# taz.de -- Europäische Flüchtlingspolitik: Bloß nicht zum Griechen
       
       > Die EU zwingt Griechenland die alleinige Verantwortung für zehntausende
       > Flüchtlinge auf. Das Land ist überfordert - und die humanitären Zustände
       > sind katastrophal.
       
 (IMG) Bild: Richter in Europa verbieten immer öfter Abschiebungen nach Athen.
       
       Die Richter entschieden einstimmig: "Dem Landkreis Gütersloh wird vorläufig
       untersagt, Said S. nach Griechenland abzuschieben." Ein knapper Satz. Doch
       die Konsequenzen dieses Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom
       September 2009 sind kaum überschaubar. Denn als das höchste deutsche
       Gericht dem heute 30-jährigen Iraki S. vorläufigen Schutz gewährte,
       signalisierte es grundsätzliche Zweifel an der Art und Weise, wie in Europa
       mit Asylbewerbern umgegangen wird. Diesen Donnerstag wird das Gericht
       darüber verhandeln, ob diese Zweifel begründet sind - und ob das zentrale
       Instrument des europäischen Asylsystems in Deutschland Bestand haben darf.
       
       Nach Griechenland sollte Said S. zurückkehren, weil dies das erste EU-Land
       war, in das er 2007 eingereist war - so wie über die Hälfte der 80.000
       Papierlosen, die zwischen Januar und August dieses Jahres Europa erreicht
       haben. Und gemäß der "Dublin II" genannten EU-Verordnung ist Griechenland
       allein für sie verantwortlich.
       
       Diese im Jahr 2003 von den großen EU-Staaten durchgesetzte Verordnung sieht
       vor, dass Asylanträge in jenem Land abgewickelt werden, über das
       Flüchtlinge in das Schengen-Gebiet einreisen. Diese Bestimmung führt dazu,
       dass sich Griechenland, dessen Bevölkerung nur 2 Prozent der EU ausmacht,
       um den größten Anteil aller ankommenden Flüchtlinge kümmern muss. Für die
       Staaten Zentraleuropas ist dies eine bequeme Lösung - für das bankrotte
       Griechenland eine unlösbare Aufgabe. Denn nachdem die EU-Grenzschutzagentur
       Frontex die Mittelmeerrouten nach Spanien und Italien abgesperrt hat, ist
       Griechenland die letzte offene Flanke des Schengen-Gebiets. Allerdings ist
       Griechenland weder willens noch fähig, die Flüchtlinge aufzunehmen.
       
       Und das ist mittlerweile bekannt. Immer öfter verbieten Gerichte in Europa
       deshalb Abschiebungen nach Athen. Allein in Deutschland untersagten
       Verwaltungsgerichte seit vorigem Jahr 300 solcher Abschiebungen.
       
       Seit dem Beschluss im Fall Said S. ergingen vor dem
       Bundesverfassungsgericht weitere zwölf vorläufige Entscheidungen. In den
       vergangenen Wochen stoppten auch Großbritannien, Belgien, Norwegen und die
       Niederlande Abschiebungen nach Griechenland. Denn dort erwartet die
       Flüchtlinge Hunger und Obdachlosigkeit - oder willkürliche Haft in
       menschenunwürdigen Internierungslagern.
       
       Das bekannteste davon war das Lager Pagani auf der ostägäischen Insel
       Lesbos. Vor einem Jahr war es Aktivisten der antirassistischen Organisation
       Welcome to Europe gelungen, eine Videokamera dort hineinzuschmuggeln. Die
       dann entstandenen Bilder von hunderten in der berstend vollen Halle
       eingesperrten meist jugendlichen Flüchtlingen gingen um die Welt.
       
       Nach dem Wahlsieg der sozialdemokratischen Pasok im Herbst 2009 besuchte
       der neue stellvertretende Innenminister Spyros Vouyia das Lager Pagani und
       fand es "schlimmer als Dantes Inferno". Doch erst als die zu jenem
       Zeitpunkt schon seit Wochen anhaltenden Revolten fortdauerten und die
       Gefangenen aus Verzweiflung Brände in ihren Zellen legten, schloss die
       Regierung das Lager vorläufig.
       
