# taz.de -- Behinderte im Visier der StaSi: "Laufen wollt ich, doch man gab mir Flügel"
       
       > In Thüringen entstand vor 30 Jahren so etwas wie die Kommune 1 der DDR.
       > Hartroda war ein einmaliges Lebensprojekt Behinderter - zum Missfallen
       > der StaSi.
       
 (IMG) Bild: Körperbehinderte unterlagen in der DDR einer "Meldepflicht" - ein selbstbestimmtes Leben war für sie nicht vorgesehen.
       
       Bertram sitzt am Küchentisch und dreht sich seine Zigaretten aus der
       Tupperdose. Sein halbes Leben schon wohnt er in dieser WG in Hartroda.
       Seine Augen blicken freundlich, aber mutlos. Früher in der DDR verdingte
       sich der drahtige Mann als Transportarbeiter bei der Wismut. In dem
       Bergbauunternehmen, wo sie hier in Sichtweite Uran abbauten. Nach der Wende
       schult er zum Tischler um - einen Job findet Bertram nicht. Er ist 44 Jahre
       alt. Und das Reden überlässt er lieber Sylvia, die fast genauso lange hier
       lebt, in der WG. Sie war einmal Verkäuferin, hat eine Ausbildung zur
       Familienpflegerin gemacht, sie ist selbstbewusster als Bertram, Arbeit hat
       sie trotzdem keine bekommen. Die anderen Mitbewohner, sieben sind es
       derzeit, lassen sich nicht blicken, sitzen oben in ihren Zimmern und hören
       Musik. Jeder lebt für sich.
       
       Wer die prallen Aktenordner bezwungen hat, die die Stasi über diese
       Wohngemeinschaft seinerzeit zusammentrug, erwartet von einem Besuch in
       Hartroda etwas anderes, etwas Subversives. Bertram findet: "Hier passt man
       ein bisschen aufeinander auf." Anderswo leben? Sylvia spielt dieses
       Szenario oft durch. Einmal hat sie versucht, wegzukommen. Nach einem Jahr
       zog sie wieder ein. Irgendwann ist ihr vielleicht klar, dass sie hier
       rausmuss. "Irgendwann", "vielleicht", Sylvia schaut, als glaubte sie sich
       selbst nicht: "Ich hab Schiss davor."
       
       Die Kommunarden in Hartroda sind Gefangene von Hartz IV. Das hat ihnen die
       Selbstständigkeit ausgetrieben. Wenn sich Sylvia vergewissern will, dass
       das mal anders war, dann holt sie aus ihrem Zimmer die Kiste mit den Fotos.
       Wenn sie die Bilder wieder sieht, dann merkt man, wie mit den dazugehörigen
       Geschichten Sylvias Mut wächst. Hier zu wohnen, das bedeutete
       Selbstbefreiung. Wenn sie erzählt, fällt vor allem ein Name: Matthias
       Vernaldi.
       
       Dieser Matthias Vernaldi entwickelt in Hartroda den Mut, sich über
       staatliche Fesseln hinwegzusetzen. Die Kommune und dieser bärtige Mann im
       Rollstuhl lassen sich nicht getrennt erzählen. Ohne ihn hätte es Hartroda
       nie gegeben. Und ohne die Kommune, davon ist er überzeugt, wäre er schon
       unter der Erde. Stattdessen wohnt er heute selbstbestimmt im Berliner
       Stadtteil Neukölln. Für einen Mann ohne Muskelkraft ist das alles andere
       als selbstverständlich: Vernaldi hatte in seinem Leben Sex mit Frauen, war
       Prediger, setzt sich seit Jahren lautstark für die Rechte Behinderter ein
       und wirkt derzeit an einer Zeitung für das "Organisierte Gebrechen" mit.
       Vernaldi hat es geschafft, aus seinem genetischen Gefängnis zu fliehen.
       
