# taz.de -- Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer: Rette sich, wer kann
       
       > Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer arbeitet seit 1982 an den Themen
       > Rechtsextremismus und sozialer Desintegration. Im März wird er den
       > Göttinger Friedenspreis erhalten.
       
 (IMG) Bild: Leitet an der Uni Bielefeld das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung: Soziologe Wilhelm Heitmeyer.
       
       "Biologen verwenden für Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur
       Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen - ihrer
       Wirte - leben, übereinstimmend die Bezeichnung ,Parasiten'."
       (Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, 2005, S. 10 )
       
       Obenstehendes Zitat aus der Sammlung von Herrn Heitmeyer stammt aus einer
       Broschüre des Bundesministeriums für Arbeit und Wirtschaft, unter der
       direkten Verantwortung des damaligen Bundesministers für Arbeit und
       Wirtschaft, Wolfgang Clement. Sie erschien 2005 mit einem Titel im
       Stürmerstil: "Vorrang für die Anständigen - Gegen Missbrauch, 'Abzocke' und
       Selbstbedienung im Sozialstaat".
       
       (BMWA 2005, S. 10.) Die Anzeigen gegen Clement wegen Volksverhetzung wurden
       von der Staatsanwaltschaft Berlin abgewiesen. Begründung: Zur
       Volksverhetzung fehle es an einem Angriff auf die Menschenwürde. Um solche
       Tendenzen geht es Herrn Heitmeyer auch in seiner Studie. Ich bitte ihn um
       eine Art Resümee.
       
       "Der Anfang des gesamten Projekts war eigentlich 1992, damals habe ich in
       der Zeitschrift Das Argument einen Artikel geschrieben mit dem Titel:
       ,Wider den schwärmerischen Antirassismus'. Und damit bin ich natürlich sehr
       in die Kritik geraten, grade auch von links.
       
       Ich habe dann den Aufsatz zur Seite gelegt und bin erst gegen 2000 wieder
       drangegangen und habe mir überlegt, wie bekommt man eigentlich
       gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit - wie ich es nenne - auf die Agenda?
       Das Vergessen und Verdrängen, die gesellschaftliche Selbstentlastung, ist
       doch sehr ausgeprägt.
       
       Dann habe ich einen Antrag formuliert und mir Kooperationspartner gesucht,
       habe einen Antrag bei der Volkswagenstiftung gestellt auf Fördermittel. Und
       so ist dann - auch mit der Unterstützung der Freudenberg-Stiftung - so nach
       und nach dieses Zehnjahresprojekt entstanden.
       
       ## Gruppengezogene Menschenfeindlichkeit
       
       Dadurch ist jetzt sozusagen ein Jahrzehnt ausgeleuchtet worden. Wir haben
       das Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit untersucht, in
       dessen Zentrum ja das, was wir die die Ideologie der Ungleichwertigkeit
       nennen, steht. Diese jährliche Erhebung war natürlich sehr anstrengend, und
       es ist mir auch schwergefallen, das ganze Jahrzehnt auf einen Nenner zu
       bringen.
       
       Ich habe mich dann auf diesen Terminus ,Das entsicherte Jahrzehnt'
       fokussiert. Wir nennen dafür Anhaltspunkte und wir unterscheiden zwischen
       Signalereignissen: der 11. September 2001 ist so ein Signalereignis, durch
       das eine Umstellung von ethnischen Kategorien wie Araber, Türken usf. auf
       eine religiöse Kategorie, nämlich Muslime, entstanden ist.
       
       Mit den ganzen deutlichen Folgen auch einer Islamfeindlichkeit als ein
       Element dieses Syndroms. Es gibt eine Homogenisierung, es wird nicht mehr
       differenziert zwischen einem brutalen, politischen Islam und dem ganz
       alltäglichen Verrichten von Glaubensdingen, Gebeten etc.
       
       Dann gibt es natürlich bei uns als Signalereignis die Situation von 2005,
       mit der Einführung von Hartz IV. Das hatte zur Folge, dass neben den
       unteren sozialen Lagen plötzlich auch die mittleren sozialen Lagen unter
       Druck gerieten. Dass sich auch in die die Angst einfräste, sozusagen. Und
       daraus entstanden dann auch wieder bestimmte Abwertungsmuster.
       
