# taz.de -- Bildung in Israel: Soziale Ungleichheit macht Schule
       
       > Hohe Mieten, teures Leben, Abstiegsängste - Israels Mittelschicht geht zu
       > Hunderttausenden auf die Straße. Das komplexe Bildungssystem trägt
       > Mitschuld.
       
 (IMG) Bild: Demonstranten wollen so lange campen, bis ihre Forderungen erfüllt wurden.
       
       TEL AVIV taz | Liora Feldman, 41, lebt im Großraum Tel Aviv und hat vier
       Kinder. Ihr jüngstes Kind ist zwei Jahre alt und geht in eine private
       religiöse Kindertagesstätte mit orthodoxer Ausrichtung. 2.700 Schekel, das
       sind etwa 540 Euro, zahlt sie für die ganztägige Betreuung ihres Kindes.
       "Mein Kind geht in eine teure Einrichtung", sagt sie. Die monatlichen
       Kosten für frühkindliche Ganztagsbetreuung in Tel Aviv und Umgebung sind
       sündhaft teuer.
       
       Kostenlose Kinderkrippen für Kinder ab drei Monaten, das ist neben
       bezahlbarem Wohnraum und niedrigeren Lebensmittelkosten eine der zentralen
       Forderungen, für die am Samstag 300.000 Israelis auf die Straße gingen.
       Israelische Eltern sehen sich von ihrem Bildungssystem entfremdet.
       
       Kinderkrippen sind deshalb so teuer, weil sie sich fest in den Händen
       privater Träger befinden. Das System staatlicher Kinderbetreuung beginnt
       erst ab drei Jahren. Und erst ab dem Alter von fünf Jahren, wenn der
       Kindergartenbesuch im letzten Vorschuljahr zur Pflicht wird, ist Bildung
       zumindest an staatlichen Kindergärten und Schulen frei - und bleibt es auch
       bis zum Ende der Schulzeit.
       
       Bildung hat in Israel einen hohen Stellenwert. Das spiegelt sich in seinem
       Bildungssystem wider, auf das die Israelis eigentlich stolz sind und das
       möglichst viele Israelis zum Abitur führen soll. Und das geht so: Auf das
       letzte verpflichtende Kindergartenjahr folgt die gemeinsame Grundschule,
       die bis zum Ende der 6. Klasse geht. Danach gehen israelische Teenager auf
       die Sekundarschule, die sich in Junior High School (Klasse 7-9) und Senior
       High School (Klasse 10-12) aufteilt. Unterschiedliche Schultypen gibt es
       nicht, Kurse können aber an manchen Schulen je nach Leistung der Schüler
       zusammengestellt werden.
       
       Während einige Schüler nach der 10. Klasse abgehen und eine Berufsschule
       besuchen, verlassen die meisten die Senior High School erst nach der 12.
       Klasse. Weit über die Hälfte aller israelischen Kinder schließt die
       Schulzeit mit dem Bagrut, dem israelischen Äquivalent fürs Abitur, ab, die
       Schulabbrecherquoten sind verhältnismäßig gering. Davon, wie gut der
       Abschluss gelingt, hängt alles Weitere ab: sowohl die Einstufung und
       Weiterbildung beim Militär - alle Israelis müssen Militärdienst ableisten,
       die Männer drei Jahre und die Frauen zwei Jahre lang - als auch der Zugang
       zur Universität.
       
       ## Nachhilfeboom
       
       Es gibt aber auch eine Kehrseite. In den Vergleichsstudien Pisa (Program
       for International Student Assessment) und Timss (Trends in International
       Mathematics and Science Study) lagen die israelischen Schüler zuletzt nur
       im unteren Mittelfeld. Israelische Lehrer verdienen im Vergleich mit ihren
       Kollegen aus anderen Industrieländern sehr wenig. Deshalb werde zu Beginn
       eines neuen Schuljahrs häufig gestreikt, erklärt Liora Feldman.
       
       Zudem gehen in die Klasse einer öffentlichen israelischen Junior High
       School durchschnittlich 35 bis 40 Schüler. Da ist es unmöglich, dass die
       Lehrer allen Kindern gerecht werden können. Deshalb ist in den letzten
       Jahren ein privater Nachhilfeboom entstanden, der israelische Eltern viel
       Geld kostet und die Bildungschancen von Kindern ärmerer
       Bevölkerungsschichten einschränkt.
       
       Dies ist auch deshalb besorgniserregend, weil in Israel eine hohe
       Kinderarmut herrscht. Nach Studien des israelischen National Insurance
       Institute lebten zu Anfang des Jahres 2009 fast 35 Prozent der Kinder unter
       der Armutsgrenze. Das hängt zum einen mit dem Kinderreichtum religiöser
       jüdischer und arabischer Familien zusammen. Zum anderen ist dies die Folge
       nicht nur israelischer Geschichte: Israel versteht sich als Zielland
       jüdischer Einwanderung. Seit dem Holocaust immigrierten Juden aus über 70
       Ländern in das Land.
       
       Nach Angaben des israelischen Außenministeriums kamen die Immigranten in
       den 50er Jahren hauptsächlich aus Europa und den arabischen Ländern, in den
       60ern aus Nordafrika. In den 70ern immigrierten die ersten russischen
       Juden, deren Zahl nach 1990 um fast eine Million stieg. 1984 und 1991
       wanderten zudem in zwei Wellen fast alle äthiopischen Juden nach Israel
       aus. Und auch die Einwanderung aus Amerika und anderen Ländern ging weiter.
       Das heißt: Die israelische Gesellschaft, und mit ihr die Schulen, müssen
       eine gigantische Integrationsleistung erbringen. Die Zahl der israelischen
       Schüler stieg allein in den Jahren 1990 bis 2002 um 34 Prozent.
       
