# taz.de -- Inhaftierung von Flüchtlingen: Spielball im libyschen Chaos
       
       > Libyens Bürgerkrieg stellt die Migranten vor die Wahl: Sie können die
       > Fahrt übers Mittelmeer wagen – oder in Milizenlagern verschwinden.
       
 (IMG) Bild: Die Wahl zwischen Haft und Meer: Menschen in einem Internierungslager im libyschen Misrata.
       
       TRIPOLIS taz | Mohammed arbeitet seit sechs Jahren auf dem Goldmarkt in der
       Medina von Tripolis. Mit der Wirtschaftskrise nehme in der libyschen
       Hauptstadt die Diskriminierung gegen Christen und Migranten zu, daher habe
       er sich einen Platz auf einem Schmugglerboot reserviert, sagt der Pakistani
       aus Karatschi. „Ich weiß, dass ich in Europa ein Illegaler werde, aber ich
       habe keine Wahl“, sagt der Familienvater.
       
       Sogar langjährige Gastarbeiter packen inzwischen in Libyen ihre Sachen,
       seit der [1][“Islamische Staat“ (IS)] erst die einstige Gaddafi-Hochburg
       Sirte eingenommen hat, über Hawara nun in den Süden des Landes expandiert
       und sogar Libyens mächtigste unabhängige Milizen aus Misrata mit
       Selbstmordattentaten angreift.
       
       Und am Wochenende lösten Kämpfe zwischen Milizen auf der Küstenstraße
       zwischen Tripolis und der tunesischen Grenze eine neue Massenflucht aus.
       Von den Stränden der Islamistenhochburg Sabratah schickten Schmuggler mehr
       als 6.000 Menschen auf das Mittelmeer, [2][wo europäische Kriegsschiffe sie
       aufgriffen].
       
       Auch für die stetig steigende Zahl der durch die Sahara kommenden
       afrikanischen Migranten spitzt sich die Lage zu. Vermummte IS-Kämpfer
       stoppten bei Tripolis einen Konvoi mit Flüchtlingen aus Eritrea, der über
       die Oase Kufra gekommen war. Sie trennten die Eritreer nach
       Religionszugehörigkeit: 85 Christen wurden an einen unbekannten Ort
       verschleppt. Muslime durften weiterfahren.
       
       ## Die Schnellboote fehlen
       
       Mohammed Issa von der libyschen Küstenwache in Misrata schätzt, dass sich
       alleine auf dem 200 Kilometer langen Küstenabschnitt zwischen Misrata und
       Tripolis täglich 800 Menschen auf den Weg machen. „Jedes Mal, wenn wir zu
       einer Patrouillenfahrt aufbrechen, sehen wir ihre Boote. Machen können wir
       mit unseren beiden Schleppern aber recht wenig“, sagt der Oberst
       schulterzuckend.
       
       Die italienische Regierung weigert sich, der Küstenwache vier zur Reparatur
       nach Neapel geschickte Schnellboote zurückzugeben, weil die in Westlibyen
       um Tripolis und Misrata herrschende Regierung [3][international nicht
       anerkannt ist]. Aus dem Hafen von Misrata läuft jeden Tag ein
       Versorgungsschiff für die islamistische Miliz Ansar-Scharia aus, die im
       ostlibyschen Bengasi gegen die Armee der international anerkannten
       Regierung kämpft.
       
       Dass am frühen Morgen der Schlepper „Tripolis“ mit 500 Männern aus
       Westafrika in Misrata einläuft, hat einen politischen Grund: Die Machthaber
       in Misrata wollen sich als Partner Europas im Kampf gegen illegale
       Migration profilieren, um von Europa Unterstützung gegen den IS zu
       gewinnen.
       
       ## Milizen als Gefängniswärter
       
       „Wir waren nur ein paar Kilometer von unserem Ziel entfernt und wurden als
       einziges Boot gestoppt“, sagt Abubakr aus der nigerianischen Metropole
       Lagos verzweifelt, als er festen Boden betritt. Der 25-Jährige wird die
       nächsten Monate das Schicksal Tausender anderer Migranten teilen, die in
       einem Dutzend Internierungslagern in Libyen einsitzen. Während die einen
       auf Baustellen in mühevoller Arbeit das Ticket für die Mittelmeerüberfahrt
       erarbeiten, werden andere immer wieder willkürlich auf der Straße oder in
       ihren Massenunterkünften verhaftet.
       
       Das Schicksal der Internierten ist düster. Keine der konkurrierenden
       Regierungen Libyens kann für eine menschenwürdige Unterbringung sorgen. Da
       fast alle ausländischen Botschaften nach Tunesien evakuiert worden sind und
       es an Gefängnisbeamten fehlt, übernehmen immer häufiger Milizen die
       Bewachung. Die Vorwürfe der Inhaftierten reichen von Zwangsarbeit an der
       Front bis zu sexuellen Übergriffen.
       