       Das dritte Signalereignis war die Finanzkrise 2008, die bei uns nur
       indirekt eine größere Bevölkerungsgruppe traf, nämlich diejenigen, die
       Aktien im Spiel hatten. Die eigentlichen Folgen der Finanzkrise aber waren
       die Wirtschaftskrise und die Arbeitsmarktkrise, mit den ganzen
       Unsicherheiten der zunehmend prekären Arbeitsverhältnisse.
       
       ## Die Angst des Mittelstands
       
       Und natürlich die Fiskalkrise, die sich besonders bei denen auswirkte, die
       von Transferleistungen leben müssen. Abstiegsängste plagten den Mittelstand
       schon seit der Einführung von Hartz IV, und sie sind nach der Finanzkrise
       von 2008 noch stärker geworden.
       
       Man muss aber sehen, dass es neben diesen Signalereignissen, deren
       Kennzeichen ja ist, dass darüber öffentlich debattiert wird, auch noch die
       schleichenden Prozesse gibt. Dazu gehört vor allem das, worüber nicht oder
       kaum diskutiert wird, zum Beispiel Demokratieentleerung.
       
       Diesen Begriff habe ich 2001 entwickelt - also noch vor der Analyse von
       Colin Crouch über ,Post-Democracy' von 2004 … Ach, den kennen Sie nicht …
       Ein Engländer, seine These ist, dass die Demokratie zwar in ihren Säulen
       erhalten bleibt, dass aber ihre innere Substanz sich verändert und
       schwindet.
       
       Wie ich sagte, das sind schleichende Prozesse, sie führen dazu, dass
       bestimmte Vertrauensmuster sich auflösen. Das führt dann auch leicht zu
       Einstellungsmustern wie Rechtspopulismus. Es führt dazu, dass Menschen sich
       aus dem System ausklinken und gar nicht mehr erreichbar sind, und das ist
       für eine Gesellschaft gefährlich.
       
       Diesen Rechtspopulismus, den messen wir mit vier Indikatoren: Als letztes
       dazugekommen ist die Islamfeindlichkeit, dann Fremdenfeindlichkeit,
       Antisemitismus, autoritäre Aggression. (Siehe dazu auch Adornos "F-Skala"
       zur autoritären Persönlichkeit. Anm. G. G.) Dieser schleichende Prozess
       wird meines Erachtens zu wenig thematisiert. Ein zweiter schleichender
       Prozess bezieht sich auf das, was wir Anomie nennen, eine Art von
       Orientierungslosigkeit.
       
       ## Stereotypen und Vorurteile
       
       Man weiß als Bürger eigentlich gar nicht mehr, wo man steht. Und daraus
       entwickelt sich die Einstellung, dass man sich - surrogathaft - festen
       Boden unter den Füßen besorgt. Dazu gehören auch Stereotypen und
       Vorurteile, mit denen man die Welt neu für sich ordnen kann, obwohl sie
       natürlich gar nicht zu ordnen ist, weil sich die Gesellschaft relativ
       richtungslos entwickelt.
       
       Und ein dritter schleichender Prozess, über den nun überhaupt nicht
       öffentlich gesprochen wird, ist die Ökonomisierung des Sozialen. Richard
       Sennett, ein amerikanischer Soziologe, hat sich damit beschäftigt. Bei
       dieser Ökonomisierung des Sozialen, da dringen Kategorien, die aus der
       Ökonomie kommen, wie Effizienz, Verwertbarkeit und Nützlichkeit, in die
       sozialen Verhältnisse ein.
       
       Und zwar in Institutionen, die überhaupt nicht danach beschaffen sein
       dürften: in die Familien, in soziale Gruppen, auch in Schulen etc. Wir
       haben seit einigen Jahren diese Einstellungsmuster untersucht und sehen,
       dass bestimmte Gruppen immer mehr in die Abwertung hineingeraten.
       
       Das sind diejenigen, die diesen Kriterien ,nicht genügen', also niedrig
       qualifizierte Zuwanderer, Langzeitarbeitslose, Behinderte und Obdachlose.
       Und diese ökonomistischen Einstellungen sind natürlich befeuert durch die
       Debatte um den Neoliberalismus.
       
