# taz.de -- Politischer Nachruf auf Muammar al-Gaddafi: Der narzisstische Volkstribun
> Der libysche Herrscher träumte von der panarabischen Revolution nach
> ägyptischem Vorbild. Er schuf ein diktatorisches System eigener Prägung,
> das 42 Jahre hielt.
(IMG) Bild: Begann seine Karriere beim Militär: Muammar al-Gaddafi.
BERLIN taz | Die politische Karriere von Muammar al-Gaddafi hat mit Ägypten
angefangen und geht mit Ägypten zu Ende. Denn nach der Revolution in
Tunesien war es vor allem die Massenbewegung in dem Land am Nil, die zum
Rücktritt von Präsident Husni Mubarak führte und den Unzufriedenen in der
arabischen Welt zeigte, dass ein politischer Wechsel möglich ist.
Wie viele arabische und afrikanische Staatsoberhäupter seiner Generation
schlug Gaddafi am Anfang die militärische Laufbahn ein. Im Gegensatz zu
seinen späteren Kollegen war dies für den Beduinensohn nicht nur der
einzige sich bietende Weg des sozialen Aufstiegs, sondern ein gezielter
Schritt hin zum Sturz des damaligen Königs Idris al Sanussi. Eine Karriere
in der Armee, so Gaddafi damals zu gleichgesinnten Klassenkameraden, sei
der einzige Weg, eine Revolution anzuzetteln. Als Vorbild dafür galt ihm
der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser, der 1952 mit einer Gruppe
"Freier Offiziere" König Faruk gestürzt hatte und panarabische Ideen
vertrat.
Gaddafi wurde 1942 in der libyschen Wüste in der Nähe der Küstenstadt Sirte
geboren. Seine Eltern gaben ihre bescheidenen Ersparnisse dafür aus, ihn
zunächst auf eine Koranschule und später in eine Oberschule in die Stadt
Sebha im südwestlichen Fezzan zu schicken. Dort gründete Gaddafi seine
erste revolutionäre Zelle, deren Mitglieder später hochrangige Funktionen
im neuen Libyen einnehmen sollten. Er flog von der Schule, als er
Demonstrationen gegen den König und zur Unterstützung der Palästinenser
mitorganisierte.
## Beduinischer Puritanismus
Schon damals lehnte Gaddafi starken Alkoholkonsum und eine freizügige
Lebensform ab. Dieser Puritanismus geht auf seine beduinischen Wurzeln
zurück, wurde aber verstärkt durch die mit den ausländischen Ölfirmen sich
ausbreitende Korruption und Günstlingswirtschaft. Bis heute gilt in Libyen
Alkoholverbot.
Nach dem Schulabschluß besuchten Gaddafi und seine frühen Mitverschwörer
die Militärhochschule in Bengasi. Dies war der eigentliche Beginn der
Bewegung der "Freien Offiziere", wie sich die Gruppe nach ihrem ägyptischen
Vorbild benannte. Die meisten Mitglieder setzten ihre militärische
Ausbildung im Ausland fort - Gaddafi im britischen Beaconsfield, wo er eine
Ausbildung zum Fernmelder machte - und kehrten dann nach Libyen zurück.
Es war die Zeit des arabischen Nationalismus und Sozialismus sowie die der
Träume von einer arabischen Einheit. Die Verschwörer lauschten regelmäßig
den Reden Nassers im ägyptischen Rundfunk. Die Geschehnisse in Ägypten
führten zu zahlreichen Militärputschs in anderen arabischen Staaten; die
neuen Führer verstanden sich als Vorkämpfer gegen Imperialismus und
Neokolonialismus.
Die Stunde Gaddafis und seiner Leute schlug am 1. September 1969. König
Idris hielt sich zu einer medizinischen Behandlung im Ausland auf und sein
Neffe, Kronprinz Hassan, sollte die Regentschaft übernehmen. Die
Verschwörer besetzten das militärische Hauptquartier und das
Rundfunkgebäude, stellten den Kronprinz unter Hausarrest und riefen eine
neue Libyisch-Arabische Republik aus. Gaddafi nannte sich seither "Bruder
Führer"und "Revolutionsführer".
