# taz.de -- Schwanerlebnisse und -forschung: Denen Gutes schwant
       
       > Auch aus der Schwanenforschung wird einmal eine historische Wissenschaft
       > werden, glaubt Helmut Höge. Er überwand seine Furcht vor Schwänen und
       > machte aus einer Phobie eine Philie.
       
 (IMG) Bild: Die "schwarze Petra" aus Münster - verliebt in ein Tretboot.
       
       BERLIN taz | Fünf Biologen machen Picknick an einem See. Plötzlich erhebt
       sich vor ihnen ein Schwan und fliegt laut Flügel schlagend übers Wasser
       davon. Er beschreibt eine Kurve und landet daraufhin wieder in der Mitte
       des Sees. Die Männer fangen an zu diskutieren, wie der Schwan das gemacht
       hat und warum. Der Erste, ein Physiologe, beschreibt die starken
       Flügelmuskeln, ihre besondere Verankerung am Skelett und das Nervensystem
       des Schwans. Er flog auf, weil Impulse von der Retina ins Gehirn und von
       dort weiter über die motorischen Nerven an die Flügelmuskeln geleitet
       wurden. Der Zweite, ein Biochemiker, verweist darauf, dass die Muskeln des
       Schwans u.a. aus den Proteinen Aktin und Myosin bestehen. Der Schwan kann
       aufgrund der Beschaffenheit dieser Faserproteine fliegen, die unter
       Verbrauch von Energie (aus ATP – Adenosintriphosphat, der universellen Form
       verfügbarer Energie in den Zellen) eine Gleitbewegung vollführen und so den
       Muskel kontrahieren lassen. Der Dritte, ein Entwicklungsbiologe, beschreibt
       die ontogenetischen Prozesse, die zunächst ein befruchtetes Ei zur Teilung
       veranlassen und dann zur rechten Zeit für die Ausbildung von Nervensystem
       und Muskulatur sorgen. Der Vierte, ein Verhaltensforscher, zeigt auf einen
       im See schwimmenden Mann: Er hat vielleicht unabsichtlich den in Ufernähe
       gründelnden Schwan verscheucht, weil er ihm zu nahe gekommen war. Schwäne
       sind wegen ihrer kurzen weit hinten am Körper angesetzten Beine an Land
       sehr schwerfällig – und verlassen deswegen das Wasser nur ungerne, wo sie
       mit ihrem langen Hals die Pflanzen vom Grund abfressen. Der Fünfte, ein
       Evolutionsbiologe, erklärt die Prozesse der natürlichen Selektion, die
       sicher stellen, dass nur jene Schwanvorfahren eine Chance hatten, zu
       überleben und sich fortzupflanzen, die sowohl imstande waren, eine mögliche
       Gefahr rechtzeitig zu erkennen, als auch schnell genug, sich in die Luft zu
       erheben. (1)
       
       Fünf Biologen, fünf verschiedene Arten von Erklärung. Der Physiker Steven
       Rose spricht von einem “epistemologischen Pluralismus” – den wir aushalten
       müssen. Der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour fragt sich dagegen: “Wann
       können wir endlich aufhören, die nicht-menschlichen Wesen zu objektivieren,
       indem wir sie ganz einfach verweltlichen und laizistisch betrachten?” An
       anderer Stelle meint er jedoch: “Wer der Faszination für die Natur zu
       erliegen droht, sollte zur Ernüchterung jedesmal das Netz der
       entsprechenden wissenschaftlichen Disziplin hinzufügen, durch die wir sie
       kennenlernen.” Demnach sind die Wissenschaften für ihn so etwas wie
       Ausnüchterungszellen für trunkene Seelen.
       
       In diesem Fall wäre das eine Schwanforschung als spezialisierte
       Ornithologie. Sie ist jedoch anscheinend nicht besonders üppig, obwohl
       einige Arten ähnlich wie die Störche geradezu “Zivilisationsfolger” sind –
       und sich so den entsprechenden Wissenschaftlern fast schon aufdrängen. Die
       Schwäne (Cygnini) gehören mit den Gänsen zu den Entenvögeln (Anatidae), und
       die meisten Biologen bzw. Ornithologen konzentrieren sich, wenn nicht auf
       Enten, dann auf eine oder mehrere Gänsearten – denen sie u.U. bis in den
       Hohen Norden nachfolgen. Davon erzählt z.B. das Buch der schwedischen
       Ornithologin Ulla-Lene Lundberg: “Sibirien. Porträt mit Flügeln”. Auf
       solche Weise wurde z.B. die Ringelgans das Wappentier des Nationalparks
       Wattenmeer. Ihretwegen war es dort jahrelang zu erbitterten
       Auseinandersetzungen – zwischen den Gänseforschern bzw. Naturschützern
       einerseits und den friesischen Bauern andererseits gekommen. Letztere
       hatten das Land einst dem Meer abgerungen. Im Ergebnis wird die dortige
       Grenze zwischen Natur und Kultur heute durch eine rotweiße Schranke
       markiert.
       
       Von Donna Haraway stammt die diesbezüglich schöne Formulierung, dass es
       zwar keine Natur und keine Kultur gibt, aber viel Verkehr zwischen diesen
       beiden Größen. Einzelheiten dazu finden sich in dem Aufsatz des Ethnologen
       Werner Krauss: “Die ‘Goldene Ringelgansfeder’. Dingpolitik an der
       Nordseeküste”.
       
       Zur Schwanenforschung im engeren Sinne bekam ich nur einen Tipp: das Buch
       des Münchner Stadtnaturforschers Josef Reichholf: “Das Comeback der Biber”.
       Es geht darin u.a. um das kämpferische “Revierverhalten” der zur
       Schwarmbildung eher wenig neigenden Schwäne, die dafür gerne lebenslange
       Paarbindungen eingehen. Das gilt für alle 8 Schwanarten, von denen eine
       jedoch, die neuseeländische, seit 300 Jahren ausgestorben ist.
       