       Die Flucht beginnt mit einem Gegenmodell in der DDR: Behinderten und
       Nichtbehinderten gelingt es, in diesem vorstrukturierten Staat, der keine
       Nischen für Abweichler erlaubt, eine selbstbestimmte Kommune zu gründen.
       Ein kleine Revolution innerhalb der DDR, die in einem kleinen Thüringer
       Dorf vollzogen wurde. Ein Kaff mit knapp fünfzig Einwohnern, meist Bauern
       oder bartstoppelige Malocher vom Uranabbau. Dieses Wohnprojekt wirkt auf
       die Stützen des Sozialismus etwa so irritierend, als würde McKinsey heute
       Fünfjahrespläne propagieren. Willfährige Spitzel und Hauptamtliche des
       Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) füllen in elf Jahren rund 2.000
       Seiten, abgeheftet in T-Gleit-Ordnern der VEB Organisationstechnik
       Eisenberg. Sie nennen ihre Akten "Parasit" und "Kommune". Ihre Feinde sind
       Spastiker, Querschnittgelähmte, Muskelkranke. Damals existieren fast
       ausschließlich Gründe, die Hartroda zum Scheitern verurteilen: Aber als
       Matthias Vernaldi mit neunzehn Jahren hier ankommt, kennt er die
       Alternative. Er musste sie sieben Jahre erdulden. In der Landkommune
       entwickelt er die nötige Energie, sich so etwas für immer zu ersparen. Die
       Entstehung der WG in Hartroda erklärt sich aus dem repressiven Umgang des
       Staates mit Schwerstbehinderten - Menschen, von denen ein
       Arbeiter-und-Bauern-Staat nichts Produktives zu erwarten hat. Matthias
       Vernaldi ist ein Beispiel für diesen Umgang.
       
       In der DDR gilt für Behinderte unter achtzehn Jahren eine Meldepflicht bei
       den Abteilungen des Gesundheitswesens. So normiert, klassifiziert und
       sortiert das System seine Bürger. Matthias Vernaldi hat wie seine Schwester
       progressive Muskeldystrophie, von Geburt an. Menschen wie ihn trennt der
       Apparat von gesunden Schülern, er trennt Kinder von ihren Familien, auch
       gegen den Willen der Eltern. Im Jahr 1966 kommt er deswegen mit sieben
       Jahren in das "Haus am Seeberg" nach Gotha. Es ist eine der wenigen Schulen
       für Körperbehinderte mit angeschlossener orthopädischer Klinik. Den
       herrschaftlichen Bau ziert ein kleiner Turm neben dem Portal. Hinter der
       schmucken Fassade der Villa aber interniert das Haus am Seeberg
       Aussortierte wie Vernaldi. Sein Zimmer ist ein Saal mit etwa 25 Betten,
       dazwischen Flure, gerade breit genug für die Rollstühle. Privat ist nur das
       Nachtschränkchen am Bett. Die Kinder sind Faktoren in einem
       durchrationalisierten Prozess. "Die gingen durch die Bettreihen und zogen
       den Leuten die Hosen runter, legten reihum Pinkelpullen an oder
       Bettpfannen", sagt Vernaldi. Wie am Fließband müssen die Schwestern ihre
       Arbeit organisieren, wenn auf eine Pflegerin fünfundzwanzig Kinder kommen,
       die sich weder allein waschen noch anziehen können, die für die
       alltäglichsten Dinge Hilfe benötigen. "Zum Teil sind behinderte Menschen
       mit Medikamenten ruhig gestellt worden", erinnert sich ein späterer
       Bekannter. "Die wurden früh gewaschen, dann kriegten sie eine Tablette
       hinterher, damit sie bis zum Mittagessen ruhig waren. Das ist keine
       Lebensperspektive für Menschen, die was wollen und die so hochintelligent
       sind wie Matthias Vernaldi."
       
       inder, die auf die soziale Akkordarbeit, auf die institutionelle Gewalt
       renitent reagieren, erwartet der Dachboden. Eine hohe Kiste steht dort
       bereit. Die Schüler nennen sie "Mäusekiste". Ein Rebell muss nur darin
       abgelegt werden, dann hat es sich mit seinem Aufstand. "Die konnten ja
       nicht laufen, also blieben sie darin dann liegen. Im Dunkeln, im Dreck, wir
       sagten: Da sind tote Mäuse drin", erinnert sich Vernaldi.
       
