parteien besteht: der SPD und der USPD. Oskar Lafontaine hat bis zu
       seinem Austritt diese linke Strömung repräsentiert. Eigentlich hätte sich
       die SPD zu einem wichtigen Zeitpunkt spalten müssen, etwa bei der Agenda
       2010. Das hat sie nicht getan. Stattdessen hat sie ihren Zwiespalt nach
       innen verlagert, während einige Enttäuschte zur Linkspartei überliefen und
       sich ganze Wählergruppen abwendeten.
       
       Wie wäre die SPD, wenn sie ein Mensch wäre? 
       
       Unsicher, nervös und zerrissen. Sie ruht nicht in sich selbst. Diese Partei
       handelt nicht mehr von einer festen Basis aus. Deshalb ist sie auch so
       abhängig von Erfolgen.
       
       Weil jemand, der mit sich selbst nicht klarkommt, besonders viel
       Anerkennung von außen braucht? 
       
       Die SPD reagiert auf Wahlsiege oder Niederlagen anders als andere Parteien.
       Da geht es nicht nur um Zahlen, sondern immer gleich auch um
       Grundsätzliches. Die Sozialdemokraten fragen sich, wer sie sind, was sie
       können, ob sie da sind, wo sie sein wollen.
       
       Die SPD liegt, seitdem sie wieder mit Merkel regiert, in Umfragen wie
       festgefroren bei 25 Prozent. Sie bleibt unbeliebt, obwohl sie mit ihren
       Themen die Koalition innenpolitisch dominiert. Ich würde das auch als
       Spätfolge der Agenda-Frustration interpretieren. Der Vertrauensverlust bei
       den Wählern war so gravierend, dass aktuelle Reparaturen wie der
       Mindestlohn oder die Rente mit 63 nicht helfen. Wie sehen Sie das? 
       
       Ich stimme zu. Im Grunde versucht es die SPD allen recht zu machen. Sie
       will Fürsprecherin des kleinen Mannes sein, aber es sich bloß nicht mit den
       Eliten verscherzen. So was heißt, eine opportunistische Struktur zu
       verinnerlichen. Opportunisten aber werden nicht geliebt. Böse gesagt: So,
       wie sich die SPD im Moment präsentiert, ist sie eine gute Juniorpartnerin
       der Konservativen. Aber sie ist keine Regierungspartei. Mutti thront ganz
       oben, das Kind darf sich sicher fühlen.
       
       Wir dürfen die Patientin natürlich nicht ohne Rat nach Hause schicken. Was
       kann die SPD tun, damit sich ihre Situation ändert? 
       
       Sie braucht ein anderes Personaltableau. Ein charismatische Persönlichkeit,
       der oder die sagt, so machen wir das jetzt, könnte die innere Zerrissenheit
       überspielen. Langfristig könnte Manuela Schwesig eine solche Option sein.
       Sie ist jung, durchsetzungsstark, man hört ihr gerne zu, und ihre Themen
       interessieren die Menschen.
       
       Und wie wird die Partei ihren Minderwertigkeitskomplex los? 
       
       Um ihre innere Verfasstheit zu stärken, bräuchte die SPD vor allem
       Klarheit. Aber die wird es nicht geben, solange sie beide Charakterzüge,
       das Staatstragende und das Rebellische, vereinen will.
       
       11 Oct 2015
       
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