       Während der sogenannten Vogelgrippe vor drei Jahren starben hunderte von
       Höckerschwäne – erst an der Ostsee und dann auch am Bodensee. Das
       Gesundheitsamt Rügen antwortete auf die Fragen besorgter Touristen
       stereotyp: “Ja ja, das Virus, das man in den Schwänen nachgewiesen hat, ist
       hochpathogen.” Die Angst vor Ansteckung trieb einige Leute dazu, u.a. am
       Urbanhafen in Kreuzberg, nächtens einige Schwäne zu erschlagen. Früher
       tötete man alljährlich tausende dieser Tiere – ihrer Daunen wegen. Die
       Ornithologen versuchten nun gegen zu steuern, indem sie der Öffentlichkeit
       versicherten: Der Vogelgrippevirus H5N1 sei für Menschen nahezu
       ungefährlich und die Sterblichkeitsrate bei den Schwänen, auf Rügen z.B.,
       nicht höher als in anderen Wintern auch! Im übrigen handele es sich bei den
       im Fernsehen gezeigten toten Schwänen um lange vor dieser “Medienkampagne”
       gestorbene und bereits verweste Vögel.
       
       Wie weit die “Panik” reichte, erfuhr ich von einem Freund, der auf dem Land
       lebt und unbeabsichtigt den halben Staatsapparat darüber mobilisiert hatte.
       Ihm waren vier seiner sechs Gänse von einem Hund totgebissen worden.
       Traurig packte er sie in sein Auto, als er am nächsten Tag in die
       Kreisstadt fahren mußte. Unterwegs stieg ihm aber der Gestank der toten
       Gänse neben sich auf dem Boden unangenehm in die Nase und ihn packte die
       Wut. Kurzentschlossen hielt er an und schmiß die vier Kadaver in den
       Straßengraben. Als er Stunden später wieder zurückfuhr, war die Stelle
       großräumig von der Polizei mit rotweißen Plastikbändern abgesperrt,
       Seuchenexperten in weißen Kitteln untersuchten den Fundort und alle Autos
       mußten durch Desinfektionswannen fahren – sein ganzes Dorf hatte man
       mittlerweile unter Quarantäne gestellt. Mein Freund freute sich: Jahre,
       ach, jahrzehntelang hatte er versucht, alles Mögliche “anzuschieben” –
       betrieblich, sozial, ökologisch, politisch, den Erhalt seiner Firma, die
       Begrünung seines Mietshauses in der Stadt, die Einrichtung eines
       Spielplatzes usw.. Aber nie hatte er dabei die Behörden derart schnell und
       so massiv mobilisieren können – wie mit dieser kleinen, unbeabsichtigten
       “Panikmache”.
       
       Von meiner Mutter habe ich großen Respekt vor Schwänen eingeflößt bekommen.
       Sie hatte ihren Arbeitsdienst als BDM-Mädchen auf einem Bauernhof
       abgeleistet, wo sie die ganze Zeit von einem Ganter verfolgt und gebissen
       worden war. Seitdem fürchtete sie sich vor allen Gänseartigen. Ich überwand
       meine Furcht vor Schwäne 1967, mehr noch, aus einer Phobie machte ich
       damals eine Philie. Und das kam so:
       
       1966 hatte der indische Großtierhändler George Munro in Bremen einen Zoo
       eröffnet, der gleichzeitig eine Tier-Handelsstation war, daneben besaß er
       noch eine kleine Station in Kalkutta. Ich fing als Übersetzer bei ihm an –
       für seine Frau, die Büroleiterin war und nur Englisch und Hindi sprach. Da
       die beiden jedoch nicht genug Tierpfleger hatten, war ich die meiste Zeit
       mehr draußen als drinnen beschäftigt. Dadurch konnte ich mich auf den
       Schwan gewissermaßen vorbereiten. Das begann schon morgens: Als erstes
       hatte ich vier kleine Kragenbären in ihr Freigehege zu tragen – jeweils
       zwei auf einmal, die ich am Nackenfell gepackt von mir weghielt, weil sie
       die ganze Zeit versuchten, in meine Hand zu beißen.
       
       Dann kamen zwei halbwüchsige Orang-Utans dran, die ich mit dem Schlauchboot
       auf eine kleine Affeninsel in einem See zu bringen hatte. Auf dem Weg zum
       Boot nahm ich sie an die Hand. Auf der Insel mußte ich erst einmal die Tür
       eines kleines Häuschens aufsperren, damit sie bei Regen einen trockenen
       Platz hatten. Einmal sprangen mir währenddessen die beiden Orangs wieder
       zurück in das Schlauchboot – und ich befand mich allein auf der Insel,
       während die Affen über den See abtrieben und sich halb totlachten: Vor
       Freude hüpften sie wie wild auf die Wülste des Bootes und kreischten. Je
       entsetzter ich kuckte, desto lustiger fanden sie das Ganze. Zum Glück kam
       gerade Buddha, der kleine Sohn meines Chefs, am See vorbei. Er krempelte
       sich die Hose hoch, stieg ins kalte Wasser und bekam nach kurzer Zeit das
       Schlauchboot zu fassen.
       
       Meistens half mir seine Schwester, Jenny – nach der Schule. Sie war mit
       allen möglichen Tieren groß geworden und kannte sich gut mit ihnen aus,
       während ich mit vielen zum ersten Mal zu tun hatte. So flößten mir z.B. in
       den Volieren zunächst die riesigen Schnäbel der Doppelnashornvögel den
       allergrößten Respekt ein: Sie saßen auf Ästen und man mußte gebückt unter
       ihnen durchgehen, um einen Eimer voll Obstsalat in ihren Futternäpfe zu
       verteilen: Was, wenn sie einem dabei in den Kopf hackten? Jenny zeigte mir,
       wie harmlos sie waren und wie vorsichtig sie ihre Schnäbel einsetzten – man
       konnte sie mit der Hand füttern. Ähnliches galt für die Flughunde, die
       trotz ihrer scharfen Zähnen ebenfalls kindlich-freundliche Obstesser waren.
       
