# taz.de -- „Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Den Rollstuhl über Gleise schieben
       
       > Auf der gemeinsamen Flucht fühlte ich Hilflosigkeit und Angst. Ich wollte
       > diese Gefühle kontrollieren. Aber wie? Halt geben, wenn einer aufgeben
       > wollte.
       
 (IMG) Bild: Drei Tage verbrachten wir in einem Lager in Ungarn, bevor unsere Reise in Dortmund ein Ende nahm
       
       Nadira ist 76 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl. Im Jahr 1948 musste die
       Palästinenserin wie Hunderttausende andere ihre Heimatstadt Nazareth in
       Galiläa verlassen. Sie floh nach Damaskus und landete im Flüchtlingslager
       Jarmuk. An diesem ewig überfüllten Ort verbrachte sie ihr Leben, gründete
       eine Familie, arbeitete, lebte das ständig vorläufige Dasein eines
       palästinensischen Flüchtlings.
       
       Im Jahr 2014 wurde Nadira wie viele andere Palästinenser und
       Palästinenserinnen in Syrien erneut zur Flucht gezwungen. Die Gewalt in
       Damaskus, die permanente Angst vor dem „Islamischen Staat“, der
       Al-Nusra-Front, den Streitkräften von Baschar al-Assad, all dies machte das
       Leben unerträglich. Erneut verließ sie, was sie als Heimat bezeichnete. Nun
       Richtung Istanbul.
       
       Nadiras Geschichte bewegt mich – als Palästinenser, als Mensch. Sie teilt
       die Geschichte mit so vielen, die auf der Suche nach einem Leben in Würde
       sind.
       
       Mitte September 2015 sind Nadira, ihre Familie und ich in einem
       Flüchtlingslager in Wesel im Westen Deutschlands gelandet. Zu Nadiras
       Familie gehören Mona, die Tochter, die Lehrerin ist, Mohie, der Sohn, der
       Professor an der Universität war, Reeman, Mohies schwangere Frau, und deren
       kleiner Sohn Kinan sowie Yousif, Nadiras Schwiegersohn. Nicht alle waren
       schon da.
       
       Unsere gemeinsame Reise hatte am 7. September auf der griechischen Insel
       Mytilene begonnen. Zuvor hatte ich schon sechs Wochen lang mit der Familie
       über Anrufe und WhatsApp Kontakt. Ich wollte sie begleiten, die Flucht
       dokumentieren. Von unseren Gesprächen wusste ich einiges über sie.
       
       So, dass Reemans Familie Mohie als Schwiegersohn ablehnte, da er ein Sunnit
       und sie eine Alevitin ist. Sie sind seit zehn Jahren zusammen. Und sie
       erzählten mir auch, wie ihr erster Versuch gescheitert ist, mit einem
       kleinen Schlauchboot das Meer zu überqueren. Ich erfuhr, dass sie mitten
       auf See in der Nähe der griechischen Grenze auf die Marine stießen, die sie
       zwang, das Boot zu verlassen. Anderthalb Stunden mussten sie im Wasser
       zubringen, ohne dass die griechischen Behörden auf ihre telefonischen
       Hilferufe reagierten. Erst die türkische Marine rettete sie, nur um sie für
       die nächsten drei Tage festzusetzen.
       
       ## Der zweite Versuch, das Meer zu überqueren
       
       Am 4. September unternahm die Familie den nächsten Anlauf von Istanbul aus.
       Dieses Mal ließ Mohie seine Frau Reeman und den Sohn Kinan in der Türkei
       zurück, aus Angst, dass bei der schwangeren Reeman die Wehen einsetzen und
       Kinan im Meer ertrinkt. Tatsächlich gebar Reeman nur wenige Tage später die
       wunderschöne Yasmin.
       
       Glücklicherweise war der zweite Versuch, das Meer zu überqueren,
       erfolgreich. Sie landeten auf der griechischen Insel Mytilene. Ich traf sie
       dann auf der Fähre nach Athen. Erst war es unsicher, ob sie es aufs Schiff
       schaffen. Auf dieser regulären Fähre musste jeder über Papiere der
       griechischen Behörden verfügen, Papiere, die entweder legal von den Ämtern
       ausgegeben wurden, oder solche, die die Passagiere für viel Geld kauften.
       
       Wir kamen am nächsten Tag gegen Mittag in Athen an und nahmen einen Bus,
       den wir mithilfe eines Schleppers ausfindig gemacht hatten. In der Nacht
       wurden wir an einem Feld ausgesetzt und mussten zu Fuß weiter. Mühsam
       suchten wir im Dunkeln den Weg zur mazedonischen Grenze, wo die Polizei uns
       festhielt und in Gruppen zu 50 Personen einteilte.
       
