# taz.de -- Streit um Ostjerusalem: Ghawi im Krieg
       
       > Im arabischen Osten Jerusalems verlieren Palästinenser immer wieder ihre
       > Häuser an orthodoxe jüdische Siedler. Die Konflikte werden an Ort und
       > Stelle ausgetragen.
       
 (IMG) Bild: Die Auseinandersetzungen in Ostjerusalem eskalieren. Jüdisch-orthodoxen Siedlern wird vorgeworfen, palästinensischen Wohnraum zu übernehmen.
       
       Auf den ersten Blick wirkt alles friedlich. Ein paar Männer sitzen am
       Straßenrand um ein Feuer, das in einer rostigen Eisentonne brennt. Sie
       trinken schwarzen Tee aus Plastikbechern, rauchen, unterhalten sich leise.
       Arabische Sprachfetzen und ein leises Lachen wehen über die Straße. Ein
       schäbiges rotes Auto fährt die Straße entlang und hält vor dem Haus auf der
       gegenüberliegenden Seite der Straße.
       
       Mit einem Mal ist alles Lachen verschwunden, die Augen der Männer werden
       schmal. Einige stehen auf und machen ein paar Schritte in Richtung des
       Wagens. Zwei Männer und zwei Frauen steigen aus. Es sind orthodoxe Juden,
       die seit August des vergangenen Jahres in diesem Haus wohnen. Willkommen
       sind sie nicht.
       
       Scheich Dscharrah ist ein Stadtteil im arabischen Osten Jerusalems, der
       Hauptstadt Israels. In dem Viertel um die Othman-ben-Afan-Straße stehen 23
       Häuser, meist niedrige Flachbauten. Seit Jahrzehnten wohnen dort
       Palästinenser, aber seit einigen Jahren versuchen orthodoxe jüdische
       Siedler mit zweifelhaften Methoden, das Viertel zu übernehmen. Bei
       dreieinhalb Häusern haben sie es geschafft. Sie haben uns vertrieben, sagen
       die Palästinenser. Und sie fälschen dafür Dokumente. Wir holen zurück, was
       uns früher gehört hat, sagen die Siedler. Und unsere Dokumente sind echt.
       
       Die Familie Ghawi - insgesamt 37 Menschen, seit 1956 hier ansässig- hatte
       sich lange erfolgreich gegen die orthodoxen Siedler gewehrt. Seit 2002
       hatten diese versucht, das Haus der Ghawis zu übernehmen. Einmal schon war
       es ihnen für ein paar Monate gelungen und die Familie lebte auf der Straße.
       Einmal hat Nasir Ghawi zugeschlagen und eine Gruppe Siedler verjagt. Die
       Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie zum dritten Mal zu den Ghawis
       kamen. Das war im Sommer 2009 und noch etwa zehn Minuten bis zum
       Morgengebet.
       
       Lärm von der Straße weckte Nasir Ghawi. Er stand auf und ging zu der
       schweren Haustüre aus Eisen. Von der anderen Seite hörte er eine Stimme,
       die auf Hebräisch rief: "Nasir, ich weiß, dass du da bist. Geh ein paar
       Schritte zurück, wir sprengen jetzt die Türe auf!" Augenblicke später
       explodierten vier Sprengsätze, in jeder Ecke des Türrahmens einer, und die
       Eisentüre flog ins Haus. Eine Spezialeinheit der Polizei stürmte herein und
       nahm die Familie mit. Packen durften sie nichts, die Möbel landeten auf der
       Straße. "Ich konnte die Kleider mitnehmen, die ich anhatte, und meinen
       Gehstock", sagt Abdel Fatah Ghawi.
       
       Nasir ist sein jüngster Sohn. Während die Brüder sich Wohnungen in der
       Stadt nahmen, schlug der 47-Jährige ein Zelt auf, gegenüber von seinem
       einstigen Haus. Ghawi ist Drucker von Beruf, seine Druckerei liegt in Ram,
       einem Dorf kurz hinter dem israelischen Sperrwall. Wenn er einen guten
       Auftrag bekommt, fährt er dorthin und arbeitet. Sonst ist er hier. Immer.
       Seit August 2009.
       
       Dutzende Male, so erzählt er, griffen Siedler ihn und seine Familie seither
       an, schlugen auch seine Frau Maisoun und die fünf Kinder. Letzten Winter
       mietete er für sie eine kleine Wohnung. Er selbst schläft noch immer fast
       jede Nacht im Zelt.
       
       Vor dem Zelt brennt in einer rostigen Eisentonne ein Feuer. Ghawi sitzt auf
       einem weißen Plastikhocker und stochert mit einem Brecheisen in der Glut.
       "Ich will einfach mein Haus zurück. So lange werde ich jeden Tag hier
       sitzen", sagt er. In den zuckenden Schatten der Flammen scheinen die Falten
       in seinem Gesicht tiefer als sonst. In seinem dichten schwarzen Bart sind
       erste graue Haare zu sehen, ihm fehlt ein Schneidezahn. Ghawi spricht und
       bewegt sich langsamer als die Menschen um ihn herum. Vielleicht liegt es an
       dieser Ruhe, dass die Anderen ihm vertrauen und die Jungen ihn mit
       "Scheich" ansprechen. Aber die langsamen Bewegungen und sein gewaltiger
       Bauch täuschen. Ghawi hat den braunen Gürtel in Karate.
       
       Sie sitzen hier, Tag für Tag, Ghawi, sein Nachbar Salih Diab mit den
       traurigen Augen, der von den Behörden ein Schreiben bekam, dass er sein
       Haus räumen soll. Muhammad Sabagh, der müde ist von der ewigen Angst, Nabil
       al-Kurd, der so voll Wut ist, weil Siedler in einen Anbau seines Hauses
       zogen. Meistens schaut er weg, aber manchmal kann er das nicht.
       