       Kürzlich besuchten Aktivisten von Welcome to Europa mit ehemaligen
       Gefangenen den heute leer stehenden Komplex. Unter ihnen ist der junge
       Afghane Aziz Sultani. Als er eine der Fabrikhallen aus grauem Beton
       betritt, geht er zielstrebig auf eines der Doppelstockbetten aus rostigem
       Metall zu. "Das war meins", sagt er. Wochenlang hat er darin geschlafen.
       Und damit hatte er noch Glück. "Wir haben es gezählt: An einem Tag waren
       254 Leute hier drin", sagt Sultani.
       
       Für sie gab es 39 Stockbetten aus Metall, darin dünne, zerschlissene
       Matratzen. In einer Ecke sind zwei mit Seitenblechen verdeckte Löcher im
       Boden, die Toiletten. Daneben eine kleine Zelle, die einzige Dusche. Jedem
       Gefangenen standen 2,5 Quadratmeter zur Verfügung - wegen der doppelten
       Zellengröße haben Häftlinge in Deutschland schon Schadenersatz zugesprochen
       bekommen. "Die Toiletten sind ständig übergelaufen, dann floss das Wasser
       über den Boden, auf dem die Menschen lagen, für die es keine Betten mehr
       gab", erzählt Sultani. "Es war unerträglich heiß, viele wurden krank.
       Niemand wusste, wie lange wir hier bleiben sollten und was danach mit uns
       passieren würde."
       
       Als die Zustände öffentlich wurden, sah sich die EU-Kommission genötigt,
       ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland zu eröffnen. Doch
       dieses noch fortlaufende Verfahren werten Aktivisten nur als Teilerfolg:
       "Es kommen noch genauso viele Flüchtlinge nach Griechenland, aber das
       Geschehen hat sich nach Norden verlagert, an die türkisch-griechische
       Landesgrenze", sagt der Münchner Migrationsforscher Bernd Kasparek, der zu
       den Sprechern von Welcome to Europe gehört.
       
       Jede Nacht versuchten dort hunderte Flüchtlinge, den Evros-Fluss zu
       überqueren. Mit ihnen geschehe das Gleiche wie bis vor Kurzem mit den
       Flüchtlingen auf Lesbos. "Die Lage in den Internierungslagern am Evros ist
       eine einzige Katastrophe", sagt auch Karl Kopp von Pro Asyl. "Die Leute
       müssen dort in Schichten schlafen, so voll sind die Zellen."
       
       Über 20.000 Papierlose wurden dort seit Januar aufgegriffen; immer wieder
       ertrinken Menschen im Evros. Im August entdeckten Aktivisten von Welcome to
       Europe in der Nähe der Ortschaft Sidiro ein Massengrab. Nach Hinweisen
       eines Gerichtsmediziners hatte sie der Mufti des Bezirks zu einem Acker
       geführt, auf dem unter anderen die Leichen von 16 Afghaninnen und Afghanen
       verscharrt waren, die Ende Juni im Evros ertrunken waren. Ein örtlicher
       Bestattungsunternehmer berichtete den Aktivisten, in den letzten Jahren
       "zwischen 150 und 200" ertrunkene Flüchtlinge anonym in dem Gebiet
       verscharrt und dafür Geld von der Regionalverwaltung erhalten zu haben.
       
       "Die Situation in Griechenland ist eine humanitäre Krise, die in der
       Europäischen Union nicht vorkommen sollte", sagt UN-Flüchtlingskommissar
       António Guterres. Er forderte Griechenland "eindringlich" dazu auf, seine
       Asylreform voranzutreiben. Solange dies nicht geschehen sei, sollten
       Asylsuchende nicht nach Griechenland zurückgeschickt werden. "Der Druck auf
       das Land, zumindest auf dem Papier funktionierende Strukturen zur
       Flüchtlingsaufnahme zu schaffen, ist riesengroß", sagt Kopp.
       