       Man muss vielleicht noch sagen, dass diese Abwertungsmuster eng
       zusammenhängen damit, wie sich unsere Befragten auf einer sozialen
       Stufenleiter rein subjektiv zuordnen konnten: Unten. Mitte. Oben. Die, die
       sich oben einstuften, weisen ganz enge Zusammenhänge auf zu diesen
       Abwertungen, zur Missachtung und Diskriminierung von denen "da unten".
       
       ## Sloterdijk und der 'kleptomanische Staat'
       
       Und eine andere Entwicklung gibt es, die hat uns dann doch sehr irritiert,
       dass es nämlich gerade bei denjenigen, die tatsächlich zu den
       Besserverdienenden zählen, einen bemerkenswerten Anstieg in den Abwertungen
       gegeben hat, seit der Krise. Seit 2008, ja. Wie das weitergehen wird, das
       können wir nicht sagen, weil wir ja jetzt mit den Erhebungen aufhören, aber
       man muss sehr genau darauf achten.
       
       Und vor allem auch, weil ja Teile der Eliten diese Einstellungsmuster auch
       noch befördern und befeuern, weil sie die Themen setzen. Beispielsweise,
       wenn Sloterdijk von einem ,kleptomanischen Staat' spricht und zurück will
       zur ,Gnade der gebenden Hand', dann nimmt er denen, die von
       Transferleistungen leben müssen, ihre Würde. Ebenso macht es Sarrazin mit
       großem Erfolg, bei dem noch das ,Juden-Gen' und die Islamfeindlichkeit
       dazukommen.
       
       Das ,Juden-Gen' musste er zurücknehmen. Beim Antisemitismus wurde ja ein
       Tabu ausgesprochen, das in der Öffentlichkeit gilt, aber bei den anderen
       Diskriminierungen wurde es nicht ausgesprochen. Interessant ist seine
       Leserschaft. Sie meint, wenn die das alles schon so offen sagen, dann kann
       ich mir das auch erlauben.
       
       Und diese Leserschaft, die kommt ja nicht aus den unteren Soziallagen,
       sondern das ist so diese, ich nenne es: ,rohe Bürgerlichkeit'. Nicht zu
       verwechseln mit Bürgertum, das ist eine vollkommen andere Kategorie. Dieser
       rohen Bürgerlichkeit müssen wir unsere Aufmerksamkeit widmen. Es ist eine
       Bürgerlichkeit, die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den
       Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und
       Effizienz orientiert.
       
       Damit leugnet sie die Gleichwertigkeit von Menschen, macht ihre psychische
       und physische Integrität antastbar und führt zugleich einen Klassenkampf
       von oben. Sie ist sozusagen der Transmissionsriemen gegen diejenigen, die
       als Ausgegrenzte definiert werden.
       
       ## Rassismus
       
       Eine weitere Überraschung bei den Einstellungsmustern haben wir in Bezug
       auf die Geschlechterfrage erlebt. Dass nämlich - und das ist ein stabiles
       Ergebnis - bei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus Frauen höhere Werte haben
       als Männer. Es ist ein unliebsames Ergebnis, und wir dachten bei der ersten
       Erhebung immer noch, hoffentlich haben wir da keinen Fehler begangen. Aber
       es hat sich stets wiederholt.
       
       Und auch bei der Altersfrage, da gibt es einen wirklich sensiblen Punkt,
       dass wir es sozusagen mit einem ,schiefen U' zu tun haben, über das
       Altersspektrum. Zwar sind bei den Jungen solche Abwertungen schon sehr
       vorhanden, aber bei den Älteren, bei meiner Altersklasse über 60, da liegen
       die Abwertungen von schwachen Klassen noch deutlich höher!
       
       Das war überraschend. Aber die Gesellschaft reagiert ja erst dann, wenn
       sich diese Ideologien von Ungleichwertigkeit mit Gewalt verbinden, und die
       üben natürlich die Jungen aus. Die jungen Männer vor allem. Während sich um
       die Einstellungsmuster der Alten, die sie hinter ihren privaten Gardinen
       pflegen, im Freundeskreis oder in den Vereinen usw., kein Mensch kümmert.
       
