# taz.de -- Prozess gegen mutmaßlichen Nazitäter: Das Gebot der Gerechtigkeit
       
       > Erstmals wird in Deutschland über einen ausländischen Helfer der Nazis
       > geurteilt. Das Verfahren gegen John Demjanjuk war ein Muster an
       > Rechtsstaatlichkeit.
       
 (IMG) Bild: John "Iwan" Demjanjuk kommt in einem Rollstuhl sitzend im Landgericht in München zu seiner Verhandlung.
       
       BERLIN taz | "Er ist es, er ist es!" Mit erregter Stimme zeigt der Zeuge
       auf den Angeklagten. Pinchas Eppstein will in John Demjanjuk "Iwan den
       Schrecklichen" wiedererkannt haben. Den Mann, der im Vernichtungslager
       Treblinka die Gaskammern bediente, Frauen die Brüste abschnitt, Babys zur
       eigenen Belustigung umbrachte. Zahlreiche der 500 Zuschauer im umgebauten
       Kultursaal in Jerusalem applaudieren.
       
       Nicht nur Eppstein, auch weitere Holocaust-Überlebende glauben in dem
       damals 66-jährigen Demjanjuk (SS-Personalnummer 1393) den Mann zu erkennen,
       der wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk auf der Anklagebank sitzt.
       
       Es sind diese Aussagen, die nach einem mehr als einem Jahr währenden
       Prozess den Ausschlag für das Urteil geben: den Tod. Der Gutachter Wolfgang
       Scheffler bescheinigt den Israelis, "einen in jeder Hinsicht fairen
       Prozess" geführt zu haben. Der inzwischen verstorbene renommierte
       Historiker ist sich sicher, dass Demjanjuk identisch mit "Iwan dem
       Schrecklichen" ist.
       
       Für andere Beobachter bleibt eine "Banalität des Zweifels", wie es der
       Journalist Tom Segev nennt. Ist Demjanjuk die Bestie von Treblinka?
       
       Er ist es nicht. Während des drei Jahre währenden Berufungsverfahrens
       treibt die Verteidigung neue Dokumente aus der untergehenden Sowjetunion
       auf. Demnach war es nicht Demjanjuk, sondern ein Iwan Matschenko,
       SS-Personalnummer 476, der in Treblinka am Mord an 870.000 Juden beteiligt
       gewesen war.
       
       Dieser Matschenko aber soll bereits vor Kriegsende verstorben sein. Die
       Zeugen haben sich offenbar geirrt. Das Oberste Gericht Israels entscheidet
       1993 folgerichtig: Im Zweifel für den Angeklagten. Freispruch. John
       Demjanjuk verlässt die Todeszelle und fliegt an Bord eines El-Al-Jumbos in
       der Business-Class bei koscherem geräucherterem Fisch zurück in die Heimat:
       die Vereinigten Staaten.
       
       In diesen Tagen endet der zweite Prozess gegen Demjanjuk. Der mittlerweile
       91 Jahre alte Mann ist vor dem Münchner Landgericht der Beihilfe zum Mord
       in mindestens 27.900 Fällen angeklagt. Es geht nicht um Treblinka;
       Demjanjuk soll im Vernichtungslager Sobibor an der Tötung von Juden
       beteiligt gewesen sein.
       
       Seit seiner Abschiebung aus den USA im Mai 2009 sitzt der gebürtige
       Ukrainer in der Krankenabteilung des Gefängnisses München-Stadelheim ein.
       Er teilt seine mit Eisenbett, Stuhl, Tisch, Waschbecken und abgetrennter
       Toilette ausgestattete Zelle mit einem Mithäftling und vermittelt vor
       Gericht den Eindruck eines Todkranken.
       
       Doch in Momenten, in denen er sich unbeobachtet glaubt, macht er einen
       erstaunlich munteren Eindruck. In seiner Zelle bereitet er sich gern sein
       Lieblingsessen zu: Salat mit Weißbrot.
       
       ## Historisches Lehrstück
       
       Mit dem Urteil wird ein historisches Lehrstück enden. Historisch nicht nur
       in dem Sinne, dass erstmals in Deutschland über einen der zahlreichen
       ausländischen Helfer der Nazis bei der Judenvernichtung geurteilt wird,
       sondern auch, weil damit ein Verfahren endet, das völlig verkorkst begonnen
       hat.
       