       Der medizinische Blick dominiert die Sonderpädagogik der DDR, die
       Orthopädie orientiert sich am Ebenmaß des Menschen. Matthias Vernaldi
       bekommt das an seinen Kontrakturen, seinen krummen Knie- und
       Ellbogengelenken zu spüren. Nachts holt ihn ein Pfleger ab. "Er hatte
       Schurz und Stiefel aus Gummi an. Ruppig nahm er mich huckepack und
       schleppte mich in den Keller. Dort zogen auch die Ärzte Gummischürzen über.
       Ich wurde nackt auf eine Pritsche gelegt und auf den Bauch gedreht. Dann
       drückten alle Hände im Gipskeller an meinem Körper herum. Ich wurde
       gerichtet. Erst mit einer Rolle unter den Knien gelang es, meinen Hintern
       sowie Füße und Beine derart durchzudrücken, dass sie den Vorstellungen der
       Ärzte entsprachen." Sie formen eine Gipsschale. Ein Negativ des
       angestrebten Körperideals. Eine halbe Stunde dauert die quälende Prozedur.
       Abends bindet ihn die Spätschicht an die Form, morgens befreit ihn die
       Frühschicht. Eine orthopädische Folter, die aus dem Krüppel über Wochen
       einen ansehnlich geformten Menschen machen soll.
       
       Im Beisein des Chefarztes, eines Wissenschaftlers, den das große Ganze
       interessiert. Ihm geht es um die Volksgesundheit, als ihm Matthias Vernaldi
       mit neun Jahren unter das Messer gerät. Unter Äthernarkose zwei
       Muskelschnitte am Oberarm und am Schenkel bis auf die Knochenhaut. Der
       Mediziner braucht Muskelgewebe für Forschungszwecke. Das müsse sein, habe
       er zu Vernaldis Vater gesagt. Wo käme man hin im Sozialismus, wenn jeder
       nur an sein Kind denken würde? Es gehe um die Erforschung der
       Muskeldystrophie, habe er der Skepsis seines Vaters erwidert. Er werde es
       sehen: Sein Sohn werde laufen wie ein Gesunder. "Dieser Herrenmensch
       brachte alle unsere Eltern dazu, ihre Kinder als Versuchskaninchen
       preiszugeben", sagt Vernaldi. Die Muskelschnitte bewahrt der Arzt in der
       Dachstube auf.
       
       Nach sieben Jahren, Matthias Vernaldi ist vierzehn Jahre alt, lässt er die
       Normalisierungsmaschine in Gotha hinter sich und kommt 1972 in ein Heim der
       Diakonie für körperbehinderte Kinder. Im Marienstift in Arnstadt begegnet
       er erstmals anderen Behinderten, die in ihrer Mobilität nicht vollends
       eingeschränkt sind. Und in Arnstadt begegnet Vernaldi Ideen von einem
       anderen Leben. Diakonieschüler und bärtige Theologiestudenten
       transportieren sie in das Heim. Sie bringen Beatmusik mit, tragen Parkas
       und Jeans. Die Nachwehen der 68er: Vernaldi findet Gefallen an den Stones
       und an der Vorstellung von Selbstbestimmtheit. Er freundet sich mit Leute
       an, denen ein DDR-konformer Alltag zuwider ist. Und mit den Jahren in
       Arnstadt wird es für ihn unmöglich, dem Weg zu folgen, der für
       Schwerstbehinderte vorgezeichnet ist. Wenn er das Marienstift nach der
       Schulzeit verlassen muss, bleiben ihm zwei Möglichkeiten: Er kann wie ein
       Kleinkind ein Leben lang von seinen Eltern gepflegt werden. "Oder du bist
       mit 18 Jahren in ein Alterspflegeheim gekommen. Wenn du Glück hattest, in
       die Jugendstation. Da waren die unter Sechzigjährigen." Hellwach dämmern,
       bis zum Lebensende. "Wir wollten nicht den Rest unserer Zeit sehnsüchtig
       den Stationsflur hinuntersehen", sagt Vernaldi.
       
       ie entwickeln ein einmaliges Lebenskonzept. Eine christliche Bruderschaft
       von Behinderten und Nichtbehinderten, die ein selbstbestimmtes Leben als
       Kommunarden führen. Sie werden ihre 180 Ostmark Renten und Pflegegelder in
       einen Topf werfen und damit ihre eigenen Pfleger finanzieren. So hebeln sie
       den Paragrafen 249 aus, der Gesunde wegen "asozialer Lebensweise" mit drei
       Jahren Knast bestraft, sollten sie es wagen, auf eine zugeteilte Arbeit zu
       pfeifen. Sie haben eine Immobilie bei Leipzig im Auge, doch die nötige
       Zuzugsgenehmigung verwehrt der Gemeinderat. "Das kriegt ihr nicht, ihr seid
       doch schwul, hieß es. Wir waren junge Männer, hatten lange Haare, waren
       behindert, und das wars dann", sagt Vernaldi. Nur die Kirche kann ihre
       Dienstwohnungen ohne Zuzugsgenehmigung besetzen. In Hartroda entdecken sie
       im Juni 1978 einen verlassenen Pfarrhof, Vernaldi ist gerade mal neunzehn
       Jahre alt. Es ist auch physisch riskant: Er kann zu diesem Zeitpunkt nur
       noch seine Hände leicht bewegen.
       
