# taz.de -- Interview zum Finanzlage Berlins: „Ich war in Mathe ein Versager“
       
       > Heute beginnen die Haushaltsverhandlungen. Der Vorsitzende des
       > zuständigen Ausschusses im Berliner Parlament, Fréderic Verrycken (SPD),
       > freut sich schon.
       
 (IMG) Bild: Hier wird über das wenige Geld Berlins entschieden: Besucher im Abgeordnetenhaus.
       
       taz: Herr Verrycken, mit welchen Gefühlen denken Sie an diesen Mittwoch ? 
       
       Fréderic Verrycken: Mit sehr, sehr guten Gefühlen und viel Freude, weil
       jetzt die schönste Zeit für Haushaltspolitiker losgeht: die Beratungen über
       den neuen Landeshaushalt.
       
       Aber dieser Mittwoch mit der ersten Sitzung des Hauptausschusses nach den
       Ferien ist auch der Tag, ab dem Sie bis Dezember wenig von Freundin und
       Kindern sehen. 
       
       Der Haushaltsentwurf ist mit 3.700 Seiten ein Riesenkonvolut und eine
       Wahnsinnsarbeit. In dieser Zeit muss man unheimlich viel anderes
       umdisponieren. Das ist machbar. Aber die Nächte werden oft sehr kurz.
       
       In Raum 113 mit 26 anderen Abgeordneten den ausgehenden Sommer zu
       verbringen – muss man einen Hang zum Masochismus haben, um sich das
       anzutun? 
       
       Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollte schon ein Ziel sein –
       offiziell sind wir ja nur ein Halbtagsparlament. Aber tatsächlich ist es
       während der Haushaltsberatungen schwer, Familie und Ausschussarbeit im
       Gleichgewicht zu halten. Wir sind im Hauptausschuss, meine ich jedenfalls,
       sehr gut bei der Finanz- und Kostenkontrolle, aber was die Kontrolle
       unserer eigenen Zeit angeht, da haben wir noch Luft nach oben.
       
       Die Sitzungen Ihrer Parlamentskollegen in den anderen Ausschüssen sind oft
       auf zwei Stunden begrenzt. Kommen Sie sich da nicht manchmal vor wie der
       Lehrer mit den zwei Korrekturfächern gegenüber dem Kollegen mit Erdkunde
       und Sport? 
       
       Was sollen wir machen? Wir sind ja so etwas wie ein letztes
       Sicherheitsventil. Bei uns geht alles durch, was Geld kostet. Und dieses
       Ventil muss natürlich funktionieren, auch wenn es mal länger dauert.
       
       Was genau heißt „länger“ bei Ihnen? 
       
       Oft zwei Sitzungen pro Woche, die teilweise länger als zehn Stunden dauern.
       Mit vorbereitenden Treffen, Lesen, Wahlkreisarbeit kommt man bei uns
       während der Haushaltsberatungen von Anfang September bis Anfang Dezember
       auf eine solide 80-Stunden-Woche.
       
       Wäre nicht ein Zuschlag angemessen, zusätzlich zur normalen
       Abgeordnetendiät von rund 3.500 Euro? 
       
       Da wäre ich gerade als Haushälter vorsichtig, mehr Geld auszugeben. Es wird
       ja auch keiner gezwungen, sich das anzutun. Grundsätzlich aber stellt sich
       schon die Frage, ob das mit einem Teilzeitparlament vereinbar ist. Solch
       eine Situation trägt auch dazu bei, dass immer weniger Leute in die Politik
       gehen wollen. Meine Mutter ist Verkäuferin gewesen und hat auch immer
       politisch gedacht, aber die hätte nicht Abgeordnete werden können: Wenn die
       sich um 11 Uhr ins Parlament verabschiedet hätte, hätte ihr Arbeitgeber das
       auf Dauer nicht akzeptiert. Und wir halten ja noch immer an der Fiktion
       fest, dass wir ein Teilzeitparlament sind und nebenher noch einen anderen
       Beruf haben sollen.
       
       Zahlt Ihnen wenigstens die Fraktion einen Zuschlag? 
       
       Nein, aber es ist ja auch eine freiwillige Sache.
       
       Wenn schon keine finanzielle Aufwandsentschädigung, was steht denn auf der
       Habenseite? 
       
       Dieses Gefühl: Man hat etwas erreicht, auf die Reise gebracht, ob im großen
       Rahmen auf der Landesebene oder kleiner im Kiez, wo man dann sieht: Da
       läuft etwas. Das ist die Währung, in der wir Politiker bezahlt werden.
       
       Das klingt jetzt aber sehr edel … 
       
       Aber es ist so: Das ist für mich das Wesentliche. Und der Hauptausschuss
       ist der ideale Ort, etwas umzusetzen.
       
       Dann müssten sich ja die Abgeordneten drängeln, Mitglied im Hauptausschuss
       zu werden. 
       
       Beim letzten Mal war’s in der SPD-Fraktion relativ schwierig, in den
       Ausschuss reinzukommen – auf jeden Fall schwieriger, als dort Vorsitzender
       zu werden.
       
       Sie waren eine echte Überraschung, als Sie 2011 den Vorsitz von Ralf
       Wieland übernahmen, der Parlamentspräsident wurde. Nur 34 Jahre, gerade
       erst ins Abgeordnetenhaus gewählt, und rein äußerlich gar nicht der Typ
       Buchhalter. 
       