"Die besserwisserischen jungen Männer des RCC (Revolutionärer Kommandorat,
d. Red.) drückten dem Land schnell ihren eigenen Willen auf," schrieb der
britische Journalist John K. Cooley 1983 in seinem Buch "Libyan Sandstorm.
The Complete Account of Qaddafis Revolution". "Innerhalb kurzer Zeit wurden
einige hundert noch verbliebene Juden ausgewiesen (...). 30 000
italienische Siedler, viele von ihnen Händler und Handwerker, deren
Fertigkeiten die neue Republik gut hätte brauchen können, wurden
deportiert. (...) Der RCC, insgesamt zwölf junge Männer, ließ sich in den
Bab-Azziziya-Militärbaracken außerhalb des Stadtzentrums nieder. Gaddafi
lebte dort wie ein Mönch in einem einfachen, leeren Zimmer mit wenig mehr
als dem Koran und einem Kurzwellenradio auf seinem Schreibtisch. Später
wurde Bab Azziziya zu Gaddafis gut geschützter Festung."
## Die Gaddafi-Bibel
Das Libyen von 1969, das die Verschwörer übernahmen, war eines der ärmsten
Länder der Welt. Nur eine kleine Schicht hatte von den Einnahmen aus der
Ölindustrie profitiert, die 1973 verstaatlich wurde. Die Mitglieder des RCC
machten sich zunächst an einen Austausch der Eliten. Dies betraf ebenso die
Armee wie die Stämme und das religiöse Establishment. Parteien,
Gewerkschaften und Studentenorganisationen wurden verboten und später als
regimetreue Institutionen neu etabliert. Gaddafi selbst inszenierte sich
als charismatische Führungsfigur.
Seine ideologischen Grundlagen formulierte er 1973 in fünf Prinzipien: die
Abschaffung der bestehenden Gesetze und die Einführung der Sharia; die
Säuberung der Gesellschaft von "politisch Kranken"; die Schaffung einer
Volksmiliz zur "Verteidgung der Revolution" sowie die Durchführung einer
Verwaltungs- und Kulturrevolution. In jenem Jahr wurden an den Schulen die
Sommerferien gestrichen. Stattdessen mussten die Kinder Gaddafis Ideen
büffeln.
Die ideologische Untermauerung des Systems lieferte Gaddafi Ende der 70er
Jahre mit dem "Grünen Buch", das der Mao-Bibel nachempfunden war und zu
einem internationalen Bestseller wurde. "Die dritte Universaltheorie"
überschrieb er seine Ideologie; jenseits von Kapitalismus und Kommunismus
wollte Gaddafi ein für alle Mal die Probleme der Regierungsform und der
Menschheit zu lösen. Insofern richtete sich das "Grüne Buch" nicht nur an
die Völker der islamischen Welt. Es beinhaltet eine naive, teils
widersprüchliche und am Ende wirre Mischung aus Basisdemokratie,
sozialistischer Wirtschaft, Islam und Rückgriffe auf die traditionelle
beduinische Gesellschaftsordnung.
Die Basis von Gaddafis politischem System bildeten die Volkskomittees und
Volkskongresse. Dahinter steht das Konzept einer vorgeblichen Einheit, die
die Familie, den Stamm, das ganze Volk und die Führung umfasst. In der
Praxis jedoch ähnelten die Volkskomitees am ehesten einer
(Einheits-)Partei.
Die 1977 gebildeten Revolutionskomitees hatten zur Aufgabe, das politische
Leben zu überwachen. Mitglieder dieser Organe, die auch als Aufpasser von
ausländischen Journalisten eingesetzt wurden, hockten auch noch beim
vierten Auftritt Gaddafis im Fernsehn an einem Abend mit leuchtendem
Gesicht vor dem Bildschrim.
Das System der Überwachung war dem im Irak unter Saddam Hussein
vergleichbar. Die Regierung, der Arbeitsplatz oder das Bildungssystem waren
von Spitzeln durchsetzt. Andersdenkende verschwanden hinter Gittern oder
wurden im Ausland ermordet; hinzu kam Gaddafis Verwicklung in den
internationalen Terrorismus. Vor dem Einsatz von Gewalt gegen wirkliche
oder vermeintliche Gegner hat er nie zurückgeschreckt.