       Dabei sind es ja gerade sie, die an der Reproduktion dieser
       Einstellungsmuster immer wieder beteiligt sind, als Großväter und
       Großmütter. So gesehen, ist es natürlich ein struktureller Fehler, mit den
       Interventionsprogrammen immer nur auf die Jugendlichen zu schielen.
       
       Man muss immer wieder sehen und sehr genau beachten, dass diese
       Einstellungsmuster einen gesellschaftlichen Vorrat bereitstellen, an dem
       dann auch rechtsextreme Gruppen andocken können. Und es ist ja auffallend,
       dass selbst die, die sich an den rechtsextremen politischen Rändern
       bewegen, nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern mitten in ihr leben, mit
       einem oft ganz kleinbürgerlichen Lebensentwurf.
       
       ## Gesellschaftlicher Ton hat sich massiv verändert
       
       Insofern ist es ja auch eine völlige Fehleinschätzung, wenn jetzt,
       anlässlich des Nationalsozialistischen Untergrunds, eine Abtrennung
       erfolgt. Sozusagen: Dort sind die Verbrecher - was sie zweifellos sind -,
       und ansonsten gibt es eine weitgehend intakte humane Gesellschaft. Das ist
       auch so eine gesellschaftliche Selbsttäuschung, die man stark kritisieren
       muss.
       
       Was wir über die Jahre hinweg ganz deutlich feststellen können, ist, dass
       sich der gesellschaftliche Ton massiv verändert hat. Ich habe Ihnen ja
       schon ein paar Beispiele gegeben. Diese Form von Rohheit, mit der wir es
       heute zu tun haben, gab es in den 90er Jahren noch nicht.
       
       Es hat ja auch die ganzen Probleme der gesellschaftlichen Integration oder
       Desintegration so noch nicht gegeben. Sie ist ein ganz zentrales Thema
       unserer Studie. Wir arbeiten mit dieser Theorie der sozialen
       Desintegration, die wir entwickelt haben, um herauszufinden, was für
       Menschen bedrohlich wird und wie sie darauf reagieren.
       
       Desintegration und Integration reservieren wir in unserem Konzept natürlich
       nicht für die Zugewanderten, sondern das gilt ebenso für Teile der
       Mehrheitsgesellschaft. Die sind ja auch nicht integriert, wenn man ein
       bestimmtes Integrationskonzept zugrunde legt, nämlich den Zugang zu den
       Funktionssystemen wie Arbeit, Bildung etc. und der daraus entspringenden
       sozialen Anerkennung - was für uns ein sehr wichtiger Punkt ist.
       
       Und wir stellen die Frage nach der politischen Partizipation; Kann ich an
       diesen wichtigen Kernnormen, wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness -
       kann ich da eigentlich mitdiskutieren? Habe ich da überhaupt eine eigene
       Stimme? Und wenn ich die nicht habe, dann scheine ich auch keinen Anspruch
       darauf zu haben und bin lediglich ein Bürger zweiter oder dritter Klasse.
       Also ich bin politisch völlig einflusslos, oder eben auch meine Gruppe.
       
       ## Negative Erfahrung gegen Schwächeren gelenkt
       
       Hier setzt dann wieder ein Abwertungsverhalten ein, denn es ist ja nicht
       so, dass man sich nun zusammentut und gegen die herrschenden Gruppen
       vorgeht, sondern die negative Erfahrung wird umgelenkt und gegen die noch
       Schwächeren in der Gesellschaft gekehrt.
       
       Auch, um sich von denen abzusetzen und sich zugleich aufzuwerten. Es ist
       zynisch, aber jede Gesellschaft braucht genau dazu ihre Randgruppen, denn
       mit solchen Randgruppen wird Politik gemacht, man signalisiert der
       Mehrheit: Passt auf, dass ihr da nicht hineinrutscht! Insofern werden
       Randgruppen auch immer wieder neu ,kreiert'."
       
       Ich möchte an dieser Stelle das Thema auch auf die bringen, die die
       Grundlagen dafür schaffen und geschaffen haben, mit Hartz IV, Zeitarbeit
       und dergleichen. Die Leute sind systematisch runtergestuft worden von den
       "Maßnehmern" durch eine Vielzahl von "Maßnahmen", auch rhetorisch
       runtergedrückt, auf ein erkennbar minderwertiges Niveau.
       
