# taz.de -- Alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin: Annas Träume
       
       > Sie will bald Arbeit finden, denn sie hat Angst davor, verwaltet zu
       > werden. Aber was die alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin Anna vor allem
       > vermisst, ist Würde.
       
 (IMG) Bild: In Deutschland gibt es mehr als 1,6 Millionen Alleinerziehende. Mehr als 600.000 beziehen Hartz IV und über 200.000 sind arbeitslos gemeldet.
       
       Anna* schiebt mit großen Schritten den alten, mit bunten Decken
       ausstaffierten Kinderwagen vor sich her. Ihre Turnschuhe sind ausgetreten,
       das T-Shirt mit Rolling-Stones-Zunge schlabbert. Eine lässig schöne Frau.
       Annas Rücken ist ganz gerade. Sie parkt den Kinderwagen am Rand des
       Spielplatzes, holt ihre Tochter aus den Gurten. "Back mir mal einen
       Sandkuchen, Mathilda", sagt sie. "Wir haben was zu feiern."
       
       Nach vielen Telefonaten hat sie nun endlich die Zusage schriftlich.
       Mathilda wird in drei Wochen in die Kita gehen. Nicht sieben bis neun
       Stunden wie die Kinder von Eltern, die arbeiten. Aber immerhin fünf. "Ein
       neuer Lebensabschnitt", sagt Anna. Sie will endlich wieder arbeiten.
       
       ## Kaum Geld für Essen und Schuhe
       
       Es ist ein schöner Spätsommertag im September 2010. Anna denkt zurück. Zwei
       Jahre lang hat Anna ihre Tochter Mathilda allein erzogen. Jede Nacht hat
       sie ihren Schlaf bewacht. Immer, wenn Mathilda etwas fehlte, hat sie allein
       entschieden, ob sie krank genug ist für den Arzt. Sie hat jeden Tag
       versucht, trotz Hartz IV anständig einzukaufen: wenigstens gutes Essen,
       wenigstens gute Schuhe.
       
       Ein paarmal dachte Anna wirklich, dass sie nicht mehr kann. Einmal wollten
       sie ihr das Gas abdrehen. Sie musste zum Sozialgericht. Ein andermal kam
       ein Brief vom Jugendamt. Mathildas Vater muss weniger Unterhalt zahlen. Er
       hat ein niedriges Gehalt, stottert aber eine Wohnung in Hamburg ab. Sie
       wollen ihn nicht zum Verkauf zwingen. "Geht bei Ihnen Eigentum vor
       Kindeswohl?", schrieb Anna trotzig zurück.
       
       Anna ist eine stolze Frau. Sie will Arbeit finden, und zwar bald. Denn sie
       hat Angst davor, verwaltet zu werden. In einem Jahr wird Mathilda drei. Das
       Amt wird wieder das Recht haben, Anna zu Maßnahmen zu schicken, und sei es
       nur für die Statistik. Es könnte auch sein, dass Anna eine Art
       Vollversorgungspaket angeboten bekommt. Das zumindest hat sich Ursula von
       der Leyen vor einem halben Jahr ausgedacht. "Die Stählerne", sagt Anna.
       Immer, wenn sich die Ministerin zu den Arbeitslosen äußert, heißt es, die
       Alleinerziehenden seien ihre Lieblinge. Sie seien die Hätschelkinder des
       Wohlfahrtsstaates.
       
       ## Anna weiß, was sie kann
       
       Aber Anna will sich nicht verhätscheln lassen. Sie hat studiert, ein
       bisschen Bafög bekommen, viel selbst finanziert. Sie weiß, was sie kann.
       Ihre Stimme wird jetzt lauter. "Was soll ich arbeiten? Wie kann ich etwas
       finden, das wenigstens ein bisschen zu mir und meinem Leben mit Mathilda
       passt?"
       
       Anna soll noch mal ganz weit vorn anfangen, mit 35 Jahren. Plötzlich läuft
       Anna mit großen Schritten los. "Mathilda, Mathilda, Mathilda", ruft sie in
       einem Atemzug, denn das Kind ist überall gleichzeitig, sie ist mal wieder
       Richtung Straße gerannt.
       