Im Ausland war Libyen als Ölförderland beliebt. Bei Staatsbesuchen trat er
in auffallenden Gewändern auf und umgab sich mit Leibwächterinnen, Zelten
und Kamelstuten. In Libyen kleidete er sich den Anlässen entsprechend. Als
Redner im Anzug auf einer regionalen Wirtschaftskonferenz in den achziger
Jahren in Tripolis sprach er sachlich, fast einschläfernd, während er bei
Massenauftritten im Beduinengewand den lautstarken Volkstribun einfacher
Herkunft gab oder sich zum Interview in einem hellblauen Overall
präsentierte. Zuletzt, nach 42 Jahren absoluter Macht, gab es in seinem
Selbst- und Weltbild nur noch Drogenabhängige oder al Qaida, die seine
Führung infrage zu stellen wagten.
## Er glaubt an sich selbst
"Es steht absolut außer Frage, ob Gaddafi wirklich an seine eigene Rhetorik
glaubt; er tut es", schreibt der britische Libyen-Experte Cooley. "Er
glaubt, dass durch den Einsatz von Geld, Ideologie und die Techniken der
'Massenmobilisierung die materielle Lage seines Volkes sehr viel besser
geworden ist, und dass diese Verbesserung ein Wegweiser für andere Völker
auf der ganzen Welt sein sollte. Gaddafi glaubt an den Gaddafismus."
Von der letzten Phase seiner Herrschaft profitierte vor allem die eigene
Familie. Seine acht Kinder - eine Adoptivtochter starb bei einem US-Angriff
1986 - verfügten über eigene Interessenssphären in Politik, Militär und
Wirtschaft und wurden zu zentralen Pfeilern des Systems. Als Nachfolger
Gaddafis wurde der zweitälteste Sohn Seif el Islam gehandelt.
Aber Gaddafi besann sich nicht nur im Sinne des Machterhalts auf seine
Familie. In seinem Essayband mit dem skurrilen Titel "Das Dorf, das Dorf,
die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten" (2004) schwingt eine
nostalgische Rückschau auf das beduinische Leben und eine Reflektion über
die Fehlentwicklungen der Moderne mit. In seinen Aufsätzen schildert
Gaddaffi den Moloch Stadt in schwärzesten Farben: Lärm, Umweltprobleme,
Kriminalität, Entwurzelung und absurde Zerstreuungen wie Fußballspiele oder
Boxkämpfe. Demgegenüber verherrlicht er das traditionelle Dorfleben, selbst
die soziale Kontrolle und harte körperliche Arbeit sind Teil eines "ruhigen
und glücklichen Lebens" in Freiheit.
In einem Essay mit dem Titel "Flucht in die Hölle" reflektiert Gaddafi das
Verhältnis zwischen dem Despoten und der Masse, die Angst des "armen,
herumschweifenden Beduinen, der nicht einmal eine Geburtsurkunde hat", vor
den wankelmütigen Untertanen, die zu oft in der Geschichte einem
politischen Führer zunächst zujubeln, dann alles von ihm fordern, um ihn
schließlich zu verstoßen. Das Buch erschien in Libyen im Jahr 1993.
Achtzehn Jahre später ist es soweit.
Am 17. Feburar 2011 setzte der über Facebook verbreitete Aufruf zu einem
"Tag des Zorns" eine Dynamik in Bewegung, die angesichts der Gegenwehr des
Regimes zu einer bewaffneten Rebellion und Nato-Luftangriffen führte. Und
am frühen Montag morgen erreichten Gruppen der Rebellen den "Grünen Platz"
in Tripolis, auf dem Gaddafi seine Massenautritte inszenierte. Ihre erste
Amtshandlung war, dem riesigen, rechteckigen Arreal seinen alten Namen
wiederzugeben: "Platz der Märtyrer".
22 Aug 2011
## AUTOREN
(DIR) Beate Seel
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