       Die Umbenennung der Arbeitslosen (das Wort bezeichnete noch den Verlust) in
       Hartz-IV-"Empfänger", die plötzlich etwas empfangen, worauf sie zuvor einen
       Anspruch hatten, die von "Leistungen" leben, ohne etwas dafür zu tun, die
       hatte System.
       
       Herr Heitmeyer nickt und sagt energisch: "Ja, das hat System. Es gibt
       eindeutige Zusammenhänge zwischen der Forderung an die sozial Schwachen,
       ihre kritische Lebenssituation selbst zu bewältigen, und ihrer Abwertung.
       Sehr deutlich zeigt das ja auch diese Broschüre vom
       Bundesarbeitsministerium, aus der ich Ihnen das ,Parasiten'-Zitat genannt
       habe.
       
       ## Rohe Bürgerlichkeit
       
       So etwas steht in einer offiziellen Broschüre eines Ministeriums. Infam,
       das fasst man nicht! Und diese Broschüre ist durch sehr viele Hände
       gegangen, durch sämtliche Redaktionen, und es gab nur ganz vereinzelte
       Reaktionen. Das sind natürlich solche Denkmuster, die gehören direkt zu
       dieser rohen Bürgerlichkeit, von der ich gesprochen habe.
       
       Und auch zu den Spaltungsversuchen. Und wer sind die direkten und
       indirekten Akteure dieser Spaltungsbewegung? Es sind die intellektuellen
       Diskursagenten und Wissenschaftler, insbesondere der
       wirtschaftswissenschaftlichen und politischen Eliten. Das muss einem schon
       Sorgen machen. Und das kam eben nicht plötzlich, sondern teilweise
       schleichend, in Begleitung der neoliberalen Diskurse.
       
       Aber das ist nur die eine Seite, auf der anderen Seite - es laufen da
       mehrere Sachen zusammen - haben wir es über die Zeit hinweg auch mit einer
       Kontrollverschiebung zu tun. Es gibt nämlich einen Kontrollgewinn des
       autoritären Kapitalismus.
       
       Und dem entspricht ein Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik. Und
       daraus resultieren dann natürlich auch diese Formen der
       Demokratieentleerung. Die Ökonomisierung des Sozialen. Sicher, es gibt
       natürlich auch hausgemachte Dinge, wie schon gesagt, aber auf der anderen
       Seite gibt es diesen rabiaten Wettbewerb, bei dem nicht mehr Firmen
       miteinander konkurrieren, sondern ganze Länder.
       
       Auch im Hinblick auf die Standorte von Firmen. Und das macht noch mal einen
       deutlichen Unterschied in der Frage der Veränderung von Politik. Und bei
       all dem muss man eben aufpassen, dass die soziale Spaltung, die soziale
       Ungleichheit, die wir inzwischen erreicht haben, sich nicht noch weiter
       entwickeln. Teil des Problems ist, dass die nationale Politik keinerlei
       Interesse daran zeigt.
       
       ## Due Ungleichheit zersetzt die Gesellschaft
       
       Im internationalen Vergleich ist deutlich zu sehen: Je größer die
       Einkommensungleichheit, die einseitige Verteilung des Reichtums, umso
       größer sind die sozialen Probleme. Wir Deutschen haben ja, laut OECD, die
       größten Zuwachsraten in der ungleichen Verteilung.
       
       Der entscheidende Punkt ist dabei ja, dass die Ungleichheit die
       Gesellschaft regelrecht zersetzt, dass der Prozess sich einschleicht und
       erst mal relativ unbemerkt verläuft, weil sich eben keine protestierenden
       Kollektive mehr bilden können und weil auch keiner mehr zuhört. Weil
       vielfach das Motto lautet: Rette sich, wer kann. Dadurch ist das Leben in
       bestimmten sozialen Gruppen auch permanent angstdurchsetzt und verätzt.
       
       Und das macht diese Ungleichheiten schon ziemlich gefährlich. Und es gibt
       etwas sehr Wichtiges, was ich bei sämtlichen Vorträgen deutlich mache - man
       muss sich hüten vor Normalisierung. Was in den 90er Jahren nicht denkbar
       war, ist heute ganz normal. Und was normal geworden ist, lässt sich nur
       noch schwer problematisieren.
       