       ## Israel der Stämme
       
       Die Zuwanderung von Bevölkerungsgruppen mit solch unterschiedlichem
       kulturellem Hintergrund hat in der israelischen Gesellschaft tiefe Spuren
       hinterlassen, die sich auch in einer Abgrenzung der verschiedenen Gruppen
       je nach Herkunft, religiöser oder sonstiger Zugehörigkeit voneinander
       ausdrücken. Der israelische Fernsehjournalist David Witzthum sprach
       angesichts dieser Entwicklung in Tel Aviv vor einer deutschen Delegation
       von Schulpraktikern vom "Israel der Stämme", das sich so zusammensetzt:
       etwa 20 Prozent Araber, 15 Prozent russische Juden, 12-15 Prozent Siedler
       oder Nationalreligiöse, 10-15 Prozent orientalische Juden und etwa zehn
       Prozent ultraorthodoxe Juden. Den großen Rest stellen die Israelis alter
       Prägung, die sich vor allem über ihre israelische Staatsbürgerschaft
       definieren und nicht über ihre Herkunft oder religiöse Zugehörigkeit.
       
       Mit der Einwanderung könnte auch der Trend zusammenhängen, dass immer mehr
       Eltern ihre Kinder auf private religiöse Bildungseinrichtungen schicken.
       Denn das ist eine weitere Besonderheit des israelischen Bildungssystems:
       Neben den weltlich ausgerichteten öffentlichen Schulen, auf die etwa 60
       Prozent der Schüler gehen, existieren staatlich-religiöse (rund 19 Prozent)
       und private religiöse Schulen. Während die Anzahl der staatlich-religiösen
       Schulen, die einst mit der Nationalreligiösen Partei zusammenhingen, in den
       letzten Jahrzehnten in etwa gleich blieb, nahm die Zahl der privaten
       religiösen - besonders der orthodoxen und ultraorthodoxen - Schulen zu.
       Private Schulen genießen in Israel hohe Autonomie.
       
       ## Orthodoxer Unterricht
       
       Innerhalb ihres Bezirks können sich israelische Eltern die Schule
       aussuchen. Liora Feldmans ältere drei Kinder gehen auf religiöse Schulen
       orthodoxer Ausrichtung. Das bedeutet: Die Mädchen und die Jungen gehen zwar
       auf dieselbe Schule, haben aber getrennt voneinander Unterricht. Der
       Unterricht ihres 16-jährigen Sohnes, für den die Familie monatlich 1.000
       Schekel Schulgeld zahlt, dauert aufgrund der religiösen Studien bis acht
       Uhr abends. Bei den Schulen, die mit den ultraorthodoxen Parteien Agudat
       Jisrael und Schas verbunden sind, geht die Trennung noch weiter: Hier
       besuchen Mädchen und Jungen unterschiedliche Schulen oder Kindergärten.
       
       Neben den religiösen gibt es auch einige säkulare Privatschulen wie die
       Demokratischen oder die Internationalen Schulen. Der Staat trägt etwa 75
       Prozent der Kosten einer Privatschule - in der israelischen Gesellschaft
       ist das nicht unumstritten, zumal die Schulen angesichts der
       Herausforderungen unterfinanziert sind. Wie gut eine Schule finanziert ist,
       hängt auch von der Region ab, in der sie steht. Denn die Gelder stammen
       nicht nur vom Erziehungs- und Wissenschaftsministerium, sondern auch von
       den Kommunen vor Ort, die unterschiedlich wohlhabend sind. Abd al-Hakim haj
       Yehya, Schulleiter der arabischen Alnajah Junior High School, die in einer
       schlechteren sozioökonomischen Umgebung steht, kämpft mit den
       Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben: "Das ist eine große Last für die
       Schule."
       
       In Israel gibt es jüdische, arabische und drusische Schulen. In arabischen
       Schulen findet der Unterricht in arabischer Sprache statt; sie haben ein
       spezielles Curriculum in Bezug auf Kultur und Religion. In jüdischen
       Schulen wird auf Hebräisch unterrichtet. Die getrennte Beschulung hat auch
       damit zu tun, dass Araber und Juden häufig in unterschiedlichen Regionen
       oder Bezirken leben. In Regionen, in denen sowohl jüdische als auch
       arabische Israelis leben, gibt es auch gemischte Schulen. Zudem gibt es
       seit Ende der 90er Jahre das Hand in Hand: Center for Jewish-Arab
       Education, das mittlerweile vier jüdisch-arabische Schulen in Orten wie
       Jerusalem und Beerscheva errichtet hat. Auch das Leo Baeck Education Center
       in Haifa mit insgesamt etwa 2.000 Schülern versucht, Brücken zwischen
       jüdischen und arabischen Israelis zu bauen.
       
       Wie lässt sich das Bildungssystem weiterentwickeln? Ein Zukunftsmodell, an
       dem in Israel gebaut wird, ist die Erziehungsstadt, in der der
       Bürgermeister und die Kommunen mehr Verantwortung für Bildung und Erziehung
       ihrer Jugendlichen bekommen. Ob dann auch die Kinderkrippen billiger
       werden, wie es die Demonstranten vom Samstag trotz ihrer unterschiedlichen
       Zugehörigkeiten gemeinsam fordern? Wer weiß.
       
       10 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Annegret Nill
       
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