       Schwieriger war es mit dem Einfangen von Tieren, was oft vorkam, da der Zoo
       zugleich wie erwähnt als Handelsplatz diente. Auch hierbei half mir Jenny,
       mit der ich mich bald immer mehr anfreundete. Am Unangenehmsten war es,
       Kraniche oder Reiher einfangen zu müssen: Sie wehrten sich mit ihren langen
       spitzen Schnäbeln sowie mit ihren Flügeln und den scharfen Sporen am Bein –
       auf all diese fünf Waffen zugleich konnte man unmöglich achten. Mehrmals
       gelang es diesen Vögeln, mich zu verletzen, mindestens mir die Hosenbeine
       aufzuschlitzen. Beim Ährenträgerpfau war es schon gefährlich, ihn nur
       füttern zu wollen. Einmal sprang er dem Pfleger dabei auf den Kopf und
       brachte ihm eine tiefe Wunde bei, die genäht werden mußte. Ich scheuchte
       danach den Pfau immer mit einem Besen in seinen Stall, bevor ich mich in
       seinem Außengehege zu schaffen machte. Einmal flüchtete er vor dem Besen in
       meine Richtung, ich sprang erschrocken zur Seite, woraufhin er durch die
       Tür nach draußen ins Freie flog. Obwohl es ein herber Verlust war, etwa
       1000 DM, trauerte niemand ihm nach. Am Angenehmsten war es mit einem
       Elefanten, den sein indischer Tierpfleger und ich im Güterwaggon nach
       Ostberlin in den dortigen Tierpark bringen sollten. Er machte alles
       bereitwillig mit. Für den Elefanten hatten wir genug Heu und anderes Futter
       dabei, aber für uns nur einige Schokoriegel, weil wir davon ausgegangen
       waren, dass die Zugfahrt höchstens 12 Stunden dauern würde – wir brauchten
       jedoch drei volle Tage, weil die Waggons alle nasenlang umrangiert wurden
       und jeder Personenzug Vorrang hatte. Bei jedem Halt stieg ich aus, um für
       den Elefanten Wasser zu holen. Auf dem Rückweg mußte ich jedesmal unseren
       Waggon suchen, der inzwischen umrangiert worden war. Der indische
       Tierpfleger und ich, wir wurden immer nervöser und hungriger, aber der
       Elefant blieb gelassen. Er vermittelte uns geradezu das Gefühl, dass wir es
       schon schaffen würden, ihn sicher ans Ziel zu bringen. Anschließend durften
       wir uns im Gästehaus des Ostberliner Tierparks drei Tage lang erholen,
       bevor wir wieder, diesmal mit einem Personenzug, nach Hause fuhren.
       
       Als nächstes sollte ich elf Schwäne, die vorübergehend im leeren Freigehege
       für Geparden untergebracht waren, einfangen und umsetzen. Dieser Auftrag
       machte mich vollends ratlos. Die elf Schwäne schwammen im Wassergraben des
       Geheges: Mit dem Schlauchboot trieb ich sie erst einmal an Land und dann in
       einer Ecke des Geheges zusammen. Weil ich mich nicht traute, mir einfach
       blitzschnell einen zu packen, gelang es den Vögeln immer wieder, zurück in
       den Wassergraben zu flüchten, von wo aus ich sie dann wieder mit dem
       Schlauchbott an Land und in eine Ecke des Geheges scheuchte…Hin und her –
       bis der Sohn des Chefs, Buddha, kam und mir half: Wir drängten die Schwäne
       zu zweit erneut in eine Ecke des Geheges – und Buddha schmiß sich einfach
       auf den erstbesten, packte ihn, nahm ihn hoch und trug ihn über das halbe
       Zoogelände in das gerade fertiggestellte neue Gehege für Teichvögel, wo er
       den Schwan ins Wasser gleiten ließ. Es sah ganz einfach aus. Ich tat es ihm
       nach. Sogleich gelang es mir, einen Schwan zu umfassen, so daß er nicht
       mehr mit seinen Flügeln um sich schlagen konnte, seine kurzen Beine hielt
       er von selber still und seinen Schnabel hielt ich mit einer Hand fest. Die
       andere Hand presste ich an seinen Bauch. Nach ein paar Schritten merkte
       ich, wie weich dort die Federn waren und wie schön es sich anfasste. Ich
       ließ seinen Schnabel los und griff mit meiner anderen Hand an seine Brust –
       die war sogar noch weicher. Und weder versuchte der Schwan mir mit seinem
       Schnabel ins Gesicht zu hacken oder zu beißen, noch fing er an zu schreien,
       im Gegenteil: Er kuschelte seinen Kopf leicht an meinen Körper und fiepte
       nur leise. Ich streichelte ihm den Hals und ging glücklich zum neuen Teich
       der Wasservögel, wo ich ihn am Rand ins Gras setzte. Mit einem Satz und
       einem kleinen Schrei sprang er ins Wasser, um sich schnell in der Mitte des
       Sees in Sicherheit zu bringen.
       
       Ich ging zurück, um den nächsten Schwan zu holen. Alle reagierten ähnlich
       friedfertig – sobald wir sie erst einmal fest umfaßt hielten. Leider war
       Buddha so schnell, dass wir schon bald zehn Schwäne gefangen hatten, den
       letzten, elften, schnappte ich mir – trug ihn aber nicht gleich in sein
       neues Freigehege, sondern ging mit ihm auf dem Arm noch eine Weile
       spazieren: Er war nicht schwer und fühlte sich ebenfalls wunderbar an,
       außerdem roch er gut. Tagelang hätte ich mit ihm so herumlaufen mögen. Ich
       wanderte mit ihm durch den ganzen Zoo. Als ich mit dem Schwan am Käfig des
       sibirischen Tigers vorbeikam, sprang dieser auf und fauchte, wobei er sich
       mit den Vorderpfoten am Gitter aufrichtete. Das tat er auch, wenn ich – was
       mehrmals täglich geschah – mit dem VW-Bus bei ihm vorbeifuhr. Der schwarze
       Panther im Käfig nebenan, der einer alten Dame gehört hatte, die in ein
       Altersheim gekommen war, blieb jedoch ganz ruhig: Er kuckte uns nur traurig
       oder gelangweilt hinterher. Dahinter arbeiteten unter der Aufsicht eines
       Wärters 14 Gefangene aus dem Gefängnis Oslebshausen an der Gestaltung eines
       Bison-Freigeheges. Ich hatte diesen Arbeitseinsatz organisiert und mich
       anfänglich auch noch darum gekümmert, aber nach und nach war ich dabei zum
       Laufburschen der Gefangenen geworden, indem ich ihre Briefe zu Verwandten
       und Freunden austrug bzw. umgekehrt von denen Botschaften an sie
       übermittelte und ihnen Zigaretten sowie andere Kleinigkeiten besorgte, was
       jedoch immer mehr wurde. So dass es mich irgendwann überforderte. Ich zog
       mich zurück und überließ dem uniformierten Wächter die Baustelle, was der
       mit Genugtuung registrierte: “Hätte ich Ihnen gleich sagen können!”
       