       Ob Demjanjuk tatsächlich der Beihilfe zum Mord schuldig ist, muss das
       Gericht entscheiden. Doch welches Urteil auch fällt: Der Münchner Prozess
       war ein Muster an Rechtsstaatlichkeit - so wie die Vorgeschichte ein
       einziges Desaster gewesen ist.
       
       Es tut dabei nichts zur Sache, dass Demjanjuk seit Jahrzehnten im Visier
       der Strafverfolger steht, dass ihm anfänglich mit der falschen Begründung
       die US-Staatsbürgerschaft entzogen wurde und dass er über Jahre hinweg,
       wiewohl unschuldig, in einer israelischen Todeszelle sitzen musste.
       
       Das wird teilweise im Urteil von Richter Ralph Alt zu berücksichtigen sein.
       Die Anklage fordert eine Haftstrafe von sechs Jahren.
       
       Eineinhalb Jahre und über 90 Verhandlungstage hat das Münchner Verfahren
       gedauert, gedehnt von der Verlesung von Dokumenten, hunderten
       Beweisanträgen des Verteidigers Busch und der Entscheidung des Gerichts,
       dass gegen Demjanjuk wegen dessen Kränklichkeit nur zweimal 90 Minuten am
       Tag zu Gericht gesessen werden darf.
       
       Doch die Ermittlungen gegen ihn beginnen vor rekordverdächtigen 36 Jahren.
       1975 übermittelt die UdSSR US-Senatoren eine Liste mit den Namen von 70
       angeblichen Nazitätern, die nach dem Krieg in den USA Unterschlupf gefunden
       hätten. Darunter John Demjanjuk aus Seven Hills, Ohio, von Beruf
       Automechaniker.
       
       Der Ukrainer hatte 1952 in seinem Einwanderungsantrag behauptet, von 1937
       bis 1943 in Polen gelebt zu haben, in einem Dorf namens Sobibor.
       
       In Washington beginnt das Office of Special Invesigation (OSI) mit seinen
       Ermittlungen. Die Behörde ist bis heute mit der Aufgabe betraut, nach
       Naziverbrechern zu suchen, die sich nach dem Krieg die
       US-Staatsbürgerschaft erschlichen haben.
       
       Ihre Möglichkeiten sind freilich begrenzt, denn in den Vereinigten Staaten
       selbst kann nur angeklagt werden, wer dort eine Straftat begangen hat oder
       wenn US-Bürger zu den Geschädigten zählen. Beides ist bei Nazitätern in
       aller Regel nicht der Fall.
       
       Was das OSI aber kann, ist, dafür zu sorgen, den Beschuldigten die
       US-Staatsbürgerschaft zu entziehen und sie abzuschieben - wenn sich denn
       ein Land findet, das zur Aufnahme bereit ist.
       
       ## SS-Ausweis 1393
       
       1977 taucht erstmals, noch als Kopie, der SS-Ausweis von Iwan Demjanjuk mit
       der Nummer 1393 auf. Daraus geht hervor, dass dieser von März bis September
       1943 im Vernichtungslager Sobibor und später im bayerischen KZ Flossenbürg
       als "hilfswilliger" Wächter eingesetzt war.
       
       Von Treblinka ist darin keine Rede. Und doch melden sich in Israel fünf
       Zeugen, die in dem ukrainischen Traktoristen, geboren am 3. April 1920 in
       dem Dorf Dubowije Machrinzik, "Iwan den Schrecklichen" aus Treblinka zu
       erkennen glauben.
       
       Nun begehen die Nazijäger in Washington den entscheidenden Fehler. Sie
       erkennen Demjanjuk nicht nur die US-Staatsbürgerschaft ab. Zudem liefern
       sie ihn 1986 unter dem Vorwurf, der Mörder von Treblinka gewesen zu sein,
       nach Israel aus, wo im Folgejahr ein Prozess unter falschen Vorzeichen
       beginnt.
       
       Denn die israelische Justiz lässt die Vorwürfe im Zusammenhang mit Sobibor
       fallen und konzentriert sich einzig auf Treblinka - eine nicht ganz
       unverständliche Entscheidung, denn für Sobibor finden sich bis heute keine
       Holocaust-Überlebenden, die Demjanjuks Einsatz beschreiben oder auch nur
       bestätigen könnten.
       