       An einem verregneten und kalten Tag 1978 fährt er nach Hartroda. Durch die
       Scheiben des Trabant seiner Eltern blickt Matthias Vernaldi auf die
       Agrarsteppe Ostthüringens. Er knattert im Duroplastmobil durch zerfallene
       Dörfer, tiefe Schlaglöcher in den Straßen, Ödnis. Ein Anstieg, dann das
       Ortsschild: Wildenbörten, Ortsteil Hartroda, Bezirk Leipzig. In Sichtweite
       türmen sich die Halden des Uranabbaus der Wismut AG wie versteinerte
       Bugwellen in die ausgebeutete Landschaft. Keine befestigte Straße gibt es
       im Ort, keine Post, keinen Laden, keine Bushaltestelle. Am höchsten Punkt
       steht der Pfarrhof. Der Holzzaun drumherum ist eingedrückt, das Tor hängt
       schief in den Angeln, von innen kann man durch das Loch im Dach den Himmel
       sehen. Die Mutter von Matthias Vernaldi ist von dieser Tristesse wenig
       angetan. Für ihn jedoch ist es ein biblischer Ort, nach allem, was er
       bisher erlebt hat. Vernaldi ist gerade mal neunzehn Jahre alt.
       
       m Haus fehlen die Dielen. Sie ziehen mit Matratzen, einer Kochplatte und
       einer Stereoanlage ein. Das Paradies hält täglich Fettbrot, Schwarztee, und
       Malzkaffee bereit. Für einen wie Vernaldi ist das "die absolute Erfüllung,
       nicht nur weil das Freiheit bedeutete, sondern auch weil das alles leer
       war. Wir konnten das mit unseren Träumen füllen."
       
       Ihre spirituelle Sozialisation bei "Halleluja-Terroristen, bei diesen
       Pneumatikern, Extatikern und Pfingstlern", wie Vernaldi sagt, bestimmt
       nicht lange das Leben. Anfangs treffen sie sich noch zu Bibelstunden, es
       gibt Tischgebete und Andachten. Vernaldi predigt, hält später auch
       Gottesdienste, gibt Konfirmandenunterricht für die Dörfler. Später
       entstehen Theater- und Diskussionsgruppen, sie protestieren gegen den
       Uranabbau, wandeln sich von Christen zu Ökos zu Anarchos, durchlaufen die
       WG-typische Sozialisation der Selbstfindung. Die Abgeschiedenheit, das
       vermeintliche Unbeobachtetsein und die tatsächliche Freiheit, so zu leben,
       wie es beliebt, macht die Kommune zum Anlaufpunkt für Andersdenkende, für
       spätere Oppositionellen, für DDR-Punks, auch für Drogenabhängige, für von
       der Gesellschaft Ausgespiene, die hier der DDR-Wirklichkeit entfliehen
       wollen. Die WG ist von der Idee beseelt, den Einzelnen auch in seiner
       Unfähigkeit zu akzeptieren. Das bringt Probleme mit sich. "Wir waren
       Versager im Alltag, dreckige Buden, nichts auf die Reihe gekriegt".
       Vernaldi lacht.
       
       Das Prinzip Selbstversorgung läuft anfangs nur zäh an. Die gezüchteten
       Hühner sind so klein, dass sie in Einweggläser passen, die Schafe äsen vor
       Hunger in fremden Vorgärten und werfen Fehlgeburten, aber mit der Zeit
       bevölkern Leute die Kommune, die die Landwirtschaft in den Griff bekommen.
       Und auch die Dorfbewohner gewöhnen sich an die schrägen WGler. "Man mag
       einer dörflichen Gesellschaft höchste Intoleranz vorwerfen. Aber wenn ich
       mir im Nachhinein überlege, wie sehr wir die Toleranzgrenze überschritten
       haben, und es ist nie ein Übergriff passiert. Wir waren eine Zeit lang
       integriert", sagt Vernaldi. Er organisiert, kümmert sich um den
       Briefverkehr mit Behörden und der Kirche, in der WG nennen sie ihn "Chef",
       was Vernaldi nicht gerne hört. Der bibelfeste Intellektuelle versteht sich
       selbst als bedingungsloser Anarchist. Die Behinderten bessern die
       Gemeinschaftskasse mit selbst gebastelten Postkarten und Linoleumdrucken
       auf, manche der Pfleger arbeiten als Totengräber. Hartroda wächst, zu
       Hochzeiten wohnen zwanzig Behinderte und Nichtbehinderte dort, und jedes
       Jahr feiern sie den Tag ihrer Unabhängigkeit mit einem ausschweifenden
       Festival.
       
