# taz.de -- Debatte Nahost: Syriens ruhigste Provinz
> Die Revolte in Syrien lässt den Libanon wie im Schock erstarren. Der
> Schatten des Assad-Regimes liegt schwer über dem Nachbarland.
Das Schweigen ist erschreckend. Zwar leben Hunderttausende Syrer im
Libanon: Arbeiter aus den Unruheprovinzen Idlib, Dair az-Zaur oder Deraa,
Studenten und auch Oppositionelle. Aber sie haben keine Stimme oder wagen
es kaum, sich in der Öffentlichkeit zu äußern. Solidaritätsaktionen von
libanesischen Aktivisten für die Opfer der Proteste im Nachbarland sind rar
gesät und schwach besucht. Kleine Demonstrationen von syrischen Arbeitern
in Beirut oder im Süden des Landes wurden von einer Überzahl an
Assad-Anhängern niedergeschrien und auseinandergetrieben.
Nur mit Mühe gelang es Kritikern des syrischen Regimes, in Beirut einen Ort
zu finden, um eine Veranstaltung durchzuführen: Hotelbesitzer waren zuvor
von libanesischen Parteien eingeschüchtert worden. In den libanesischen
Medien werden solche Vorkommnisse in Randspalten abgehandelt: Die
öffentliche Meinung schert sich nicht groß darum. Von der allgemeinen
Begeisterung und Solidarität, welcher der ägyptischen Revolution Anfang des
Jahres im Libanon entgegenschlug, können die Aufständischen in Syrien nur
träumen.
Oft wird die offizielle syrische Position sogar gleich ganz übernommen.
"Assads Reformen bekommen eindruckvolle Unterstützung des Volkes" titelte
etwa die libanesische Tageszeitung as-Safir zwei Tage nach der letzten Rede
des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Darunter war das Foto einer
Menschenmenge zu sehen, die auf einem zentralen Platz in Damaskus für den
Präsidenten demonstriert hat. Passend dazu schrieb der Chefredakteur Talal
Salman in seiner Kolumne, die Syrer seien nun beruhigt, weil ihre Botschaft
den Präsidenten erreicht habe, und lobte die vagen Reformschritte Assads.
## Assads Sprachrohre in Beirut
Viele libanesische Medien tun sich schwer mit der Berichterstattung über
das Nachbarland. Bei einigen sind die Gründe klar: Der Fernsehsender
al-Manar, das Sprachrohr der Hisbollah, übernimmt die offizielle syrische
Lesart der Ereignisse. Andere, wie as-Safir, bewegen sich im Zickzack:
Einen Tag sprechen sie sich für Assad aus, an einem anderen Tag darf es
etwas kritischer sein. Sogar in der syrienkritischen Zeitung al-Mustaqbal
herrscht Zurückhaltung. Ein Redakteur der wöchentlichen Kulturbeilage
berichtet von großer Angst vor eventuellen Racheakten prosyrischer Kräfte.
Viele Syrer haben in den letzten Wochen ihre Angst abgelegt und sind auf
die Straße gegangen. Bei den Libanesen aber herrscht Apathie. Warum? Der
libanesische Journalist Hazim al-Amin meint, dass ungefähr die Hälfte
seiner Landesleute das politische System in Syrien als Vorbild betrachten
würde; die andere Hälfte habe das System der Angst und der Unterwerfung aus
dem Nachbarland verinnerlicht. Aber im Gegensatz zu den Syrern, die daran
arbeiten würden, sich dieses Systems zu entledigen, hätten die Libanesen
diese Tatsache noch nicht einmal erkannt, denn sie widerspricht ihrem
Selbstbild.
## Selbstbild und Wirklichkeit
Viele Libanesen beschreiben ihr Land gerne als relativ frei, demokratisch
und mit einer pluralistischen Presselandschaft gesegnet. Sie sind stolz
darauf, dass sie die israelische Armee zum Abzug aus dem Südlibanon
gezwungen haben. Umso auffälliger jetzt das lautstarke Schweigen, dass dem
Libanon wenig schmeichelhafte Kommentare eingebracht. Der Zedernstaat sei
momentan wohl Syriens ruhigste und stabilste Provinz, ätzen Kritiker.
Andere werfen der neuen libanesischen Regierung vor, sie sei nichts weiter
als die Verlängerung der riesigen syrischen Fahne, die Anhänger des Regimes
in Damaskus kürzlich entrollt haben.
Niemand schert sich darum, wie eng die Sicherheitskräfte beider Länder
verflochten sind. Und als vor einigen Monaten ein schiitischer Scheich, der
die Hisbollah kritisch sieht, bei der Einreise nach Syrien verhaftet wurde,
war das öffentliche Interesse für diesen Fall gering. Und kein syrischer
Deserteur, der im Zedernstaat Zuflucht sucht, kann heute sicher sein, dass
er nicht abgeschoben wird.
Man kann viele Gründe für diese Situation anführen. Seit der Libanon zum
Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem gemeinsamen französischen Mandatsgebiet
mit Syrien hervorging, ist das Verhältnis zum großen Nachbarn ambivalent.
Es gibt enge familiäre Verbindungen und Verflechtungen religiöser
Institutionen, die wirtschaftlichen Beziehungen sind überlebenswichtig.
Andererseits gibt es auch eine lange Geschichte von Einmischung, Allianzen,
Kontrolle und Fremdbestimmung durch den großen Bruder. Syrische Truppen
nahmen im libanesischen Bürgerkrieg aktiv Partei und gingen wechselnde
Allianzen ein. Danach folgten die langen Jahre der Besatzung, ebenfalls im
Bündnis mit einheimischen Kräften.
## Ein "libanesischer Frühling"?
Nach der Ermordung des Präsidenten Rafik Hariri im Februar 2005 gingen
Tausende auf die Straße und erzwangen den Abzug der syrischen Truppen aus
ihrem Land. Diese "Zedernrevolution" war ein Vorbote des arabischen
Frühlings - doch sie ist längst auf dem Rückzug. Nicht nur Syriens
Verbündete - die "Bewegung des 8. März" aus Hisbollah, der christlichen
"Freien Patriotischen Bewegung" des Exgenerals Michel Aoun und anderer
kleinerer Parteien, die jetzt die Regierung stellen - gönnen dem
Nachbarland keinen politischen Frühling.
Auch die "Allianz des 14. März", ein Bündnis der Bewegung von Saad
al-Hariri mit christlichen Kräften, drückt sich um klare Stellungnahmen
herum. Denn die "Zedernrevolution" von 2005 trieb zwar die syrische Armee
aus dem Land, aber die Verflechtungen und Allianzen bestehen fort - und
eine Aufarbeitung dieses Verhältnisses und eine selbstkritische Reflexion
der eigenen Verstrickungen hat nie stattgefunden.
So wirkt das Land angesichts der Ereignisse in Syrien wie im Schock
erstarrt. Freunde wie Feinde des Assad-Regimes haben panische Angst vor dem
Tag, an dem es zusammenbrechen könnte - fast so wie vor dem Tag, an dem
Israel als Feindbild wegfallen könnte. Es ist zu einem Eckpfeiler ihrer
politischen Identität geworden - und sei es als Bösewicht, dem man alles
anhängen konnte. Doch das Ende der Herrschaft der Baath-Partei in Syrien
würde auch dem Libanon einen Frühling bescheren.
24 Jun 2011
## AUTOREN
(DIR) Mona Naggar
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