       ## Verhängnisvolle Entscheidung
       
       Die Entscheidung ist dennoch verhängnisvoll. Denn nach dem Freispruch in
       der Berufung fehlt den israelischen Justizbehörden die Möglichkeit,
       Demjanjuk wegen dessen Taten in Sobibor anzuklagen, war das
       Auslieferungsverfahren mit den USA doch einzig unter dem Gesichtspunkt
       Treblinka geführt worden.
       
       Und deshalb kehrt John Demjanjuk, mutmaßlicher Wachmann in Sobibor, 1993
       als freier Mann aus Israel zurück nach Ohio zu seiner Familie und in sein
       Einfamilienhaus. "Es war ein Fehler, alles auf die Karte Treblinka zu
       setzten", schreibt Tom Segev im gleichen Jahr.
       
       Es bedarf eines einzigen wachen Ermittlers in der Zentralen Stelle der
       Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen
       in Ludwigsburg, um die Causa Demjanjuk in rechtsstaatliche Bahnen zu
       lenken.
       
       Dieser Mann heißt Thomas Walther. Im Jahre 2001 will der US-Bundesstaat
       Ohio Demjanjuk seine wiedergewonnene US-Staatsbürgerschaft aberkennen, um
       ihn in die Ukraine abschieben zu können. Die Angelegenheit zieht sich hin.
       Die Ukraine bekundet kein Interesse an der Aufnahme eines mutmaßlichen
       Naziverbrechers.
       
       Walther stößt im Internet auf das Verfahren und macht sich Gedanken, ob für
       diesen Fall nicht die deutsche Strafjustiz zuständig sein könnte. Am 12.
       Mai 2009 schließlich schwebt John Demjanjuk an Bord eines Privatflugzeugs
       auf dem Münchner Flughafen ein und wird festgenommen - nun endlich wegen
       seiner Taten in Sobibor. Seine erste Mahlzeit im Gefängnis: Leberkäse mit
       Kartoffelbrei.
       
       Seitdem sind fast genau zwei Jahre vergangen. Staatsanwalt Hans-Joachim
       Lutz hat die Anklage verlesen, die Demjanuk Beihilfe zum Mord an mindestens
       27.900 Menschen vorwirft. Verteidiger Ulrich Busch hat sich bemüht, die
       Unschuld seines Mandaten zu beweisen, und ist dabei bisweilen erheblich
       über sein Ziel hinausgeschossen.
       
       Gutachter haben zum Vernichtungslager Sobibor und zur Funktion der
       ausländischen Wachmänner ausgesagt. Sie haben sich zur Frage der Echtheit
       des SS-Ausweises Nummer 1393 geäußert und gesagt, dieser sei keine
       Fälschung.
       
       Der Vorsitzende Richter Ralph Alt hat eine Unzahl Protokolle verlesen. Lutz
       hat auf eine Haftstrafe von sechs Jahren plädiert. Die über 30 Nebenkläger,
       darunter wenige Überlebende von Sobibor und einige Verwandte der
       Ermordeten, haben Zeugnis abgelegt und in ihren Schlussanträgen auf
       "schuldig" plädiert.
       
       Busch hat auf Freispruch plädiert und eine Revision angekündigt. Nur der
       angeklagte John Demjanjuk hat kein einziges Wort gesagt. Meistens lag er
       dämmernd und scheinbar dem Tode nah auf seiner Liege.
       
       Es hat in diesem Prozess keinen größeren Zwischenfall gegeben. Ein
       ukrainischer Wachmann war Neonazis offenbar nicht Grund genug zum Pöbeln.
       
       ## Stumm wie ein Fisch
       
       Die Nebenkläger, die nun wirklich jeden Grund dazu hätten, mit Emotionen
       überbordend, aber dem Verfahren nicht angemessen Demjanjuk anzuklagen,
       haben sich mit bemerkenswerter Sachlichkeit und doch furchtbarer
       Eindringlichkeit geäußert. So wie der Niederländer Robert Wurms, der im
       März 2011 verstorben ist: "Für den Mord an zwei Mädchen, noch Kinder, mit
       ihren Träumen über und ihren Erwartungen an das Leben, das, wie sie
       dachten, noch vor ihnen lag, für den Mord an meinen Schwestern und meinen
       anderen Verwandten, für den Mord an so vielen anderen, beantrage ich die
       Verurteilung des Angeklagten."
       