       Dann fällt die Szene in den kleinen Ort ein, bis zu zweihundert Freaks,
       Friedensbewegte, Ökoaktivisten, Hippies. Denn Vernaldi ist vernetzt auch
       nach Westdeutschland. Als Schwerstbehinderter darf er zum Klassenfeind
       reisen. Er baut Kontakte nach Westberlin aus, schmuggelt Cannabis,
       verbotene Bücher, Infoblätter der Antifa in die Landkommune in
       Ostthüringen.
       
       Das MfS beobachtet die WGler vom ersten Jahr an. Gegen Vernaldi und zwei
       weitere Bewohner eröffnet die Staatssicherheit den Operativen Vorgang
       "Parasit". Begründung: "Seit ihrem Bestehen entwickelt sich die Gruppe in
       Hartroda zu einem Anlaufpunkt für negativ-klerikale Kräfte, Homosexuelle,
       Asoziale, Haftentlassene und sogenannte ,Aussteiger'." Sie habe sich "zu
       einem Verbreiter pazifistischen Gedankengutes und aktivem Befürworter und
       Unterstützer einer nichtstaatlichen Friedensbewegung entwickelt". Des
       Weiteren "verfügt die Gruppe über ein weitverzweigtes Verbindungsnetz
       innerhalb der DDR zu negativ-klerikalen Kräften, die größtenteils operativ
       bearbeitet werden." Weiter heißt es: "Der Kopf, Initiator und Inspirator
       dieser Gruppe ist der Schwerstgeschädigte Matthias Vernaldi, der ständig an
       den Rollstuhl gebunden ist, jedoch über sehr gute und ausgeprägte geistige
       Fähigkeiten verfügt. V. ist als Hilfsprediger angestellt und als
       Korrespondent der kirchlichen Zeitschrift Glaube und Heimat tätig. Da seine
       Artikel jedoch ständig einen die Verhältnisse in der DDR diskriminierenden
       Charakter tragen, erfolgte bisher noch keine Veröffentlichung."
       
       In den MfS-Akten finden sich exakt gezeichnete Grundrisse, Fotos, Kopien
       des Adressbuchs von Vernaldi, seitenlange Listen mit Personenbeschreibungen
       und Angaben zu den Besuchern von Hartroda. Im November 1985 hält die Stasi
       fest: "Musikgruppe ,Tote Hosen' aus der BRD wollen im Mai/Juni 86 in
       Hartroda auftreten."
       
       Das MfS und seine Zuträger spähen die Kommune noch bis nach dem Mauerfall
       aus. Der letzte Bericht stammt vom 24. Oktober 1989. Über Vernaldi steht
       da: "Die OV-Person äußerte, dass sie für eine Wiedervereinigung
       Deutschlands sei. Er wertete, dass noch mehr ,Betonköpfe' zurücktreten
       müssten. In diesem Zusammenhang nannte er den Namen Erich Mielke."
       