       Zurück zur Studie. Es gibt in unseren Untersuchungen Ergebnisse zu den drei
       Kernnormen, die eine Gesellschaft auch zusammenhalten: Solidarität,
       Gerechtigkeit, Fairness im Umgang miteinander. Gerechtigkeit ist die Frage
       von Verteilung. Mit welchen Gerechtigkeitsvorstellungen operiert man? Da
       gibt es ja unterschiedliche: Leistungsgerechtigkeit,
       Verteilungsgerechtigkeit und Bedürfnisgerechtigkeit.
       
       Bedürfnisgerechtigkeit heißt, wer kann sich nicht selber helfen und wie
       kann man seinen Bedürfnissen gerecht werden. Und unsere Untersuchungen
       zeigen, dass ein großer Anteil sagt: In diesen Krisenzeiten können die
       Schwachen nicht mehr mit Solidarität rechnen.
       
       ## Nutzlose und Ineffiziente
       
       Oder eine ziemlich hohe Anzahl sagt: Das Postulat der Gerechtigkeit lässt
       sich in diesen Krisenzeiten nicht mehr realisieren. Und diejenigen, die in
       Lohn und Brot stehen, die plädieren natürlich besonders stark für
       Leistungsgerechtigkeit, weil sie sich selbst als Leistungsträger sehen. All
       die anderen sind gewissermaßen Abhängige. Sind Nutzlose und Ineffiziente.
       
       Es geht auch darum, zu betrachten, was mit der Armut passiert, auch mit der
       Altersarmut, die immer größer wird. Auch die unter den Migranten. Insofern
       ist auch hier die Frage der Verhärtung ein wichtiger Punkt." Ich möchte
       kurz auch Bezeichnungen einführen, die Herr Heitmeyer in seinen Texten
       gewählt hat, die mir angenehm auffielen, weil sie irgendwie zartfühlend
       sind und unabgenutzt. Begriffe wie: entsicherte und entkultivierte
       Bürgerlichkeit, Vereisung des sozialen Klimas, kalte Kalkulation gegenüber
       den "Nutzlosen", Renaturalisierung der Ungleichheit.
       
       Er räuspert sich und sagt: "Das hat einfach damit zu tun, wie sich Eliten
       äußern, also Leute, die den Zugang haben zu den Medien, die Vervielfältiger
       sind von bestimmten Dingen. Und wie das dann einsickert in die ,rohe
       Bürgerlichkeit' kann man ja sehen. Es gibt eine große Gleichgültigkeit
       gegenüber den Folgen.
       
       Es gibt so eine Art semantischen Klassenkampf von oben gegen ,die da
       unten'. Renaturalisierung meint, dass biologische Kriterien benutzt werden,
       dass man sprachlich damit Gruppen markiert, die dann nie mehr da
       rauskommen, weil sie bestimmte Kennzeichen tragen. Das kann die Hautfarbe
       betreffen, aber auch die Religion oder die Obdachlosigkeit.
       
       Und man will ,Säuberung' oder zumindest Aus- und Abgrenzung. Rassismus und
       die Abwertung von Obdachlosen sind zum Beispiel von 2010 auf 2011
       signifikant angestiegen. Ein ebenfalls ansteigender Trend lässt sich
       aktuell bei der Fremdenfeindlichkeit und bei der Abwertung von Behinderten
       beobachten. Und 35,4 Prozent der Befragten stimmten 2011 der Aussage zu:
       ,Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgängerzonen entfernt werden'.
       
       ## Spaltung der Gesellschaft
       
       40,1 Prozent bestätigen: ,Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und
       Roma in meiner Gegend aufhalten'. Und 44,2 Prozent sind sich sicher: ,Sinti
       und Roma neigen zur Kriminalität. Also, ich fasse am Schluss noch mal der
       Verständlichkeit halber zusammen: Die laufenden Prozesse der Umverteilung
       und ihre gesellschaftliche Zerstörungskraft nehmen stetig zu und führen zu
       einer immer größer werdenden Spaltung der Gesellschaft.
       