       All das zeigte bzw. erzählte ich nun quasi dem Schwan, während ich ihn
       herumtrug. Schließlich setzte ich ihn am Wasservogel-Teich ins Gras. Bevor
       er sich dort ebenfalls ins Wasser flüchtete, schüttelte er noch kurz sein
       Gefieder aus. Dabei kuckte er mich irgendwie erstaunt an.
       
       “Wenn ich einmal erwachsen werde, oder (wie wir zu sagen pflegten), nach
       der Revolution,” schreibt die feministische US-Biologin Donna Haraway,
       “weiß ich, was ich tun möchte. Ich möchte für die Tiergeschichten in
       ‘Reader’s Digest’ zuständig sein. die jeden Monat in über zwölfe Sprachen
       an die zwanzig Millionen Menschen erreichen. Ich möchte die Geschichten
       über moralisch versierte Hunde, gefährdete Völker, lehrreiche Käfer,
       wundersame Mikroben und gemeinsam zu bewohnende Häuser der Differenz
       schreiben. Mit meinen Freundinnen möchte ich am Ende des zweiten
       christlichen Jahrtausends Naturgeschichte schreiben, um zu sehen, ob andere
       Geschichten möglich sind, solche, die nicht auf dem Riß zwischen Natur und
       Kultur, bewaffneten Cherubim und heroischen Suchaktionen nach den
       Geheimnissen des Lebens beruhen.”
       
       Zu Zeiten der Vogelgrippen-Hysterie 2006 wurde ein schwarzer Schwan
       berühmt, der sich im Aassee von Münster zu einem weißen Tretboot in
       Schwanengestalt gesellt hatte – und ihm nicht von der Seite wich, es sogar
       mutig gegen jeden Versuch der Wiederinbesitznahme durch die Menschen
       verteidigte. In Münster machte man aus dieser ungewöhnlichen “Liaison” mit
       Hilfe einer Marketingfirma eine Art Wahrzeichen der Stadt. Ich vermutete,
       dass die weißen Schwäne den schwarzen verscheucht hatten, so wie es bei
       Schafen vorkommt, die kein schwarzes Schaf in ihren Reihen dulden. Eine
       “Expertin” von der Biologischen Station “Rieselfelder Münster” verneinte
       dies jedoch: Die weißen Schwäne hätten keine Probleme mit schwarzen
       Schwänen; es handele sich bei seiner Liebe zum Tretboot mithin nicht um
       eine Objektverschiebung aus Kommunikationsnot, wie man es von Affenwaisen
       kennt, sondern um eine “Fehlprägung”. Eine solche kennt man spätestens seit
       den Aufzucht-Experimenten des Gänseforschers Konrad Lorenz, der sich einst
       selbst zum Objekt einer solchen “Fehlprägung” machte, indem er den
       neugeborenen Gänschen die Mutter ersetzte. (2)
       
       Der schwarze Schwan vom Aasee muß aber doch wohl eine Schwänin zur Mutter
       gehabt haben, die ihn demzufolge auch sozusagen ganz normal geprägt hat.
       Jedenfalls tauchte er erst im Yachthafen und bei den Tretbooten im Aasee
       auf, als er seinen Flaum schon verloren – und ein schwarzes Gefieder
       bekommen hatte. Und dann schwamm er auch nicht hinter jedem weißen,
       schwanenförmigen Tretboot hinterher, sondern nur hinter einem bestimmten,
       das man dann auch – ihm zuliebe – aus dem Verkehr zog. Statt auf eine
       “Fehlprägung” tippte Peter Berz deswegen auf einen Fall von “Feteschismus”,
       als ich ihm davon erzählte.
       
       Im Winter 2006 wurde der schwarze Schwan zusammen mit seinem Tretboot in
       den dortigen “Allwetterzoo” umgesetzt. Bei der laut Münstersche Zeitung
       “mehrtägigen Aktion” wurde das Boot etappenweise über den Asee und durch
       einen Kanal immer weiter in Richtung Zoo gezogen. Die Berliner Netzeitung
       berichtete: In den vergangenen Wochen war der Trauerschwan bereits von
       einem Teich im Zoo ins Pelikan-Haus gezogen. Im neuen Stall soll der Schwan
       eine Fußverletzung endgültig auskurieren. “Das Tretboot im Wasserbecken
       soll den Schwan zum Schwimmen animieren, damit der Fuß entlastet wird’,
       erklärte dazu der Zoo-Chef Jörg Adler. Die neue Unterkunft wird durch ein
       großes Aasee-Bild geschmückt. Zudem hängen im Pelikan-Haus Kopfhörer, mit
       denen sich Zoo-Besucher eine «Schwanenballade» anhören können. Später
       versuchte ein Verhaltensbiologe des Zoos den Schwan beziehungsmäßig wieder
       auf den richtigen Weg zu bringen. Dazu berichtete der WDR: Im Zoo machte
       man sich Hoffnung, der Trauerschwan könnte einen lebendigen Artgenossen
       kennen und lieben lernen. Vor rund zwei Wochen wurde der Versuch der
       diskreten Kontaktaufnahme gestartet – und vorzeitig abgebrochen. Die im Zoo
       lebenden Trauerschwäne und die ‘Schwarze Petra’ hätten sich nicht
       anfreunden können, hieß es. Keiner der Junggesellen verstand es, das
       Weibchen für sich zu begeistern. Die “Schwarze Petra” blieb ihrem Tretboot
       treu. Petra lebt bereits seit mehr als einer Woche wieder mit ihrem
       Liebsten allein zusammen. Nach Ansicht des zooeigenen Verhaltensbiologen
       ist nicht davon auszugehen, dass sich das Tier jemals von seinem Tretboot
       trennen wird.”
       
       Die Münsteraner hatten den Schwan zunächst “schwarze Petra” genannt, der
       Zoodirektor bestand dann jedoch darauf, wahrscheinlich nach Prüfung der
       Kloake, in der sich beim Männchen der Penis befindet, ihn “Peter” zu
       nennen. Wenn er nicht auch noch an einer geschlechtlichen “Fehlprägung”
       litt, mußte das Tretboot demzufolge ein weibliches sein: “Wenn man sieht,
       wie der Peter das Schwanenboot umkreist, ist gar nichts anderes
       vorstellbar: Das ist sein absoluter Bezugspunkt,” teilte der Zoo-Direktor
       der Presse mit. Für hunderte von Münsteranern und Besuchern der Stadt war
       wiederum dieses seltsame Schwanenpärchen ein absoluter Anziehungspunkt. Es
       wurde von Neugierigen geradezu umlagert.
       