       Viele der Nebenkläger verzichteten wie Wurms darauf, ein konkretes Strafmaß
       zu verlangen. Sie wollten keine Rache, sondern Gerechtigkeit und Erinnerung
       an ein Vernichtungslager, das bis heute in der Öffentlichkeit kaum bekannt
       ist.
       
       Der Anwalt Hardy Langer sagte, dem Angeklagten zugewandt: "Sehen Sie den
       Nebenklägern in die Augen und berichten Sie detailliert, was Sie bewogen
       hat, in Sobibor Dienst zu tun. Zeigen Sie Ihr Gewissen und brechen Sie Ihr
       Schweigen."
       
       Doch Demjanjuk blieb stumm wie ein Fisch.
       
       Während des Verfahrens ist häufig die Frage gestellt worden, was es denn
       für einen Sinn haben sollte, einem 91 Jahre alten Greis 66 Jahre nach
       Kriegsende den Prozess zu machen.
       
       Dazu hat der Vertreter der Nebenkläger Cornelius Nestler in seinem Plädoyer
       das Notwendige gesagt: "Das Verfahren gegen Demjanjuk ist nicht nur eine
       Forderung der Gerechtigkeit gegenüber denen, die als nächste Angehörige der
       ermordeten Opfer oder als Überlebende unter seinen Taten bis in ihr zum
       Teil hohes Alter gelitten haben und leiden, den Nebenklägern.
       
       Das Verfahren ist auch ein Gebot der Gerechtigkeit für eine Gesellschaft,
       die sich ihrer Grundwerte gerade dadurch versichert, dass bei Verbrechen
       gegen die Menschlichkeit Verantwortlichkeit nicht etwas ist, das sich mit
       Zeitablauf erledigt."
       
       Das Urteil wird Donnerstag erwartet.
       
       11 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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 (DIR) Kommentar Demjanjuk-Prozess: Recht und Rechtsempfinden
       
       Auch 66 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Prozesse gegen
       Nazi-Verbrecher gerechtfertigt. Angesichts der Monstrosität der Taten sind
       diese Verfahren niemals zu spät.
       
 (DIR) Entscheidung im Demjanjuk-Prozess: Freiheit trotz Schuldspruch
       
       John Demjanjuk wurde der tausendfachen Beihilfe zum Mord für schuldig
       befunden. Trotzdem ist er ein freier Mann, denn er ist zu alt. Das Urteil
       könnte Folgen haben.
       
 (DIR) Der Demjanjuk-Prozess: Das SS-Lager Trawniki
       
       In dem SS-Lager südlich von Lublin wurden rund 5.000 Männer zu Handlangern
       des Todes ausgebildet. Die "Trawnikis" erledigten für die Deutschen die
       Drecksarbeit.
       
 (DIR) Der Demjanjuk-Prozess: Das Vernichtungslager Sobibor
       
       Das Lager Sobibor in Polen gehörte zu Heinrich Himmlers
       Vernichtungsprogramm "Aktion Reinhardt". In Sobibor wurden etwa 250.000
       Juden ermordet.
       
 (DIR) Zweiter Weltkrieg: Die Erinnerung droht zu erlöschen
       
       Der Verband deutscher Widerstandskämpfer gegen Nazideutschland löst sich
       auf. Seine Mitglieder sterben - oder vergessen. Zwei frühere Emigranten
       erzählen von ihrer Vergangenheit im Exil.
       
 (DIR) Prozess um mutmaßlichen Kriegsverbrecher: Freispruch für John Demjanjuk verlangt
       
       Der Verteidiger plädiert im NS-Verfahren wegen Beihilfe zum Mord auf
       Freispruch: Der Angeklagte sei unschuldig und nie im Vernichtungslager
       Sobibor gewesen.
       
 (DIR) Plädoyers im Kriegsverbrecherprozess: Demjanjuk "muss bestraft werden"
       
       Sechs Jahre Haft. Das fordert die Staatsanwaltschaft im Verfahren gegen den
       mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher John Demjanjuk. Doch das Gericht hat ein
       Problem.
       
 (DIR) Nazi-Prozess in München: Demjanjuk droht mit Streik
       
       Im Verfahren wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Sobibor setzt die
       Verteidigung auf Verschleppung durch neue Beweisanträge. Die Plädoyers
       verzögern sich.