       Die oberen Einkommensgruppen nehmen diese Spaltung nur begrenzt wahr, sie
       sind im Gegenteil der Meinung, dass sie zu wenig vom Wachstum profitieren.
       Sie sind rasch bereit, die Hilfe und Solidarität für schwache Gruppen
       aufzukündigen. Sie werten zunehmend stärker ab. Die Studie macht deutlich,
       es existiert eine geballte Wucht rabiater Eliten und die Transmission
       sozialer Kälte durch eine rohe Bürgerlichkeit, die sich selbst in der
       Opferrolle sieht und deshalb immer neue Abwertungen gegen schwache Gruppen
       in Szene setzt.
       
       Und die Studie zeigt, wie stark Menschen aufgrund von ethnischen,
       kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des
       Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen mit
       solchen Mentalitäten konfrontiert und ihnen machtlos ausgeliefert sind. Die
       Opfergruppen sind mittlerweile wehrlos und nicht mobilisierungsfähig.
       
       Insgesamt ist eine ökonomische Durchdringung sozialer Verhältnisse
       empirisch belegbar. Sie geht Hand in Hand mit einem Anstieg von
       gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Seit 2008 haben sich die
       krisenhaften Entwicklungen zeitlich massiv verdichtet.
       
       Entsicherung, Richtungslosigkeit und Instabilität sind zur neuen Normalität
       geworden, die Nervosität scheint über alle sozialen Gruppen hinweg zu
       steigen. Wir erleben, wie sich ein neuer Standard etabliert: ,volatility',
       so die New York Times. Eine explosive Situation als Dauerzustand. Aus all
       dem resultiert vor allem eines: Die gewaltförmige Desintegration ist auch
       in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich."
       
       28 Feb 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Goettle
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Universität Göttingen
       
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 (DIR) Antisemitismus-Vorwürfe gegen Preisträger: Streit um Göttinger Friedenspreis
       
       Nach der Jury-Entscheidung, den Preis an den Verein „Jüdische Stimme für
       gerechten Frieden in Nahost“ zu vergeben, ziehen sich Stadt, Uni und
       Sparkasse zurück.
       
 (DIR) Hilde Schramm über ein schwieriges Erbe: Kontaminiertes Geld
       
       Versuch, zurückzugeben: Hilde Schramm, die Tochter von Hitlers
       Chefarchitekt Albert Speer, über ihr lebenslanges Engagement von AL bis zur
       Stiftung „Zurückgeben“.
       
 (DIR) KOMMENTAR ALTERSARMUT: Keine Antwort auf Altersarmut
       
       Als Antwort auf die wachsende Altersarmut taugt die neue Kombirente wenig.
       Besonders Frauen bringt es kaum etwas. Da bleibt Schwarz-Gelb eine Antwort
       schuldig.
       
 (DIR) Hartz IV für EU-Ausländer gestrichen: Allen soll es gleich schlecht gehen
       
       Mit einer neuen Anweisung hat ein Großteil der EU-Bürger keinen Anspruch
       auf Hartz IV mehr. Der Grund: Die Regierung will alle EU-Länder gleich
       behandeln.
       
 (DIR) 10-Jahres-Studie über "Deutsche Zustände": Gefahr von rechts bleibt
       
       Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer zieht Bilanz seiner Langzeitstudie
       "Deutsche Zustände". Fakt ist, das mit der Krise auch der Hass wächst.
       Dafür gibt es weniger Sexismus.
       
 (DIR) Kommentar Studie "Deutsche Zustände": Die halbe Aufklärung
       
       Es ist alarmierend, dass laut der Studie das untere Fünftel der
       Gesellschaft verachtet wird. Und dass jeder zweite Deutsche meint, unser
       Land sei überfremdet.
       
 (DIR) Demokratie auf dem Prüfstand: Vom Wutbürger zum Mutbürger
       
       Die diesjährigen Frankfurter Römerberggespräche standen unter dem Motto:
       "Gefällt mir nicht". Eine Suche nach den wahren Schuldigen der Krise.
       
 (DIR) Kastensystem der Armen in Deutschland: Arm, ärmer, Langzeitarbeitsloser
       
       Auch in den untersten sozialen Schichten gibt es eine subtile Hierarchie.
       Die Hartz-IV-Verhandlungen haben mal wieder gezeigt, wie sehr die Politiker
       dies ausspielen.