       2007 war in der Presse jedoch erneut von der schwarzen Petra die Rede:
       Diese hatte sich plötzlich von ihrem Tretboot ab und einem jungen weißen
       männlichen Höckerschwan zugewandt. Der Zoodirektor Jörg Adler erklärte
       daraufhin der Presse: “Er ist Petra wohl vom Aasee gefolgt, tauchte
       plötzlich auf dem tierparknahen Seitenkanal und kurz darauf an ihrer Seite
       auf”. Die Ahnungen einiger Jogger am Aasee und vom Tretbootbesitzer und
       Yachtschulbetreiber Peter Overschmidt schienen sich zu bewahrheiten: Petra
       war zuletzt immer mal wieder für einige Stunden aus der Nähe des Tretboots
       verschwunden. Das hartnäckige und intensive Werben des jungen Höckerschwans
       um die Trauerschwänin hatte also Erfolg – “und das Tretboot ist nun wohl
       der dumme Dritte”, stellte Zoo-Chef Adler nüchtern fest und fügte hinzu:
       “Das kann einem fast leid tun.”
       
       Im Frühjahr 2008 fing die schwarze Petra an, im Zooteich ein Nest zu bauen,
       doch plötzlich verließ der weiße Höckerschwan sie. Petra hörte auf mit dem
       Nestbau und schwamm unruhig hin und her. Im Zoo wußte man sich schließlich
       nicht anders zu helfen, als sie wieder auf den Aasee zurückzubringen, wo
       ihr weißes Trettboot vor Anker lag. “Petra wurde sehr aufmerksam, als sie
       das Boot erblickte. Sie hat wohl eingesehen, dass nur das Tretboot ihr die
       Treue hält”, erklärte der Zoo-Direktor anschließend auf einer
       Pressekonferenz – und fügte erklärend hinzu: Die Beziehung zu ihrem weißen
       Schwan sei sowieso sehr ungewöhnlich gewesen, da sich Trauer- und
       Höckerschwäne in der Natur eigentlich nicht begegnen. Auch die vielen an
       ihrem Leben interessierten Neugierigen aus Münster und Umgebung fanden,
       dass die inzwischen weltberühmt gewordene schwarze Schwänin bei ihrem
       Tretboot bleiben sollte, wie eine Umfrage ergab.
       
       In einem Internet-Forum namens “ariva.de”, in dem ihre Beziehungsprobleme
       ebenfalls diskutiert wurden, bemühte man zum Verständnis eine
       Standorttheorie. So schrieb z.B. ein gewisser D.B.: “Ich glaube wenn ich
       dazu verdammt wäre, in Münster zu leben, würde ich auch Tretbooten
       hinterherschwimmen.” Ein gewisser A.N. gab daraufhin zu bedenken: “Weiss
       nicht, was daran schlimm ist. Ich hatte bisher 3 Tretboote in meinem Leben
       und sooo schlecht ist das nicht. OK – es gibt nur eine Stellung und man
       muss ständig an der Beziehung arbeiten, aber man kommt als Pärchen auch
       vorwärts. Einer holt den anderen immer irgendwo ab und nimmt ihn mit.”
       
       Anfang 2009 verteilte der Münsteraner “Freundeskreis ‘Schwarze Petra’”
       Flugblätter und hängte Steckbriefe an die Bäume: “Gesucht wird…” Seit dem
       1. Januar war die schwarze Schwänin verschwunden. Es kamen Meldungen aus
       Lindau am Bodensee und aus Carolinensiel an der Nordsee, wo sie angeblich
       aufgetaucht war. Eine mit Photographien erhärtete Spur führte nach Xanten
       an einen Baggersee. Die FAZ schrieb: “Am Aussehen kann man Petra nicht
       erkennen, nur am Verhalten.” Mit einer Ausnahme: Rita Thieme. “Die gelernte
       Tierpflegerin, eines von 58 Mitgliedern des Freundeskreises, hat Petra auf
       dem Aasee seit zwei Jahren gefüttert, mit Spezialkörnern und Blattsalat.
       Bloß nicht Brot und Brötchen, denn da ist Salz drin, und Salz können
       Trauerschwäne – anders als andere Schwäne und Wasservögel – nicht abbauen.”
       Wenn Rita Thieme pfeift kommt Petra angeflogen – aus bis zu zwei Kilometern
       Entfernung. “Wenn wir demnächst feststellen, dass Petra in Xanten ist, dann
       lassen wir sie da”, sagte ein Sprecher des Freundeskreises. “Rita Thieme
       könnte sie zwar einfangen, weil sie bei ihr handzahm ist, aber es ist doch
       ein wildlebendes Tier, so gerne wir sie hier in Münster wieder auf dem
       Aasee hätten.” Die FAZ tröstete die Münsteraner: “Für Petra ist Xanten am
       Niederrhein auch ein treffender Ort. Siegfried! Nibelungen! Parzival!
       Lohengrin! Elsa! Der Schwan hat eine sagenhafte Wahl getroffen.”
       
       Das Tier wird sich auch hier am Niederrhein wohl fühlen, versicherten
       daraufhin sofort einige “Experten” – u.a. vom Naturschutzzentrum im Kreis
       Kleeve. “Die Region hier bietet ideale Voraussetzungen. Durch seine
       zahlreichen Gewässer ist sie sehr attraktiv für Wasservögel”, teilte z.B.
       der Biologe Martin Brühne dem Lokalfernsehen mit. Schon zweimal hatte er in
       den vergangenen Jahren schwarze Schwäne am Altrhein beobachtet. Einer der
       prächtigen Vogel war sogar mal im Wasser festgefroren und musste befreit
       werden.
       
