# taz.de -- Politologe über die Ukraine: "Die Erfahrung der Menschen bleibt"
       
       > Die Ukraine droht auf Weißrusslands Weg der Diktatur einzuschwenken, sagt
       > der Politologe Heiko Pleines. Doch das Erbe der Orange Revolution wirkt.
       
 (IMG) Bild: Sitzt im Gefängnis: Julia Timoschenko.
       
       taz: Herr Pleines, wenn Sie Bilder vom Arabischen Frühling sehen - fühlen
       Sie sich an die Orange Revolution in der Ukraine 2004 erinnert? 
       
       Heiko Pleines: Die Bilder sind natürlich andere, die Erwartungshaltung an
       die Revolution ist aber ähnlich - in den Ländern selber, vor allem im
       Westen. Es ist die Hoffnung auf Demokratie. Es gibt aber auch wichtige
       Unterschiede. In der Ukraine gab es eine einige Oppositionsbewegung mit
       politisch erfahrenen Führungsfiguren. Die gibt es in Ägypten oder Libyen
       nicht. Zweitens hatten die Proteste in der Ukraine ein konkretes
       politisches Ziel: faire Wahlen. Das war etwa in Tunesien anders, dort ging
       es anfangs um Armut und Jugendarbeitslosigkeit. Darauf hat die Demokratie
       nicht unbedingt Antworten. Drittens war in der Ukraine Gewalt keine Option,
       darum konnte hier anschließend die Opposition recht problemlos integriert
       werden. Das wird in den arabischen Ländern schwieriger. Für die Zukunft der
       arabischen Staaten besteht also kein Anlass zu überbordendem Optimismus,
       wenn man sich die Ukraine heute ansieht.
       
       Dort sitzen prominente Figuren der Orange Revolution wie Julia Timoschenko
       nun im Gefängnis. Warum? 
       
       Um die Opposition zu diskreditieren. Das widerspricht rechtsstaatlichen
       Regeln - und ist auch strategisch falsch. Man macht damit Frau Timoschenko
       zur politischen Märtyrerin, das Charisma dazu hat sie ja.
       
       Woran ist die Revolution gescheitert? 
       
       Diese Frage geht nicht davon aus, was damals im Land möglich war, sondern
       von den Erwartungshaltungen. Die Haltung war: Gehen genug Leute auf die
       Straße und fordern ein neues System, kommt auch ein schönes Neues. So
       einfach ist das aber nicht. Die Akteure von damals hatten die Prinzipien
       der Rechtsstaatlichkeit nicht verinnerlicht, sie waren nicht
       kompromissfähig.
       
       Wie werden nun die Verhaftungen in der Ukraine wahrgenommen? 
       
       Als Ausdruck eines politischen Machtkampfes. Der Fall Timoschenko wird
       kontrovers diskutiert: Die einen finden, sie habe das verdient, die
       anderen, sie sei die rechtmäßige Präsidentin. Leider gibt es wenige
       Stimmen, die sagen: Egal, wie ich zu ihr stehe, Gerichtsverfahren dürfen
       nicht politisch instrumentalisiert werden. Politik wird wieder als
       Intrigenspiel einer politischen Klasse wahrgenommen, das mit der
       Entwicklung des Landes wenig zu tun hat.
       
       Während der Revolution erschien "die Zivilbevölkerung" auf der politischen
       Bühne. Wo ist sie heute? 
       
       Die hat es doch so nie gegeben. Was wir hatten, war eine spontane
       Protestaktion. Die Leute sind danach wieder nach Hause gegangen, statt sich
       zu organisieren. Das Bewusstsein dafür, dass man das eigene Land nicht
       ändert, indem man einmal den Bösen hinwegfegt, sondern indem man sich
       kontinuierlich engagiert, das fehlt.
       
       Bei den Demonstranten war Korruption ein wichtiges Thema. Grassiert sie
       noch heute? 
       
       Im Grunde ja. Im ersten Jahr nach der Orange Revolution war die
       Bereitschaft von Unternehmern, Bestechungsgelder zu zahlen, laut Umfragen
       deutlich gesunken. Das ist heute verpufft. Um das zu ändern, hätte man vor
       allem auch eine Rechtsreform gebraucht. Gegen Korruption lässt sich nur mit
       verlässlichen Gerichten vorgehen.
       
       Wo steht die Ukraine heute? 
       
       Es werden derzeit zwei Entwicklungsszenarien diskutiert: zum einen das
       Modell Putin. Davon träumt Präsident Wiktor Janukowitsch. Das wird er aber
       kaum realisieren können, dazu fehlt ihm das Geld, das Russland zur
       Verfügung hat. Außerdem ist Janukowitsch sehr unpopulär. In der Ukraine
       fürchten darum viele, dass er beim Modell des weißrussischen Diktators
       Lukaschenko endet. Ein orange, demokratisches Szenario ist leider nicht
       dabei.
       
       Wie real ist der "weißrussische Weg"? 
       
       Wenn man einen Weg betritt, heißt das ja nicht, dass man am Ende auch
       ankommt. Janukowitsch hat ein Problem: Wenn er keinen Staatsbankrott
       anmelden will, muss er das Programm des Internationalen Währungsfonds
       durchsetzen. Das ist unter anderem mit einer schmerzhaften Erhöhung der
       Gaspreise verbunden. In der Ukraine werden dann die Wohnnebenkosten fast so
       hoch wie eine Durchschnittsrente. Ein Charismatiker ist Janukowitsch auch
       nicht. Bei den nächsten Wahlen kann er deshalb nur eine Niederlage
       akzeptieren, oder manipulieren und die Opposition ausschalten.
       
       Kann die EU gegensteuern? 
       
       Sie könnte, wie im Falle Weißrusslands, die Kooperation aussetzen.
       Allerdings verfügt sie in der Ukraine nur über wenig Einfluss und sieht die
       Gefahr, sie an Russland zu verlieren. Da eine Beitrittsperspektive fehlt,
       hat die EU keine großen Gestaltungsmöglichkeiten mehr. Deshalb fühlt sich
       das orange Lager von der EU verraten.
       
       Hätte die EU diese Perspektive eröffnen müssen? 
       
       Ein Beitritt wäre auf absehbare Zeit natürlich unrealistisch gewesen, aber
       sie hätte Verhandlungen aufnehmen können. Dann hätte sie zumindest immer
       wieder diesen Anreiz einsetzen und einen Weg zu Demokratie und Rechtsstaat
       aufweisen können.
       
       Ist der Weg jetzt verbaut? 
       
       Nein, so schnell ist nichts verbaut. Die Lage kann sich schnell wieder
       ändern. Wie sich die Bevölkerung verhält, wenn Janukowitsch wirklich zu
       Zwangsmaßnahmen greift, ist nicht abzusehen. In Weißrussland scheint sich
       die Bevölkerung damit abgefunden zu haben, keinen Einfluss zu besitzen. Die
       Ukrainer haben aber andere Erfahrungen gemacht.
       
       Ist es diese Erfahrung von Selbstermächtigung, die von 2004 bleibt? 
       
       Ja, sie hat der Bevölkerung gezeigt, dass sie etwas bewegen kann. Es gibt
       immer noch Journalisten, die frei und kritisch berichten und wahrgenommen
       werden. Das ist ein Erbe der Orange Revolution, das weiterwirkt. Man tut
       ihren Protagonisten Unrecht, wenn man von ihnen Wunder erwartet. Aber hätte
       man dort jemanden von historischem Format gehabt, dann sähe die Ukraine
       heute anders aus. Aber den gabs leider nicht.
       
       28 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heike Holdinghausen
       
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