       Die ganze Zeit über fühlte ich große Angst, Erschöpfung und Hilflosigkeit.
       Ich wollte diese Gefühle kontrollieren und überlegte, wie. Schließlich kam
       mir die Idee, mich darauf zu konzentrieren, wie ich uns allen die Reise
       erleichtern könnte. Also achtete ich bei dem Marsch durch die Dunkelheit
       darauf, dass wir aufeinander aufpassten, dass wir im selben Schritt
       marschierten, dass wir einander halfen, wenn einer aufgeben wollte.
       Manchmal sangen wir Lieder, die wir von zu Hause aus kannten.
       
       Schließlich wurden wir in Gruppen zu einem Zug gebracht, wo uns Mitarbeiter
       des Roten Kreuzes mit etwas Nahrung und Wasser versorgten. Der Zug war
       völlig überfüllt, es war kalt. An Schlaf war in dieser und auch den
       folgenden Nächten nicht zu denken. Endlich kamen wir an die Grenze zu
       Serbien, wo wir nach ein paar Kilometern zu Fuß erneut Polizeikräften
       gegenüberstanden. Sie hielten uns ein paar Stunden in einem Lager fest,
       nahmen Fingerabdrücke und erledigten anderen Papierkram. Von dort ging es
       im Bus nach Belgrad, wo wir um 9 Uhr morgens ankamen. Um halb zehn sollte
       uns dann ein Bus an die ungarische Grenze bringen.
       
       Die letzten fünf Kilometer bis zur ungarischen Grenze mussten wir über
       Schienen gehen, wobei wir Nadira im Rollstuhl durch den kalten Regen über
       die Gleise schleppten. Völlig erschöpft, total durchnässt und hungrig kamen
       wir in Ungarn an. Freiwillige und Journalisten begrüßten uns und gaben uns
       Obst und Wasser.
       
       Danach waren wir drei Tage in einem Lager der ungarischen Polizei mit
       katastrophalen Zuständen. Nasskaltes Wetter, Zelte mit Löchern, zu wenig
       Lebensmittel, die zum Teil von solch schlechter Qualität waren, dass
       Menschen eine Lebensmittelvergiftung bekamen. Die vergangenen Tage und
       Nächte voller Anstrengung und Anspannung taten ein Übriges. Nadira weinte
       viel, all diese Erniedrigung, die schwierigen Umstände, die erbärmliche
       Behandlung und ein Essen, das sie wegen ihrer Diabetes nicht zu sich nehmen
       konnte. Erschöpfung pur.
       
       ## Unterkunft mit 360 Personen
       
       Unsere Reise fand ein vorläufiges Ende in Dortmund, wo wir mit dem Zug
       hinkamen. Nach acht Tagen mit kaum etwas zu essen und zu trinken gab es
       endlich eine warme Mahlzeit. Und ein wenig Ruhe.
       
       Wir sind nun in einer Unterkunft mit 360 Personen. Im Laufe von 48 Stunden
       hatte das Rote Kreuz das ungenutzte Gebäude einer großen Firma
       hergerichtet. Noch wird weitergearbeitet, um Platz für 500 Menschen zu
       schaffen.
       
       Ich bin im selben Raum mit Nadira und ihrer Familie, als gehörte ich zu
       ihnen. Und wir bemühen uns auch, nicht getrennt zu werden. Ich bin ihnen
       gefolgt, bin bei ihnen geblieben und bin noch bei ihnen. Meine Rolle als
       Filmemacher, der ihre Reise dokumentiert, ist nur ein Aspekt. Daneben bin
       ich eben auch der Khaled, der sein Bestes tut, um diese Familie und andere
       Flüchtlinge zu unterstützen, sie davor zu bewahren, von skrupellosen
       Schleppern ausgebeutet zu werden. Diese wissen sehr genau, wie verzweifelt
       die Menschen auf der Suche nach Information und Hilfe sein können.
       
       Trotz aller Erleichterung, jetzt in Sicherheit zu sein, waren Mohies Augen
       voller Tränen, als er an Aid al-Adha, dem islamischen Opferfest, seine
       Gebete sprach. Wann und wie kann er mit seiner Frau und seinen Kindern
       wieder zusammen sein? Wann wird er seine neugeborene Tochter Yasmin sehen?
       Nadira hat ein paar Tage der Ruhe und der Erholung im Krankenhaus
       verbracht. Es geht ihr schon besser. Erneut und doch wieder nur ein
       Flüchtling, betrachtet sie ihr neues Zuhause, müde, voller Hoffnung, und
       voller Fragen.
       
       12 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Khaled Jarrat
 (DIR) Khaled Jarrar
       
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