       Die haben mir das in der Fraktion einfach zugetraut. Ich hatte mir aber
       Bedenkzeit erbeten und erst nach einer Woche zugesagt. Ich habe aber auch
       große Unterstützung bekommen, auch von den Kollegen aller Fraktionen.
       
       Sie haben Politologie studiert, als Journalist unter anderem beim SPD-Organ
       „Vorwärts“ gearbeitet. Etwas Zahlen-Nahes aber gibt Ihr Lebenslauf nicht
       her. Ihr Vorgänger Wieland hatte immerhin eine kaufmännische Ausbildung. 
       
       Beim „Vorwärts“ war ich immerhin für Wirtschaft und Finanzen zuständig und
       in der Bezirksverordnetenversammlung Charlotten-Wilmersdorf war ich
       Fraktionsvorsitzender und auch im Haushaltsausschuss.
       
       Waren das die ersten Berührungspunkte mit Mathe? 
       
       Interesse daran hatte ich schon immer, auch wenn ich in der Schule in Mathe
       ein kompletter Versager war: Geometrie und Ähnliches haben mir einfach
       nicht gelegen, da war ich eher ein Vier-minus-Kandidat. Aber bei
       praktischen Dingen wie Prozentrechnung war das anders. Als Kind habe ich
       schon mit zehn Jahren mit großer Begeisterung meiner Mutter bei der
       Steuererklärung geholfen.
       
       Sie haben richtig Spaß an Zahlen? 
       
       Ja, Zahlen finde ich wahnsinnig faszinierend, Ich kann mir auch
       Telefonnummern ohne Ende merken – ich habe, glaub ich, alle aus den letzten
       zwanzig Jahren im Kopf, ganz anders als Namen.
       
       Das ist ja eher schlecht für einen Abgeordneten. 
       
       Stimmt, aber ich kann nichts dran machen.
       
       Der aktuelle Haushaltsentwurf des Senats liegt bei über 25 Milliarden Euro.
       Wie viel haben Sie denn beim letzten vor zwei Jahren tatsächlich bewegt? 
       
       Einen Bruchteil, unter 5 Prozent.
       
       Weil der Entwurf so toll war oder weil der Ausschuss nicht mehr schaffen
       konnte? 
       
       Na ja, es ist absolut immer noch eine Milliarde. Und wir können durchaus
       etwas machen. Dem Kollegen Zillich von der Linksfraktion war beispielsweise
       bei den letzten Haushaltsberatungen aufgefallen, dass Garagen für die
       Feuerwehr neu gebaut werden sollten. Nicht weil die baufällig waren,
       sondern weil die bisherigen Tore zu klein waren. Das wäre eine Riesensumme
       gewesen. Zillich hat da einfach mal nachgedacht und gesagt: Ist es nicht
       viel preiswerter, einfach nur größere Tore einzubauen? So ist es dann auch
       gekommen, und das hat dem Land Berlin viel Geld gespart.
       
       Eine schöne Geschichte, die nach Schilda klingt. Aber letztlich bleibt es
       bei einem Bruchteil, den Sie beeinflussen können … 
       
       Schon, aber es wäre auch ungewöhnlich, egal ob in Baden-Württemberg, bei
       uns oder im Bundestag, wenn die Regierungsfraktionen einen Haushaltsentwurf
       ihres eigenen Kabinetts noch mal komplett umstricken.
       
       Und trotzdem kommt von Senatsmitgliedern im Ausschuss oder in
       Plenarsitzungen oft der Satz „Sie sind der Haushaltsgesetzgeber“ – als ob
       Sie da in Raum 113 alles in der Hand hätten und nicht 95 Prozent einfach
       durchwinken würden. 
       
       Wir haben ja noch andere Möglichkeiten, wir können dem Senat etwa
       sogenannte Auflagen mit auf den Weg geben: Geld gibt’s dadurch zum Beispiel
       nur bei regelmäßigen Informationen. Da ziehen Regierungsfraktionen und
       Opposition oft an einem Strang. Und wir können Gelder natürlich auch
       sperren.
       
       Gleich nach Ihrem Start als Vorsitzender wollten Sie ans Eingemachte und
       eine Redezeitbegrenzung durchsetzen, sind damit aber gescheitert. Haben Sie
       sich damit abgefunden? 
       
       Ich denke, ich werde da noch mal einen Anlauf nehmen. Es würde uns
       schließlich allen guttun, wenn wir nicht so lange tagen würden. Und dass es
       mit der Redezeitbegrenzung klappen kann, haben wir vor zwei Jahren bei
       einem Besuch in Brüssel gehört: Da hat uns der Grünen-Europaabgeordnete
       Michael Cramer erzählt, dass es für ihn zwar am Anfang das Schwierigste
       war, nur drei Minuten reden zu dürfen …
       
       … und das bei Cramer, der keiner ist, der die Lippen nicht
       auseinanderbringt …
       
       … der aber sehr gut redet, ich schätze ihn sehr. Aber auch er sagte uns: Es
       geht mit der Zeitbegrenzung, und es erleichtert die Abläufe ungemein.
       
       Sie wirken im Vorsitz immer so ausgleichend – könnten Sie überhaupt die
       Abteilung Attacke, falls Sie in der SPD-Fraktion mal eine andere Rolle
       übernehmen sollten? 
       
       Lustig, dass Sie das fragen: Es war vor allem die moderierende Rolle, in
       die ich mich im Parlament erst einarbeiten musste – als
       Fraktionsvorsitzender in der BVV galt ich eher als Lautsprecher.
       
       9 Sep 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Alberti
       
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