       Mathilda ist ein lebendiges Mädchen. Sie hat Annas funkelnde Augen. Und
       ihren Eigensinn. Wie Mathilda hatte auch Anna, als sie klein war, nur ihre
       Mutter. Aber das war für Anna kein Problem. Schon als sie ganz klein war,
       reisten sie zusammen von Jugendherberge zu Jugendherberge. Später kam Anna
       in den Kinderladen, einen der ersten in Berlin. "Wir waren eine große
       Familie", begeistert sich Anna. Sie fühlte sich aufgehoben.
       
       ## Familien um sie herum wollen für sich bleiben
       
       Heute sagt sie: "Die Zeiten haben sich geändert." Anna hat
       Sozialwissenschaften studiert. Für ihre Diplomarbeit hat sie Mütter und
       Väter befragt, wie sie klarkommen mit den Anforderungen der Arbeitswelt,
       rund um die Uhr überall gleichzeitig sein zu müssen, aber nie zu Hause.
       Inzwischen interessiert sich Anna mehr für die Abstiegsängste der
       Mittelschicht. Sie erzählt, dass sie am Wochenende oft allein ist mit
       Mathilda. Die Familien um sie herum wollen für sich bleiben.
       
       Drei Monate später, ein grauer Nachmittag Anfang November, ein Besuch bei
       Anna. Der Türöffner ist kaputt. Anna schmeißt den Schlüssel runter. Weil
       Anna schon seit zehn Jahren hier wohnt, kostet die Wohnung so wenig wie
       keine mehr im Berliner Stadtteil Mitte. Nach der Wende kamen die Leute her,
       weil es so viele Brachflächen gab und Brandmauern. Auch Anna fand es hier
       romantisch.
       
       Romantisch ist es jetzt nur noch in Annas Wohnung. Wenn man aus dem
       Schlafzimmerfenster schaut, prallt der Blick auf ein Bürohaus, so grau wie
       Fensterkitt. Aus dem Wohnzimmerfenster sieht man ein neues Hostel, in dem
       die Touristen absteigen, die mit den Billigfliegern kommen. Bald muss Anna
       Kohlen kaufen, weil sie noch mit Kachelöfen heizt. Anna liebt ihre Wohnung.
       Es ist hell, die Räume sind hoch, haben große Fenster und Flügeltüren. In
       einem Zimmer ist eine halbe Wand tapeziert, im anderen steht ein selbst
       gebautes Regal. Annas Haus ist das letzte unsanierte der Straße. Wer weiß,
       wie lange noch.
       
       ## Weniger als fünf Stunden, um den Alltag zu organisieren
       
       "Mathilda hat sich an die Kita gewöhnt", berichtet Anna. Sie weiß jetzt,
       dass fünf Stunden Kita am Tag nicht reichen - weder für sie noch für
       Mathilda. Immer, wenn sie Mathilda abholen soll, will das Mädchen gern noch
       bleiben. Die anderen Kinder gehen ja auch noch nicht. Wenn Anna Mathilda
       morgens weggebracht hat, würde sich Anna am liebsten noch mal hinlegen,
       denn noch immer wird Mathilda jede Nacht ein paarmal wach. Aber es ist
       schwer, in weniger als fünf Stunden den Alltag zu organisieren. Mit den
       Ämtern zu streiten. Und dann auch noch in Lohn und Brot zu kommen.
       
       Anna setzt einen Topf Milch für den Kaffee auf. "Irgendwas mit
       Stadtentwicklung wäre toll", sagt sie, und denkt an eine Auftragsarbeit an
       der Uni. Sie musste Passanten befragen, und es gab sogar Geld. Das war vor
       knapp zehn Jahren. Damals verkaufte Anna noch hauptsächlich Drinks in Bars,
       die heute in jedem Reiseführer stehen. Dann ging sie nach Südafrika. Als
       sie zurückkam, verliebte sie sich und wurde schwanger. "Ein Kind zum
       passenden Lebensabschnitt zu planen, das ist eben nicht mein Ding", sagt
       sie. Und jetzt? Kellnern geht mit Mathilda nicht mehr. Die Uni ist so lange
       her. Anna weiß nicht, wo sie anfangen soll. Sie bräuchte mehr Zeit.
       