       Weil dies anscheinend trotz Klimaerwärmung immer öfter passiert, werden
       neuerdings für die Feuerwehren Fortbildungskurse im “Wildvogel-Fangen”
       angeboten. Ein Reporter der WAZ war dabei: “Ein fester Griff. Ein kurzes
       Schnattern. Und bloß nicht die Flügel aus den Augen verlieren. Schon hält
       der Profi den Schwan auf dem Arm. Thorsten Kestner weiß: ‘Die können einem
       Erwachsenen durchaus mit ihren kräftigen Flügeln den Oberschenkel brechen.’
       Kursleiter Kestner, der sich schon seit 20 Jahren um verletzte Wildtiere
       kümmert, fordert die Feuerwehrmänner zum Vormachen auf. Lars Kaluza und
       Daniel Weir sollen zwei Schwäne fangen. Im strömenden Regen und voller
       Feuerwehr-Montur stapfen die beiden über die matschige Wiese. Die Schwäne
       haben das Vorhaben der beiden längst erkannt und traben davon, die
       Blauröcke hinterher. Schwan eins ist geschickt und schlägt den Weg aufs
       offene Feld ein. Da kommt niemand mehr hinterher. Schwan zwei flattert am
       Zaun entlang. Das ist die Gelegenheit für Daniel Weir. Er greift von hinten
       zu, natürlich ohne die Flügel aus den Augen zu verlieren. Jetzt hat er den
       Schwan fest im Arm. Und dann? Thorsten Kestner rät, die gefangenen
       Wildvögel in blaue Müllsäcke zu stecken. Ob die denn darin noch Luft
       bekommen, fragen die Vogelfang-Lehrlinge. Kestner lacht: ‘Der Kopf muss
       natürlich rausschauen’. Der Ausbilder lobt seine Schüler für den Einsatz am
       Zaun. Jedes Wildtier brauche aber seine eigene Behandlung. ‘Die Reiher
       hacken nach dem Auge’, sagt Kaluza. Er hat da schon seine Erfahrungen
       gemacht. Bei Greifvögeln sollen die Feuerwehrleute besonders vorsichtig
       sein. Nicht nur wegen der Krallen und Schnäbel. Kestner: ‘Wenn sich ein
       Bussard im Zaun verfangen hat, schneidet den Zaun mit raus. Sonst bekommen
       wir später den Flügel nicht mehr hin’.”
       
       Der Schwanenrettung durch die Feuerwehr sind jedoch Grenzen gesetzt: Als
       neulich im Berliner Humboldthafen ein älterer Höckerschwan einen jungen,
       der seiner nestbauenden Schwänin zu nahe gekommen war, am Stauwehr in die
       Enge getrieben hatte und dort heftig attackierte, holte ein Spaziergänger
       die Feuerwehr, die ihn dann jedoch nur bat, weiter auf die beiden
       kämpfenden Schwäne aufzupassen: “Wenn wir den jungen fangen, dann wird der
       noch mehr verletzt und wir auch – und in der Schwanenstation geben ihm die
       Tierärzte sofort eine Todesspritze. Die wissen dort vor Schwänen nicht mehr
       ein und aus. Ständig kommen irgendwelche Leute, die ihnen verletzte Tiere
       bringen: Schwäne, die von Hunden gebissen wurden, Schwäne, die gegen eine
       elektrische Leitung flogen usw..”
       
       Solch eine Zurückhaltung bei staatlichen Organen kann jedoch u.U. auch ihre
       Gutes haben: So beobachteten die DDR-Grenzschützer einmal – ohne
       einzugreifen, wie eine Gruppe Schwäne auf der Spree unweit vom Osthafen
       einen einzelnen Schwan angriffen. Dieser wehrte sich nicht, sondern
       versuchte weiter Kurs zu halten – auf das Westufer zu, was ihm, wenn auch
       mühsam, gelang. Normalerweise bringen sich Schwäne nicht an Land in
       Sicherheit, aber hierbei handelte es sich um einen DDR-Bürger, der sich
       einen hohlen Schwan aus Holz und Plastikmasse gebaut und übergestülpt
       hatte, um damit in den Westen zu flüchten. Die aufgebrachten Schwäne um ihn
       herum machten seine etwas steife “Verkleidung” sogar noch authentischer.
       Sie gaben ihm gewissermaßen sicheres Geleit. Diese Fluchtgeschichte aus den
       Siebzigerjahren ist schon oft erzählt worden. Zuletzt erwähnte sie die
       Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar, die in Westberlin lebte, aber in
       Ostberlin, am Theater, arbeitete. Sie schrieb: “Die echten Schwäne kamen zu
       ihm, pickten an seinem künstlichen Schwanenkopf und schwammen mit ihm in
       den Westen. So hat man es mir erzählt.”
       
       Ende April meldeten die überregionalen Zeitungen: Der in Xanten lebende
       schwarze Schwan ist nicht die “schwarze Petra”. Ihr Münsteraner
       “Freundeskreis” erklärte dazu: Sie ist am Fuß zu erkennen, weil sie dort
       operiert und ihr ein Teil des Knochens entfernt wurde.” Für den Freundkreis
       begann daraufhin die Suche nach dem vermissten Trauerschwan wieder von
       vorne. Er glaubte jedoch selber nicht mehr an einen Erfolg. Aber dann tat
       sich doch wieder was – in Münster selbst. Ende Mai berichtete die
       Münstersche Zeitung: “In Uganda war gestern Morgen ein Handy im
       Dauereinsatz. “Ständig klingelt mein Telefon. Was ist denn in Münster los?”
       Jörg Adler, Zoodirektor und derzeit in Afrika, gilt als Schwanenexperte
       Nummer eins in der Stadt. Als gestern ein schwarzer Schwan auf dem Aasee
       entdeckt wurde, war er ein gefragter Mann.” Die Aufregung war groß in
       Münster. “Mit dem roten Motorboot sind wir sofort rausgefahren”, erzählte
       Segelschulleiter Peter Overschmidt, doch er wurde enttäuscht: “Der Schwan
       hat sich unserem Boot nicht genähert. Petra kam meistens sofort
       angeschwommen.” Außerdem wirkte Petra “körperlich dominanter; dieser Schwan
       war schlanker. Ich würde sagen, dass es ein jüngerer Schwan ist.”
       Vorsichtshalber trieb man dennoch “Petras Geliebten” – das weiße
       Schwanentretboot – auf den Aasee. Nichts passierte. Am Abend erklärte
       Reinhold Wiens vom “Freundeskreis Petra” der Presse: “Das ist leider nur
       ein schlechtes Double. Der Schwan ist zu schlank und verhält sich ganz
       anders. Es handelt sich definitiv nicht um unsere Petra.” Am
       darauffolgenden Tag war dann auch ihr “schlechtes Double” verschwunden.
       