       Er brüllt einen Siedler an, der durch das Gartentor tritt. Der Mann trägt
       eine ausgebeulte braune Fleecejacke und eine weiße Kippa, die religiöse
       Kopfbedeckung der Juden. Seine Schläfenlocken hängen ungekämmt vom Kopf.
       "Raus hier! Verschwinde!" Al-Kurds Stimme überschlägt sich, seine rechte
       Faust umklammert mit weißen Knöcheln einen Stock, den er immer wieder hebt.
       Er schlägt nie zu, aber spuckt seinem Feind ins Gesicht. Blass fummelt
       dieser mit zitternden Fingern ein Handy aus der Innentasche seiner Jacke.
       "Jetzt rufen sie wieder die Polizei", sagt Maisoun Ghawi. Die Palästinenser
       erzählen, das liefe jedes Mal gleich ab: Die Polizisten kommen, glauben den
       Siedlern alles und uns nichts, verhaften nie einen von denen, sondern immer
       einen von uns.
       
       Die Siedler wollen nicht reden, nur einer ist bereit zu sprechen.
       Bedingung: kein Name, kein Foto, kein Aufnahmegerät. Er ist mit seiner Frau
       zu Besuch hier in Scheich Dscharrah. Eigentlich wohnen sie in
       Westjerusalem, seit sie vor einigen Jahren aus Amerika auswanderten. "Nach
       dem, was ich über die Sache hier gelesen habe, lief alles korrekt ab. Die
       Juden haben die Häuser doch gekauft, in denen sie jetzt wohnen", sagt er.
       Dass Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben wurden und auf der Straße
       lebten, kann oder will er sich nicht vorstellen. "Das gibt es hier nicht.
       Wir haben doch Polizei, die würde den Menschen helfen", sagt er und wirkt
       dabei völlig ehrlich.
       
       Am oberen Ende der Othman-ben-Afan-Straße steht schon seit Stunden ein
       Polizeiauto. Nach Einbruch der Dunkelheit fährt es jede halbe Stunde die
       Straße hinunter und wieder hinauf. Blaulicht zuckt über die Häuserwände und
       das Zelt. "Wenn die Siedler uns nachts angreifen wollen, halten die
       Polizisten sie manchmal zurück. Aber manchmal lassen sie sie einfach
       gewähren", sagt Ghawi.
       
       Er steht ein paar Schritte vom Feuer und den anderen entfernt. Er will ein
       paar Dinge loswerden. "Die Vertreibung war das wichtigste Ereignis in
       meinem Leben. Als die Spezialeinheiten der Polizei meinen Sohn geschlagen
       haben …", er spricht nicht weiter, schaut in den Nachthimmel über
       Jerusalem. Ghawi hat seine Familie nicht beschützen können, er hat verloren
       gegen einen Gegner, gegen den er nie eine Chance hatte. Trotzdem kann er
       nicht einfach gehen, obwohl er Angst hat. "Eines Tages könnten die Siedler
       schießen, um meinen Kampf zu beenden. Ich liebe das Leben, aber wenn Gott
       es beenden will, dann ist es so", sagt er.
       
       Es klingt nicht, als wäre er mit seinem Gott ganz im Reinen. Ghawi ist im
       Krieg, und er ist bereit, Opfer zu bringen: Um das palästinensische Viertel
       zu bewahren, nimmt er es in Kauf, die Erziehung seiner Kinder zu
       vernachlässigen. "Das ist weniger wichtig, sagt er so leise, dass seine
       Frau und die Nachbarn ihn nicht hören können. Nach dem Essen verabschiedet
       sich einer nach dem anderen. Als es auf Mitternacht zugeht, sitzt nur noch
       der achtzehn Jahre alte Aiman am Feuer, brät Esskastanien und zieht alle
       Viertelstunde eine neue Rothmans aus der Zigarettenschachtel, um sich wach
       zu halten.
       
       Er ist ausgebildeter Grafikdesigner und hilft seinem Vater in der
       Druckerei, auf dem College lernt er Chefkoch und arbeitet in der
       Notaufnahme eines Krankenhauses als Rettungssanitäter. An manchen Tagen hat
       er kaum Zeit zum Essen, zum Schlafen erst recht nicht. Er erzählt von
       Männern, die, von mehreren Kugeln getroffen, unter den Händen seiner
       Kollegen sterben, und davon, dass er nach Irland darf, wenn am College die
       Noten stimmen.
       
       Kurz stockt sein Redefluss. Eine Siedlerin geht auf der anderen
       Straßenseite vorbei. Er steht auf, schaut ihr hinterher, ruft "Nutte!" mit
       seiner tiefsten Stimme, setzt sich wieder und erzählt weiter. Möchtest du
       weg aus Israel, Aiman? "Ich wäre dumm", sagt er, zieht an seiner Zigarette,
       schweigt, legt einen neuen Holzscheit ins Feuer, "wenn ich die Chance nicht
       nutze, wenn ich sie bekomme", vollendet er den Satz.
       
       Aiman blickt in die Flammen. Das Mobiltelefon in der Tasche seiner
       hellgrauen Trainingshose vibriert. Eine SMS vom Krankenhaus. "Ich soll so
       schnell wie möglich kommen", sagt er mit ruhiger Stimme und geht zu seinem
       Auto. Er hat seit achtzehn Stunden nicht geschlafen. Morgen wird er wieder
       hier sein.
       
       24 Nov 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Patrick Hemminger
       
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