       Ende August legte der griechische Innenminister Giannis Ragousis der
       EU-Kommission ein Konzept für ein komplett neues Asylwesen und einen
       "nationalen Aktionsplan" für Migrationsmanagement vor. Das alte Asylsystem
       aus der Regierungszeit der konservativen Nea Dimokratia nannte die
       Regierung "grausam und ungerecht" und setzte es offiziell aus. Nun will man
       Kommissionen bilden, die sich um neue wie um die 46.000 seit Jahren
       anhängigen alten Asylanträge kümmern sollen.
       
       "Aber bis jetzt sind das alles nur Verlautbarungen", kritisiert
       Pro-Asyl-Sprecher Karl Kopp. "Noch immer hat das Land nichts, was ein
       effektiver Flüchtlingsschutz braucht: keine angemessenen offenen
       Aufnahmeeinrichtungen, keine soziale Infrastruktur, keine Rechtsberatung."
       So wie einst Aziz Sultani in Pagani werden Neuankömmlinge nach wie vor
       teils wochenlang in sogenannte Administrativhaft genommen.
       
       Während das neue Asylsystem nur auf dem Papier existiert, läuft die
       Aufrüstung der Grenzen auf Hochtouren. So gelang es Griechenland, die
       Türkei, die das Seegebiet lange Zeit nur halbherzig kontrolliert hatte, zur
       Zusammenarbeit zu bewegen. Seit dem Abkommen zur "Bekämpfung der illegalen
       Einwanderung", das der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und
       sein griechischer Amtskollege Giorgos Papandreou im Mai unterzeichneten,
       hat die Türkei ihre Gesetze gegen Schlepper verschärft und die Kontrollen
       der Künstenwache verstärkt. Und im September begann sie damit, erstmals
       Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. Im Laufe eines Jahres will die
       Türkei probeweise 1.000 Personen aufnehmen - und hat ihrerseits damit
       begonnen, abgeschobene Afghanen nach Kabul zu fliegen.
       
       Flüchtlinge berichten, dass sich seit der griechisch-türkischen
       Zusammenarbeit die Preise für die Seepassage im Vergleich zum Vorjahr
       versechsfacht haben. Die Schleuser gehen dazu über, es den Papierlosen
       selbst zu überlassen, die Boote zu steuern - was das Risiko, Schiffbruch zu
       erleiden, drastisch erhöht. In der Ägäis blieb all dies nicht ohne Wirkung:
       Während im Jahr 2009 noch 10.000 Papierlose nach Lesbos kamen, geht ihre
       Anzahl jetzt stark zurück. Im Juli griff die Polizei 160 auf, im August nur
       noch 100.
       
       "Angesichts des akuten Geldmangels ist es unwahrscheinlich, dass sich die
       Situation der Flüchtlinge in Griechenland verbessert", glaubt jedoch
       Migrationsforscher Kasparek. "Die neue Regierung hat mehrfach solche
       Absichtserklärungen abgegeben, tatsächlich hat sich die Lage aber weiter
       verschlechtert." Die neuen Pläne sollen "lediglich der EU und den Gerichten
       signalisieren, dass sich etwas bewegt".
       
       Ob die sich beeindrucken lassen, wird sich heute zeigen, wenn das
       Bundesverfassungsgericht im ersten Hauptsacheverfahren entscheiden will, ob
       ein irakischer Asylbewerber nach Griechenland zurückgeschickt werden darf.
       
       Aziz Sultani, der inzwischen auf Lesbos in einem offenen Heim für
       minderjährige Flüchtlinge lebt, hat kaum noch Hoffnung. Ohne Geld und
       Papiere kann er Griechenland nicht verlassen. Dass er hier jemals Asyl
       bekommt, glaubt er nicht mehr. "Ich kann nicht vor und nicht zurück."
       
       28 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christian Jakob
       
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