       Hauptzuträger ist IM "Dr. Walther". Der Mann ist sich 1979 noch sicher:
       "Vielleicht brauchen wir gar nicht soooo viel zu unternehmen, allenfalls
       der Kirche ein wenig behilflich sein, um diese Läuse aus ihrem Pelze zu
       entfernen." Doch die Leitung der Thüringer Landeskirche ist gespalten.
       Oberkirchenrat Johannes will noch 1985 aus Hartroda ein Modellprojekt für
       Behinderte machen. Er stößt auf Widerstand. Die Stasi zitiert die
       Einschätzung des Kirchenrats Kirchner: "Diese Bürger stellen sich durch ihr
       Verhalten außerhalb der Kirche und der Gesellschaft. Das einzig richtige
       wäre, wenn diese Bürger wieder in ein Pflegeheim kämen, weil sie dort ihre
       Ordnung hätten. Die Kirche wird sich nicht vor diese Bürger stellen. Durch
       die Kirche wird es im Falle staatlicher Maßnahmen keine Aktivitäten geben."
       Beide Kirchenmänner werden später als IMs enttarnt. Immer wieder gibt es
       Vermittlungen zwischen Vernaldi und der Kirchenleitung. Dies wird auch
       nötig, weil der neue Pfarrer im Ort die Kommune gängelt und Vernaldi
       regelmäßig anschwärzt. Er sieht in ihm eine unorthodoxe Konkurrenz,
       verbietet Vernaldi, zu predigen. In einem Brief kritisiert er die
       "Befürwortung eines überspitzten Autonomiestrebens". Die
       Landeskirchenleitung lehnt Vernaldis Wunsch, sich ordinieren zu lassen, ab.
       Er könne ja nicht mal die Abendmahlsgeräte halten. Das MfS bewertet den
       Ortspfarrer als "für die operative Nutzung geeignet". Die gleiche
       Einschätzung gilt dem IM "Dr. Walther", Klarname: Dr. Beutel. Er ist
       Vertrauensarzt der WG und viel mehr noch: ein Freund, über mehr als ein
       Jahrzent.
       
       us den Berichten der Stasi spricht ein voyeuristisches Fasziniertsein durch
       das "Abnorme". "Dr. Walther" schreibt Vernaldi noch Briefe, die
       folgendermaßen enden: "Empfehlen Sie mich, bitte, Ihren mir leider noch
       unbekannten Eltern und sagen Sie Ihrer guten Schwester Maria viel
       Freundliches von mir." Der Stasi protokolliert Beutel: "In Hartroda wohnte
       ich dem Bade von Matthias bei. Er wurde ein wenig gewaschen, auch die Haare
       shampooniert, aber sonst nur eingewischt. Das Gesäß und die Genitalien
       wurden nicht versorgt. Wie hilflos Matthias ist, was für ein Fettkloß ohne
       Muskeln!" Als Vernaldi in der Vorwendezeit Kontakte zu Oppositionellen der
       Zionskirche in Ostberlin unterhält und über ein Postfach Informationen
       erhalten kann, teilt "Dr. Walther" dem MfS im Juni 1989 mit: "Ich machte
       Vernaldi darauf aufmerksam, dass ich alle vier bis fünf Wochen in Berlin
       sei und dann gern die Zeitschriften mitbrächte. Allerdings bräuchte ich
       dann jemanden, der mich dort als vertrauenswürdig einführe?. Ich bin
       begeistert bis skeptisch. Es böte sich uns hier die Möglichkeit, an das
       neuste Umwelt- und Untergrundmaterial herankommen und es kopieren zu
       können. Bekomme ich die finanziellen Unkosten für diese Fahrten auch von
       der Dienststelle ersetzt, so tritt doch ein zusätzlicher Verschleiß für den
       Wagen ein. Es wäre also zu erwägen, wie ich materiell entschädigt werden
       könnte."
       
       Vernaldi begegnet "Dr. Walther" heute noch in Berlin. In seinen Träumen.
       1994 verlässt Matthias Vernaldi nach sechzehn Jahren die WG in Hartroda und
       zieht nach Westberlin.
       
       Er ist jetzt 49 Jahre alt. Sein Lebenskonzept heute heißt ambulante Hilfe,
       er bezahlt seine Assistenten, die ihn im Alltag unterstützen. "Ich bin
       jetzt an dem Punkt", sagt er "der in der Medizin als finales Stadium
       bezeichnet wird. Also jetzt kann ich mich wirklich nicht mehr rühren." Alle
       seine Freunde mit Muskeldystrophie hat er überlebt. Vernaldi führt dies auf
       sein selbstbestimmtes Leben zurück. Den Mut, den ein Mensch wie er für
       diese Freiheit braucht, konnte er nur in der Praxis lernen. Hartroda war
       der Anfang. An der Wand seines Wohnzimmers in Neukölln hängt ein Plakat:
       "Laufen wollt ich, doch man gab mir Flügel."
       
       16 Aug 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kai Schlieter
 (DIR) Kai Schlieter
       
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 (DIR) Nachruf auf Matthias Vernaldi: Unverschämt lebendig
       
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