# taz.de -- Sozialproteste in Israel: 300.000 gegen die Reichen
       
       > Aus der studentischen Zeltstadt ist eine breite Bewegung für soziale
       > Gerechtigkeit geworden. Israels Regierung setzt eine Kommission ein, die
       > einen Aktionsplan erarbeiten soll.
       
 (IMG) Bild: Aufruf zur Zelt-Revolution am Samstag in Tel Aviv.
       
       JERUSALEM taz | "Sie haben Angst, sie haben Angst", riefen die
       Demonstranten. 300.000 sollen es am Samstagabend landesweit gewesen sein
       bei einem der größten Proteste in der Geschichte Israels. Die Reichen im
       Land und langsam auch die politische Führung haben guten Grund zur
       Besorgnis. Der Ruf des Volkes nach sozialer Gerechtigkeit gilt ihnen. Aber
       auch die Protestbewegung, die vor drei Wochen am Tel Aviver
       Rothschild-Boulevard mit einem Dutzend Zelten begann, hat ihre Sorgen. "Am
       Ende kommt doch wieder nichts dabei raus", unkt eine Mittvierzigerin
       während der Demonstration.
       
       Die Proteste sind friedlich und es geht nicht um die Forderung nach
       Demokratie. In ihren Ausmaßen können sie sich trotzdem mit dem Tahrirplatz
       in Kairo vergleichen. Sie richten sich gegen die Politik der Führung, wobei
       ein Regierungswechsel nur für einzelne Gruppen, nicht jedoch für die
       gesamte Bewegung schon jetzt das erklärte Ziel ist. Zu den Demonstranten
       gehören Likudwähler, Religiöse, Studenten, Ärzte, Linke, Alleinerziehende,
       Araber und viele Leute, die sich nirgendwo zuordnen lassen. Der Protest
       zieht sich durch das gesamte Volk und lässt nur die Nutznießer von
       Kapitalismus, freier Marktwirtschaft und Privatisierung aus. Die stehen auf
       der anderen Seite.
       
       Viele reden von einer "Revolution" und von einer Neuordnung der bestehenden
       Strukturen. Sie verwerfen die Diskussion über einen ordentlichen
       Forderungskatalog, die Pragmatiker anstreben, und halten stattdessen
       Grundsatzdebatten ab. Schon jubeln Politiker über erste "Risse in der
       Zeltbewegung".
       
       Die Medien berichten über Konflikte auch unter denen, die noch in den
       Zelten schlafen, und denen, die in klimaanlagengekühlten Räumen die
       weiteren Protestmaßnahmen organisieren. "Alles Quatsch", sagen die
       Initiatoren. "Wir sind eine vereinte Familie, und in Familien wird
       bisweilen gestritten." Die heterogenen Massen unter einen Hut zu bringen,
       ist keine leichte Aufgabe. Mit einer Wende in Jerusalem wäre es vermutlich
       nicht getan, denn alle Regierungen, egal ob konservativ oder
       sozialdemokratisch, sind schuld an der Misere. Seit Jahrzehnten wächst die
       Kluft zwischen arm und reich. Jedes Jahr nimmt die Zahl der Millionäre zu
       und gleichzeitig die der Menschen, die unter die Armutsgrenze fallen,
       obschon die Arbeitslosenquote verhältnismäßig niedrig ist.
       
       ## "Wass kostet uns das"
       
       Ausgerechnet die Arbeitspartei hat ihre Stammwähler immer wieder betrogen.
       Exparteichef Ehud Barak lebt selbst in einer der teuersten
       Eigentumswohnungen landesweit. Der letzte Spitzenkandidat der
       Arbeitspartei, der mit einer sozialen Agenda und der Erhöhung des
       Mindestlohns in den Wahlkampf ging, war Amir Peretz. Kaum hatte man ihm den
       Posten des Verteidigungsministers angeboten, ließ Peretz seiner
       Sozialagenda fallen.
       
       "Was kostet uns das", sang der populäre Liedermacher Schlomo Arzi am
       Samstagabend von der Bühne in Tel Aviv den Refrain seines Schlagers aus den
       90er Jahren, "Unter dem Himmel des Mittelmeeres". Die hohen Mieten, die
       Hausbesitzer ohne staatliche Kontrolle, ohne Preisbindungen oder
       Mieterschutzgesetze festlegen können, stehen auf der Agenda der Bewegung,
       genauso wie die Lebenshaltungskosten, die hohen indirekten Steuern und
       damit eine unverhältnismäßige Belastung der Verbraucher, vor allem des
       Mittelstandes.
       
       Der Zorn gilt den kapitalistischen Strukturen und denen, die sie nutzen.
       Monopole und Kartelle legen nach eigenem Ermessen Preise für Basisprodukte
       fest. Per E-Mail und Facebook finden in diesen Tagen Preisvergleiche mit
       dem internationalen Markt statt. Das Unternehmen Tnuva vermarktet
       israelischen Käse in den USA für gut ein Drittel unter dem Preis, den die
       Verbraucher in Tel Aviv dafür bezahlen.
       
       Regierungschef Benjamin Netanjahu ernannte am Sonntag Professor Manuel
       Trachtenberg, Chef des Nationalen Wirtschaftsrats, zum Vorsitzenden eines
       Komitees, das innerhalb eines Monats einen Plan für eine Lösung des
       Problems erstellen soll. "Wir sind Zeugen eines kraftvollen Prozesses",
       sagte Trachtenberg, der seine große Aufgabe mit gemischten Gefühlen in
       Angriff nimmt. Er hofft, dass es ihm gelingen werde, "die Forderungen der
       Demonstranten in einen Aktionsplan zu übersetzen".
       
       7 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Knaul
       
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