       In der Stadtverwaltung scheint man davon auszugehen, dass Petra nie
       wiederkehren wird, denn man plant nun, der Verschollenen ein Denkmal am
       Aasee zu setzen. (3) Gleichzeitig betet man für die “schwarze Petra”, dass
       sie nicht bis in die Schweiz fliegt, denn dort würde sie “das Schicksal
       vieler illegaler Einwanderer teilen,” schrieb “Die Zeit” Anfang Juni 2009:
       Die eidgenössischen Behörden wollen die schwarzen Schwäne auf ihren Seen
       nicht länger dulden – und sie im Notfall sogar abschießen. Nach Meinung der
       Schweizer Umweltbehörden bedrohen die australischen Schwarzschwäne die
       Bestände der weißen Schwäne. Große Teile der Bevölkerung sind gegen die
       Vertreibung der schwarzen. “Die Zeit” vermutet, dass es in diesem Fall gar
       nicht um die Ökologie geht. Dahinter stecke vielmehr eine “große
       Verschwörung: Spätestens seit dem Bestseller ‘The Black Swan’ steht der
       Schwarze Schwan in der Wirtschaft für unvorhergesehene Ereignisse, mit
       denen auf Grundlage bisheriger Erfahrungen niemand gerechnet hat. Sehr
       wahrscheinlich trachten also gar nicht die Ökologen dem Schwarzen Schwan
       nach dem Leben, sondern die frustrierten Schweizer Ökonomen. Immerhin ist
       er das lebende Symbol der Finanzkrise.”
       
       Das Buch des libanesischen Mathematikers Nassim Nicholas Taleb: “Der
       schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse”, so der
       deutsche Titel, wird auch hierzulande breit diskutiert. Der einstige
       Gründer der “Glücklichen Arbeitslosen” und nunmehrige Philosoph des
       Leipziger Zentral-Theaters Guillaume Paoli empfiehlt es ebenso wie
       “financebooks.de”. Dort heißt es: “In seinem Bestseller zeigt Nassim Taleb:
       Extrem unwahrscheinliche Ereignisse – ‘Schwarze Schwäne’ – gibt es viel
       häufiger, als wir denken. Und wir unterschätzen systematisch ihre
       gewaltigen Folgen. Der erstaunliche Erfolg von Google ist ein Schwarzer
       Schwan, die Terrorattacken vom 11. September 2001 und globale Finanzkrisen
       ebenso.” Weil er die Krise mit seiner Schwarzer-Schwan-Theorie quasi
       vorausgesagt hatte, ist der Autor derzeit ein weltweit gefragter Referent –
       beim CIA und der NASA ebenso wie bei Bankern, Unternehmern und
       Wirtschaftswissenschaftlern. Die “Welt” schreibt: “Philosophisch
       betrachtet, nimmt Taleb das uralte Problem der Induktion wieder auf. Der
       Mensch macht systematisch Fehler, wenn er von der Vergangenheit auf die
       Zukunft schließt. Angenommen, Sie sind eine Weihnachtsgans, so Taleb. Tag
       für Tag, über Monate, werden Sie gefüttert. Sie müssen nichts dafür tun,
       nur fressen, und für Sie ist es offensichtlich, dass die Menschen Ihnen
       wohl gesonnen sind. Mit jedem Tag festigt sich diese Erkenntnis.
       Schließlich kommt der Weihnachtsabend, und Sie werden geschlachtet. Aus der
       Sicht der Gans ist Weihnachten ein “Black Swan” – ein Ausreißer des
       normalen Ablaufs mit verheerenden Konsequenzen, der unmöglich aus der
       Vergangenheit abgeleitet werden konnte.”
       
       Mit dieser Theorie, so mutmaßte ich beim Lesen dieses Artikels, läßt sich
       vielleicht sogar die Angewohnheit der kommunistischen Partei der
       Sowjetunion erklären, bei jedem Trauerfall, wenn z.B. einer ihrer
       Generalsekretäre gestorben war, das Fernseh- und Radioprogramm zu
       unterbrechen und tagelang nur noch “Schwanensee” von Peter Tschaikowsky
       spielen zu lassen. Als “Schwanenlied” wurden in Russland bereits vor der
       Revolution die jeweiligen Höhepunkte einer Entwicklung, einer Epoche oder
       eines Schaffens bezeichnet.
       
       Im Mittelalter galt die Schwanenhaltung auf offenen Gewässern als
       Hoheitsrecht. In England gehören noch heute alle Schwäne der Krone.
       Alljährlich findet dort ein “Swan-upping” genanntes Ritual statt: Der
       königliche Schwanenaufseher und seine Mannschaft fahren mit Booten herum,
       um eine Woche lang die Schnäbel der jungen Schwäne zu kennzeichnen, die
       kraft eines besonderen Vertrages nicht Eigentum des Souveräns, sondern
       bestimmter Berufsgruppen der City sind. Selbstverständlich werden die
       Schwäne der Königin niemals gekennzeichnet. Dafür begegnet einem das
       Schwan-Wappen der Krone überall, auf Gebäuden, Laternenpfosten,
       Telefonhäuschen und hunderterlei Dingen, vom Kupferschild an einem
       Pferdezügel bis zum Waffenrock eines Beefeater und eines Wachmanns im
       Londoner Tower.”
       
       Die selbstbewussten Hamburger Bürger halten es ähnlich: Schon 1664 stellten
       sie die Belästigung der “Alsterschwäne” unter Strafe. Sie gehören der Stadt
       – und es gibt noch heute einen “Schwanenvater”. Der derzeitige heißt Olaf
       Nieß. Er ist vor allem dafür verantwortlich, die etwa 120 Hamburger
       Höckerschwäne bei Winterbeginn in den Eppendorfer Mühlenteich umzusetzen,
       dieses Gewässer für sie eisfrei zu halten und sie dort zu füttern. Die der
       Krone gehörenden englischen Schwäne wurden früher gerne von Studenten aus
       Oxford und Cambridge heimlich gefangen, getötet und gegessen. Im
       Internet-Forum “chefkoch.de” werden heute wieder Rezepte für die
       Zubereitung eines Schwans gesucht. In den Sechzigerjahren haben wir einmal,
       als Pfadfinder unterwegs im Sauerland, einen Schwan geschossen und
       anschließend versucht zu essen – sein Fleisch war jedoch nahezu
       ungenießbar.
       
