# taz.de -- Philosoph Nusseibeh über Palästinakonflikt: "Wir können ihren Willen nicht brechen"
> Der palästinensische Philosoph und Publizist Sari Nusseibeh über die
> Aussichten auf Frieden in Nahost, Strategien des gewaltfreien Widerstands
> und die Selbstmordattentate der Hamas.
(IMG) Bild: "Im Moment möchten die Leute lieber getrennte Wege gehen."
taz: Herr Nusseibeh, die Friedensgespräche zwischen Israel und den
Palästinensern stehen mal wieder auf der Kippe. Sehen Sie auf israelischer
Seite überhaupt noch einen Partner für den Frieden?
Sari Nusseibeh: Sie werden überrascht sein. Aber ich glaube, dass es auf
beiden Seiten eine grundsätzliche Bereitschaft zum Frieden gibt - allen
Extremisten zum Trotz.
Manche hofften, eine rechte Regierung wäre eher in der Lage, schmerzhafte
Kompromisse zu schließen. Danach sieht es im Moment aber nicht aus.
Nein, das stimmt. Israels Außenminister Lieberman hat vorgeschlagen, Gaza
an Ägypten zu geben und Teile der Westbank nach Jordanien. Aber das sind
nur Versuche, vor der Realität zu flüchten. Diese Realität ist, dass sich
Juden und Araber um das gleiche Stück Land streiten. Entweder teilen sie es
unter sich auf - das läuft auf eine Zweistaatenlösung hinaus -, oder sie
teilen sich die politischen Rechte in einem gemeinsamen Staat. Es gibt nur
diese beiden Möglichkeiten.
So zersiedelt, wie das Westjordanland heute ist: Läge ein gemeinsamer Staat
nicht näher?
Im Moment möchten die Leute lieber getrennte Wege gehen. Aber ich glaube,
dass sich das durchaus ändern kann - weil es auf beiden Seiten die
Bereitschaft gibt, auch in einem gemeinsamen Land zu leben.
Die jüdischen Siedler hätten sicher gern das ganze Land, aber ohne
Palästinenser …
Na klar. Und viele Palästinenser hätten auch gern das ganze Land, nur ohne
Juden.
Sie meinen die Hamas?
Die Hamas will Israel nicht anerkennen und die Waffen nicht niederlegen.
Sie glauben nicht an Verhandlungen und sind überzeugt, ihren Kampf noch
eine Weile führen zu können.
Auch nach dem desaströsen Gazakrieg?
Ja. Allein, dass sie dem Druck standhalten und ausharren, verbuchen sie
bereits als Erfolg für sich. Und Israel hat mit diesem Krieg ja auch nichts
erreicht.
Der gewaltsame Widerstand gegen Israel ist das Markenzeichen der Hamas.
Warum ist diese Idee unter Palästinensern noch immer populär?
Die Idee, politische Ziele gewaltsam durchzusetzen, ist auf der ganzen Welt
populär, auch in Europa, den USA und anderswo. Meiner Meinung nach führt
Gewalt aber zu gar nichts, wie man gerade am Nahostkonflikt sehen kann.
Denn obwohl Israel eine Nuklearmacht und all diese Flugzeuge und Panzer
besitzt, konnte es unseren Willen nicht brechen. Genauso wenig können wir
ihren Willen brechen.
Warum gibt es keinen palästinensischen Ghandi oder Martin Luther King?
Gewaltlosigkeit war immer ein Teil des palästinensischen Widerstands und
hat eine lange Tradition, die bis in die Zwanzigerjahre zurückgeht. Aber
neben diesem zivilen Widerstand haben Palästinenser immer auch zu den
Waffen gegriffen. Das hat den gewaltfreien Widerstand geschwächt. Denn
gewaltfreier Widerstand muss exklusiv sein: Man kann nicht in der einen
Hand eine weiße Fahne schwenken und mit der anderen Hand zur Waffe greifen.
Weshalb hat sich das Prinzip der Gewaltlosigkeit nie richtig durchgesetzt?
Gewaltlosigkeit funktioniert nicht in jeder Situation. Der berühmte
dreijährige Streik in den Zwanzigerjahren etwa war ein Desaster. In der
ersten Intifada dagegen ging diese Strategie auf. Erstens, weil es ein
klares Ziel gab: einen eigenen Staat und Unabhängigkeit von Israel. Und
zweitens herrschten die Israelis direkt über uns: Wir zahlten ihnen Steuern
und arbeiteten für sie, sie stellten uns Genehmigungen aus.
Heute ist die Situation eine andere: Wir zahlen unsere Steuern an die
Palästinensische Autonomiebehörde, die Israelis herrschen nur noch indirekt
über uns. Früher musste man sich nur weigern, seine Steuern zu zahlen oder
der Zivilverwaltung zu dienen. Aber als die Palästinenser im Jahr 2000
gegen Israel demonstrieren wollten, mussten sie aus Ramallah rausgehen bis
an die Straßensperren, wo sie mit den israelischen Soldaten
zusammenstießen.
Die Stadt Bil'in im Westjordanland wehrt sich seit Jahren dagegen, von
Israels Trennmauer durchschnitten zu werden. Ist das ein Vorbild für
gewaltfreien Widerstand?
Bil'in ist zu einer Art Mythos geworden. Aber die Proteste dort sind nicht
immer friedlich, und sie hatten bisher leider auch nur bescheidenen Erfolg.
Wo hat sich gewaltfreier Widerstand Ihrer Meinung nach bewährt?
In den israelischen Gefängnissen. Weil sie sich andere Mittel ausdenken
mussten, um ihre Ziele zu erreichen, sind viele Palästinenser in der Haft
zu Advokaten des gewaltfreien Widerstands geworden. Das hat zurückgewirkt
in die palästinensische Nationalbewegung.
