# taz.de -- Kastensystem der Armen in Deutschland: Arm, ärmer, Langzeitarbeitsloser
       
       > Auch in den untersten sozialen Schichten gibt es eine subtile Hierarchie.
       > Die Hartz-IV-Verhandlungen haben mal wieder gezeigt, wie sehr die
       > Politiker dies ausspielen.
       
 (IMG) Bild: Wie wär's mal mit ner Pause? Oder rutscht man dadurch in der Hierarchie gleich eine Stufe tiefer?
       
       BERLIN taz | Ganz unten ist nicht ganz unten. Selbst für die sozialen
       Verlierer gilt noch eine subtile Hierarchie. Leiharbeiter sind besser als
       Hartz-IV-Empfänger, Niedriglöhner besser als Aufstocker - und arme Kinder
       laufen außer Konkurrenz.
       
       Wie die Gesellschaft ihre Armen schichtet, zeigte sich sehr deutlich an den
       Hartz-IV-Verhandlungen. An diesen Mammutsitzungen war nicht interessant,
       worum im Detail gestritten wurde - sondern worin sich alle Parteien
       unterschwellig so einig waren, dass darüber gar nicht geredet werden
       musste. So fanden es Regierung und Opposition offenbar nicht seltsam, dass
       sie monatelang diskutierten, ob der Hartz-IV-Regelsatz bei 364 oder 370
       Euro liegen soll.
       
       Diese Differenz ist so marginal, dass es fast schon teurer war, ganze
       Parteiapparate mit dieser Dauerdebatte zu beschäftigen. Aber um Effizienz
       ging es nicht. Stattdessen signalisierte der Streit um Bagatellbeträge,
       dass Regierung und Opposition eigentlich finden: Hartz-IV-Empfänger
       bekommen längst genug!
       
       Damit spiegeln die Parteien exakt die Meinung in der Bevölkerung wider. Wie
       der Soziologe Wilhelm Heitmeyer bei Umfragen 2009 ermittelte, meinen
       immerhin 57 Prozent der Bundesbürger, dass sich Langzeitarbeitslose "ein
       schönes Leben auf Kosten der Gesellschaft machen". Die Hartz-IV-Empfänger
       gelten also als Faulenzer, woraus zwingend folgt, dass ihr Alltag nicht
       noch schöner werden darf, indem man den Regelsatz erhöht.
       
       Die Verachtung für die Langzeitarbeitslosen ist alt - sonst wäre Hartz IV
       2005 nicht eingeführt worden. Die Mehrheit der Bürger weiß genau, dass ihr
       Risiko äußerst begrenzt ist, jemals in die Hartz-IV-Regionen abzurutschen.
       Lange arbeitslos sind vor allem Bildungsverlierer, Migranten und
       Ostdeutsche. Da fällt Verachtung leicht, wenn man mit einem soliden
       Berufsabschluss in Westdeutschland lebt.
       
       Bei den Leiharbeitern hingegen funktioniert dieser Generalverdacht des
       Müßiggangs nicht, denn wie der Name schon sagt, arbeiten sie ja
       offensichtlich. Ihre Armut wird daher eher als Skandal empfunden - was
       prompt die Gefechtslage bei den Verhandlungen zwischen Opposition und
       Regierung verändert hat. Hier schien man sich wirklich zu streiten, lagen
       die offiziellen Positionen weit auseinander. Die SPD forderte, dass die
       Leiharbeiter schon nach einem Monat den gleichen Lohn erhalten wie die
       Stammbelegschaft. Die FDP hingegen wollte erst nach neun Monaten dieses
       "Equal Pay" einführen.
       
       Bei diesem Schlachtgetümmel fiel kaum auf, wie lautlos sich die Union
       verhielt. Sie äußerte sich am liebsten gar nicht zum Thema Leiharbeit,
       lispelte etwas von Tarifautonomie, signalisierte vage
       Verhandlungsbereitschaft - und verwies ansonsten auf die FDP, die ja leider
       blockiere. Dieses Schweigen war bequem und taktisch angezeigt. Denn nicht
       die SPD ist die größte Arbeiterpartei in Deutschland, sondern die Union. Da
       muss man auf die Abstiegsängste bei den Niedriglöhnern Rücksicht nehmen,
       und sei es durch gezielte Unauffälligkeit.
       
       Genau besehen kann es sich nur die FDP - als rabiate Arbeitgeberpartei -
       leisten, die Rechte der Leiharbeiter lautstark zu ignorieren. Ansonsten
       aber herrscht Konsens bei Wählern und Parteien, dass nicht einzusehen ist,
       warum Leiharbeiter oft nur halb so viel verdienen wie die Stammbelegschaft.
       
       Anders als die Hartz-IV-Empfänger gehören die Leiharbeiter zu den
       "würdigen" Armen, die Solidarität einfordern dürfen. Die Unterscheidung
       zwischen "würdigen" und "unwürdigen" Armen stammt aus dem Mittelalter - und
       prägt bis heute. Unwürdig ist jeder, der angeblich selbst schuld ist an
       seinem Schicksal. Also die Bettler und Vaganten, wie sie früher genannt
       wurden; die Langzeitarbeitslosen, wie sie heute heißen. Würdig hingegen
       sind alle, die trotz Arbeit arm sind oder nicht arbeiten können:
       Ausgebeutete, Kranke, Mütter - und Kinder. Nicht umsonst hat Charles
       Dickens die viktorianische Industriegesellschaft Englands angeprangert,
       indem er "Oliver Twist" schrieb. Arme Kinder sind ein Skandalon.
       
       Darauf haben Regierung und Opposition erneut identisch reagiert: In den
       Hartz-IV-Verhandlungen wollten beide Seiten den symbolischen Sieg als
       oberste Kinder-Kümmerer einfahren. Materiell ging es nur um 790 Millionen,
       aber es wurde gefeilscht, als seien es Milliarden. Wenn das keine
       Wertschätzung ist.
       
       9 Feb 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Herrmann
       
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