       Dies ist kein schöner Schluß für einen Vortrag über Schwäne. Ich wollte es
       dennoch damit genug sein lassen, aber dann bekam ich ein Plakat, mit dem
       eine “Internationale Konferenz” der Kulturwissenschaftler an der
       Universität Weimar angekündigt wurde: “Die Macht der Dinge” – und darauf
       war ein Photo mit 14 Tretbooten in Schwanengestalt abgebildet. Weiße – so
       wie das, in den sich die “schwarze Petra” aus Münster verliebt hatte. Auf
       der Konferenz, die Ende April in Weimar stattfand, ging es um die
       “Akteur-Netzwerk-Theorie” (ANT) von Bruno Latour, John Law, Michel Callon
       u.a.. Man könnte auch noch Isabelle Stengers, Karin Knorr-Cetina, Shirley
       Strum, Judith Butler, Lynn Margulis, Donna Haraway und Sandra Harding
       dazuzählen.
       
       Hierzulande wird die ANT vor allem von Umweltsoziologen und
       Wissenschaftshistorikern diskutiert, in den USA u.a. von feministischen
       Anthropologinnen und Biologinnen. Es geht diesen Wissenschaftlerinnen
       darum, mit Hilfe der “Akteur-Netzwerk-Theorie” die moderne Dichotomie von
       Natur und Kultur bzw. Gesellschaft, Objekt und Subjekt, Fakt und Fetisch zu
       überwinden – indem man Menschen und nicht-menschliche Wesen sowie auch
       sämtliche Artefakte (Dinge) an einem Runden Tisch gewissermaßen versammelt.
       Ein “Parlament der Dinge!”
       
       Der Schwan im Arm – das war schon mal ein Anfang dahin. Und die Benamung
       des Münsteraner Trauerschwans als “schwarze Petra” zusammen mit der
       Assoziation ihres “Freundeskreises” ein weiterer Schritt. Auf diese Weise
       wird auch aus der Schwanenforschung einmal eine historische Wissenschaft
       werden. Und, wer weiß? Vielleicht bekommen wir von den Schwänen sogar
       einmal eine Geschichte der ihnen namentlich bekannten Schwanforscher
       zurück.
       
       ———————————————————————-
       
       (1) Dazu führte kürzlich eine weitere Gruppe von Biologen – der University
       of Washington aus: “Einmal im Jahr verliert jeder Höckerschwan all seine
       Schwungfedern. Bis zu acht Wochen dauert es, bis sie wieder vollständig
       nachgewachsen sind. In dieser Zeit der Mauser können die Tiere nicht
       fliegen. Der Höckerschwan flüchtet sich während der Mauser schwimmend auf
       die Mitte seines Sees. Offenbar begrenzt gerade diese Zeitdauer die
       Körpergröße flugfähiger Vögel. Die Höckerschwäne mit einem Gewicht von bis
       zu 15 Kilogramm gehören zu den schwersten Tieren, die sich auf ihren
       Schwingen in die Luft erheben können. Eine Amselfeder braucht drei Wochen,
       um nachzuwachsen. Dagegen dauert die vollständige Mauser eines Albatrosses
       bis zu drei Jahre. Große Seevögel sind auf absolut funktionsfähige Flügel
       angewiesen. Daher fällt bei ihnen stets nur eine Feder zur Zeit aus. Die
       Reihenfolge, in der sich das Gefieder nach und nach erneuert ist stets die
       gleiche. Schon eine fehlende Feder beeinträchtigt den Flug. Der Vogel muss
       demnach genau wissen, wie er seinen Flug während der Mauser anzupassen hat.
       Je größer und damit schwerer ein Vogel ist, desto länger müssen seine
       Federn sein, um ihn zu tragen; beim Schwan bis zu 40 Zentimeter. Dennoch
       wachsen lange Federn pro Zentimeter kaum schneller als kurze. Die
       Wachstumsrate der Federn kann irgendwann nicht mehr mit deren Länge
       mithalten. Dies hätte zur Folge, dass Federn kaputt gingen, bevor sie
       ersetzt werden könnten. Weil Vögel aber ein intaktes Gefieder brauchen,
       hört der Körper vorher auf zu wachsen.” So die Vermutung der Schwanforscher
       aus Washington.
       
       (2) In seinem Provinzlexikon “Am Abend mancher Tage” erzählt der Theologe
       Joachim Krause von einem unbeabsichtigten Schwan-Experiment: Er hatte mit
       seinem Sohn an einem See ein kleines Schiff gebastelt, als sie es mit einem
       weißen Stück Papier als Segel ausstatteten kam von der anderen Seeseite ein
       Schwan angerauscht, der dort seine brütende Schwänin bewacht hatte. Er
       hielt das Papier für einen Nebenbuhler. Erst kurz vor dem kleinen Boot
       erkannte er seinen Irrtum und schwamm beruhigt zurück zum Nest. Joachim
       Krause wollte es nicht glauben, dass Schwäne derart auf einen weißen Fleck
       reagieren – und wiederholte das Experiment am nächsten Tag. Prompt kam der
       Schwan erneut zum Kampf bereit angerauscht.
       
       (3) Letzte Meldung – aus Münster (v. 12.10.09): Seit Anfang 2009 ist
       Münsters berühmtester Vogel, der Trauerschwan Petra, nun schon
       verschwunden. Mögliche Hinweise über ihr Schicksal hat es in den
       vergangenen Monaten viele gegeben, aber der Vogel bleibt verschwunden.
       Darum hat der Freundeskreis “Schwarze Petra” jetzt beschlossen, sich wieder
       aufzulösen.
       
       Aus ganz Deutschland haben sich Leute bei dem seit einem Jahr bestehenden
       Verein gemeldet, die angeblich díe schwarze Petra gesehen haben –
       allerdings war jeder dieser Tipps falsch. Eigene Nachforschungen liefen ins
       Leere.
       
       Die kleine Hütte vor der Gaststätte “Zum Himmelreich” soll vorerst stehen
       bleiben, das für Petra gekaufte Futter im Winter an die Enten und Schwäne
       auf dem Aasee verfüttert werden. Die noch nicht verwendeteten
       Mitgliedsbeiträge von 414 Euro spendet der Verein dem Tierheim.
       
       9 Jul 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
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