# taz.de -- Die Flüchtlingskrise erreicht Kanada: Vor verschlossenen Türen
       
       > Der Fall des ertrunkenen Aylan Kurdi bringt Kanada in Erklärungsnot. Hier
       > war das Thema bisher vor allem ein europäisches Problem.
       
 (IMG) Bild: Mitten in Wahlkampf: für Kanadas Premierminister Stephen Harper kommt der Fall Aylan ungünstig.
       
       EDMONTON taz | Für die meisten Kanadier war die Flüchtlingskrise in Europa
       bislang weit weg. Sie spielte sich jenseits ihres riesigen Kontinents ab,
       die kanadischen Medien berichteten nur am Rande und an den heimischen
       Flughäfen kamen bislang nur wenige Asylsuchende. Auch im laufenden
       Wahlkampf in Kanada spielte das Thema kaum eine Rolle. Bis jetzt.
       
       Doch seit die Bilder des ertrunkenen dreijährigen Flüchtlings Aylan Kurdi
       um die Welt gehen, ist auch in Kanada die Bestürzung groß – und die
       Regierung in Ottawa steht auf einmal mächtig unter Druck. Denn Aylans
       Familie wollte auf der Flucht vor der islamischen Terrormiliz über die
       Türkei zu Verwandten nach Vancouver gelangen. Es war ein verzweifelter
       Versuch, den Aylan, sein Bruder und seine Mutter jetzt mit dem Leben
       bezahlen mussten.
       
       Die Familie hatte ihre Hoffnungen auf Aylans Tante Tima Kurdi gesetzt, die
       seit 20 Jahren in Vancouver lebt und dort als Friseurin arbeitet. Kurdi
       wollte den Rest der Familie aus Syrien ins sichere Kanada holen, scheiterte
       aber trotz mehrfacher Anläufe an der türkischen und kanadischen Bürokratie.
       
       Kurdi hatte auch versucht, finanzielle Bürgen für die Ausreise von Aylans
       Familie nach Nordamerika zu finden, denn nach dem kanadischen
       Flüchtlingsrecht müssen mindestens fünf kanadische Staatsbürger
       garantieren, um den Einwanderern im Notfall beistehen zu können. Doch das
       mißlang und so entschloss sich Kurdi am Ende, der Familie Geld zu schicken,
       um einen Schlepper anzuheuern. Knapp 6.000 Dollar soll die Familie für die
       Fahrt aus der Türkei nach Griechenland gezahlt haben. „Wir konnten sie
       einfach nicht herausholen aus der Türkei. Deswegen stiegen sie in dieses
       Boot“, sagte Kurdi unter Tränen der Zeitung National Post.
       
       ## Hilferuf blieb unbeantwortet
       
       Für Premierminister Stephen Harper kommt der tragische Fall zur Unzeit,
       denn in sechs Wochen wird in Kanada gewählt und die Details werfen kein
       gutes Licht auf seine Regierung. Denn Kurdi hatte sich laut kanadischer
       Medien vor einigen Monaten in ihrer Not in einem Brief an
       Einwanderungsminister Chris Alexander gewandt und um Hilfe gebeten – bekam
       aber nie eine direkte Antwort. Ein formeller Asylantrag für den in
       Deutschland lebenden Onkel Aylans wurde von der Einwanderungsbehörde in
       Ottawa wegen fehlender Papiere abgewiesen.
       
       Nun ist das weltweite Medienecho über den Fall groß und der Minister sah
       sich gezwungen, seinen Wahlkampf zu unterbrechen. In einer schriftlichen
       Mitteilung erklärte Alexander, er sei wie viele Kanadier zutiefst betroffen
       über das Schicksal der Familie. Den an ihn gerichteten Brief habe er
       seinerzeit an die zuständigen Bürokraten weitergeleitet. Zuvor hatte
       Alexander die Medien dafür verantwortlich gemacht, dass der
       Flüchtlingskrise in Kanada bislang wenig Priorität eingeräumt wurde.
       
       Kritiker dagegen werfen der kanadischen Regierung schon länger Untätigkeit
       vor, was jetzt auch im Wahlkampf zur Sprache kommt. „Es ist unerträglich,
       dass wir nichts unternehmen. Kanada ist verpflichtet zu helfen“, beklagte
       Oppositionsführer Tom Mulcair in Toronto. Der Sozialdemokrat führt derzeit
       die Umfragen in Kanada an könnte Harper im Herbst als Premierminister
       ablösen. Die oppositionellen Liberalen forderten, das Land müsse sofort
       25.000 Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen.
       
       Bislang sind in Kanada laut Einwanderungsbehörde nur 2.374 Flüchtlinge aus
       Syrien gelandet. Zwar hatte sich die Regierung bereit erklärt, etwas mehr
       als 10.000 Syrer aufzunehmen. Doch bürokratische Hürden erschweren den
       Prozeß ungemein. So war es Aylans Familie nicht gelungen, von den Behörden
       einen Reisepass ausgestellt zu bekommen und bei der UN als Flüchtling
       registriert zu werden - zwei Voraussetzungen, die Kanada verlangt.
       
       Tatsächlich hatte die Regierung in Ottawa die bürokratischen Regeln für
       Flüchtlinge in den letzten Jahren verschräft und auch den Familiennachzug
       für Einwanderer erschwert. Flüchtlinge aus so genannten sicheren
       Drittstaaten haben fast keine Chance mehr, ins Land zu gelangen und die
       Mühlen der Bürokratie mahlen langsam. Das liberale und weltoffene Image des
       Landes hat jedenfalls gelitten.
       
       4 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jörg Michel
       
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