       Der 25-jährige Jonathan Obote aus Burkina Faso hatte einen genauen Plan,
       als er vor sechs Monaten in den Bus nach Agadez im Niger stieg. „Ich hatte
       mir geschworen, nicht ohne Geldreserve nach Europa zu gehen“, erzählt er.
       Während der sieben Monate auf einer Baustelle in Tripolis konnte er Geld
       zur Seite legen, auch wenn ihn Jugendliche mit vorgehaltener Waffe
       [4][immer wieder ausraubten und Freunde entführten], um Geld zu erpressen.
       
       Jetzt sitzt der Bukinabè mit seinem Bruder und 80 anderen Männern in einer
       Zelle des ehemaligen Geheimdienstgefängnisses in Garabulli in Tripolis in
       Haft. Die insgesamt 500 Inhaftierten leiden unter Bettwanzen und
       ansteckenden Krankheiten und vor allem an der Ungewissheit. Die Wärter
       wissen auch nicht, wie es weitergeht. Aus Europa komme keine Hilfe, sagt
       einer. „Wir fragen uns häufig, warum wir die Leute hier überhaupt
       festhalten“, überlegt er laut. „Wenn sie weiterziehen, tun wir ihnen und
       uns einen Gefallen.“
       
       9 Jun 2015
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Militaerische-Staerke-der-Terrormiliz/!5201100/
 (DIR) [2] /Fluechtlinge-im-Mittelmeer/!5202906/
 (DIR) [3] /Kaempfe-in-Libyen/!5201143/
 (DIR) [4] /Amnesty-ueber-Fluechtlinge-in-Libyen/!5008604/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mirco Keilberth
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Libyen
 (DIR) „Islamischer Staat“ (IS)
 (DIR) Tripolis
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Libyen
 (DIR) Muammar al-Gaddafi
 (DIR) Tunesien
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Islamismus
 (DIR) EU
 (DIR) Palmyra
 (DIR) Menschenrechte
 (DIR) Schleuser
 (DIR) Mittelmeer
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Regierungskrise in Libyen: Premier droht mit Rücktritt
       
       Die vom Westen anerkannte Regierung ist hilflos gegenüber den Nöten der
       libyschen Bevölkerung. In Genf versucht die UNO zu vermitteln.
       
 (DIR) Kriegsverbrechen in Libyen: Neun Todesurteile in Tripolis
       
       Gaddafis Sohn Seif al-Islam wird zusammen mit acht weiteren Beschuldigten
       zur Höchststrafe verurteilt. Das Verfahren ist umstritten.
       
 (DIR) Kommentar Anschlag in Tunesien: Kampf gegen die Moderne
       
       Nach dem Anschlag wird über Militärhilfe und Unterstützung für die Polizei
       diskutiert. Das genügt nicht. Was fehlt, ist Wirtschaftshilfe.
       
 (DIR) Flüchtlinge in Italien: Polizei beendet Sitzstreik an Grenze
       
       Rund 200 Flüchtlinge forderten Einlass nach Frankreich. Die Polizei
       beendete ihren Protest am Samstag. Nun erwartet sie das Aufnahmelager.
       
 (DIR) Krisentreffen zu Libyen in Berlin: Regierung lehnt UN-Friedensplan ab
       
       Seit Monaten bekämpfen sich zwei konkurrierende libysche Regierungen. Jetzt
       soll der Weg für eine einheitliche Administration freigemacht werden.
       
 (DIR) Debatte Militarisierte Flüchtlingspolitik: Im europäischen Fadenkreuz
       
       Mit ihrer neu beschlossenen Flüchtlingspolitik definiert die EU
       schutzbedürftige Menschen in eine Bedrohung um. Ein gefährlicher
       Präzedenzfall.
       
 (DIR) Kommentar IS-Vormarsch in Syrien: Dschihad statt Demokratie
       
       Der IS breitet sich immer weiter aus. Daran wird sich nichts ändern,
       solange man den Kampf abgehalfterten, korrupten arabischen Regimen
       überlässt.
       
 (DIR) Kommentar EU-Flüchtlingspolitik: Flucht ist ein Menschenrecht
       
       Die EU will immer nur die Flucht von Menschen nach Europa verhindern. Sie
       muss begreifen, dass allein diese Absicht unmenschlich ist.
       
 (DIR) Flüchtlinge in Libyen: Die vergessene Katastrophe
       
       In Nordafrika sorgen die EU-Pläne, mit Schleuserschiffen rabiat umzugehen,
       für Kopfschütteln. Die Helfer dort haben andere Sorgen.
       
 (DIR) Auf der Flucht in Nordafrika: Die Alternative zum Boot ist keine
       
       60 Flüchtlinge harren an der Grenze zwischen Tunesien und Libyen aus. Sie
       wollen lieber einen offiziellen Asylantrag stellen. Das gestaltet sich
       schwierig.