Was war der größte Fehler, den die Palästinenser begangen haben? War es der
halbgare Friedensvertrag von Oslo? Oder die zweite Intifada mit ihren
Selbstmordattentaten?
Wir haben viele Fehler gemacht, einen nach dem anderen. Oslo gehört aber
meiner Meinung nach nicht dazu. Es war eine gute Sache, die PLO an den
Tisch zu bekommen. Die Fehler kamen später: dass wir, Israelis wie
Palästinenser, die Chance von Oslo nicht ergriffen haben. Dagegen habe ich
von Anfang gesagt, dass die Selbstmordattentate der Zweiten Intifada nicht
nur moralisch verwerflich, sondern auch ein schwerer politischer Fehler
waren. Ich konnte darin keine Vision und keinen Sinn erkennen. Und mir war
klar, dass Ariel Scharon die Gewalt nutzen würde, um seinen Sicherheitszaun
weit hinein in palästinensisches Gebiet zu errichten.
Haben Hamas und andere wirklich geglaubt, Israel damit in die Knie zwingen
zu können?
Die Leute, die diese Selbstmordattentäter geschickt haben, hofften
natürlich, dadurch an politischem Einfluss gewinnen zu können. Natürlich
ist es unmoralisch, so etwas zu tun. Aber wenn man sich im Krieg befindet
und das die einzige Waffe ist, die dir zur Verfügung steht, dann bleibt dir
keine große Wahl. Und ist das schlimmer als das Flächenbombardement, mit
dem die USA die Zivilbevölkerung in Vietnam und in anderen Orten der Welt
terrorisiert hat? Ich lehne jedenfalls beides ab.
Warum haben so wenig Palästinenser diese Attentate so offen kritisiert, wie
Sie das getan haben?
Als es mit diesen Selbstmordattentaten losging, habe ich sofort 30 bis 40
Meinungsführer und Politiker kontaktiert. Und alle von ihnen haben, ohne zu
zögern, ihren Namen unter einen offenen Brief gesetzt, der diese Attentate
verurteilt hat und in unseren Zeitungen veröffentlicht wurde. Wir haben uns
da nicht versteckt. Aber im Krieg ist es oft so, dass die Stimmen der
Vernunft übertönt werden.
Viele Palästinenser haben zu den blutigen Selbstmordattentaten geschwiegen.
Man könnte das auch als Zustimmung deuten.
Glauben Sie nicht, dass die Palästinenser so viel anders sind als die
Menschen hier in Europa. Wenn sich hier auf der Straße eine Gewalttat
ereignet, werden die einen wegsehen oder einen anderen Weg einschlagen.
Andere versuchen einzugreifen und die Gewalt zu stoppen. Menschen, die sich
in so einer Situation zurückziehen, müssen die Gewalt nicht
notwendigerweise gutheißen. Sie haben nur das Gefühl, dass es außerhalb
ihrer Macht steht, etwas dagegen zu tun. Schweigen ist auch ein Zeichen der
Resignation.
Die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland macht die Arbeit
für Israel, hält die Hamas in Schach, und der Westen finanziert sie dafür.
Wäre es nicht besser, die Autonomiebehörde aufzulösen?
Unsere Partnerschaft mit der internationalen Gemeinschaft dient dazu, die
Palästinenser für die kommenden Jahre so weit wie möglich vor weiterem
Siedlungsbau und weiterer Landnahme, vor extremistischer Gewalt oder gar
Vertreibungen zu schützen. Das muss unser Ziel sein.
Ein sehr defensives Ziel.
Ja, aber wir leben auch in einer sehr schwierigen Situation und sind sehr
verletzlich. Wenn wir nach Israel schauen, dann wächst dort der
Extremismus. Deshalb muss es unser Ziel sein, uns dagegen zu schützen.
28 Sep 2010
## AUTOREN
(DIR) Daniel Bax
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Kommentar Nahost-Konflikt: Vom Kosovo lernen
Die Palästinenser sollten jetzt, ohne Rücksicht auf Israel, einen eigenen
Staat ausrufen. Das ist die letzte Chance zur Lösung des Nahostkonflikts -
auch für Israel.
(DIR) Überfall im Westjordanland: Moschee in Brand gesetzt
Israelische Siedler haben nach palästinensischen Angaben im Westjordanland
eine Moschee in Brand gesetzt. Israels Armeesprecherin verurteilt die Tat.
(DIR) Nahost-Friedensprozess: Die Siedler bauen erst mal weiter
Palästinenserpräsident Abbas macht die Zukunft direkter Gespräche mit
Israel von Beratungen mit der Arabischen Liga abhängig. Und hofft auf eine
inoffizielle Einigung.
(DIR) Nahost-Friedensverhandlungen in Gefahr: Das Siedler-Spiel geht weiter
Die Gespräche zwischen Israelis und Palästinensern drohen zu platzen, da
Israel am Sonntag den Baustopp für die Siedlungen auslaufen ließ. Die USA
versuchen, ein Debakel zu verhindern.
(DIR) Jüdische Siedlungen: Die Arbeiter sind schon bestellt
Von den Siedlern ist das Ende des Baustopps heiß ersehnt worden. Ihr
Zuhause soll sich vergrößern. Zwei-Staaten-Lösungen finden sie gut - aber
bitte nicht im Westjordanland.
(DIR) Angriffe im Gazastreifen: Störfeuer gegen Nahostverhandlungen
Israelische Streitkräfte töten vier Menschen im Gazastreifen. Armee
konstatiert vermehrte Angriffe, um Verhandlungen zu torpedieren. Clinton
sieht Chance für Fortschritte.