       An einem warmen Tag im Mai 2011 steht Anna im Supermarkt. Sieben Monate ist
       Mathilda nun in der Kita. Anna ist noch dünner als im Herbst. Ihr Kopf ist
       vom Rechnen schwer. Gurken und Tomaten will sie Monate nach Ehec immer noch
       keine kaufen. Also Mango, Ananas und Beeren, damit Mathilda zu ihren
       Vitaminen kommt. Kostenpunkt: fast 10 Euro. Damit ist ein Zehntel des
       Wochenbudgets erschöpft. Abzüglich Strom, Telefon und Kita-Gebühr bleiben
       Anna und Mathilda 400 Euro im Monat für Essen, das Zeug aus der Drogerie,
       Kleider und Schuhe. Anna bezahlt.
       
       Als sie auf die Straße tritt, fällt ihr zum ersten Mal heute auf, dass der
       Sommer noch lang ist. Sie beschließt, mal frei zu machen. Sie wird nicht
       wie eigentlich geplant die Stellenanzeigen durchgehen. Sie wird im
       Lieblingscafé gegenüber einen Kaffee trinken gehen.
       
       Drei Löffel Zucker rührt sich Anna in den Kaffee. Giovanni, der Besitzer
       des Cafés, fragt sie oft nach der Berliner Ausgehgesellschaft in den
       Neunzigern. Giovanni ist seit fünf Jahren in Berlin. Er schaut sich gern
       Rockkonzerte an. Den ganzen Winter hat er nichts gesagt, als Anna jeden Tag
       mit ihrer Tochter kam, ab und zu einen Kaffee bestellte, Mathilda die
       Tische verrücken ließ und den Nachmittag blieb.
       
       ## Eine Frage war verboten
       
       "Es gab wenige Regeln", sagt Anna. Giovanni nickt. Anna erzählt: Von den
       Technokellern mit Lagerfeuer im Vorraum und den illegalen Clubs in
       Plattenbauten und Gartenhäusern, in denen viel Tischtennis gespielt wurde.
       Die Läden hießen "Sexyland" und "Im Eimer". Die Leute hatten
       "Champagnervergiftungen" und konnten sich im Taxi nicht an ihre Hausnummer
       erinnern. Man durfte über alles reden, von den Essgewohnheiten in Chile,
       der Freizeitgesellschaft, vom Flugverhalten der Störche im Herbst und vom
       Ende der Arbeit. Nur eine Frage, die "Und was machst du so"-Frage, die war
       verboten, sagt Anna.
       
       Heute hat sich das, was man macht, nach vorn gedrängt, sagt sie. Die besten
       Freundinnen von Anna sind beschäftigt. Eine ist immer in Eile, weil sie
       noch Winterräder für den Markenkinderwagen besorgen muss oder Probleme mit
       "der Kinderfrau" hat. Eine andere Bekannte hat sich gerade getrennt. Sie
       hatte Jahre auf das Gehalt ihres Mannes vertraut, die Kinder geschaukelt
       und nebenbei "was Kreatives" gemacht. Sie empfindet es als Zumutung, nun
       wieder richtig Geld verdienen zu müssen. "Eine Latte-macchiato-Mutter",
       sagt Anna. Sie fragt sich: "Was ist aus uns geworden?"
       
       Als Anna geht, sagt Giovanni: "Anna nimmt sich manchmal viel vor. Sie hat
       große Träume." Annas Träume sind wirklich groß. Sie handeln von
       Sozialisierung durch Würde statt Vergesellschaftung durch Zwang. Wenn Anna
       ein Grundeinkommen hätte. Sie könnte Bücher lesen. Mal wieder ein Konzept
       schreiben. Das Konzept bei einer Stiftung einreichen. Vor allem aber das:
       Sie würde arbeiten, egal für welchen Lohn.
       
       Kürzlich hatte Anna ein Vorstellungsgespräch. Der Mann wollte wissen, warum
       sie so lange studiert hat. Anna wusste darauf keine diplomatische Antwort.
       Anna sagt, sie weiß selten diplomatische Antworten. Also hat sie gesagt:
       "Ich habe studiert, weil es mich interessiert hat. Es war eine schöne
       Zeit." Anna hat die Stelle nicht bekommen.
       
       * Name geändert
       
       31 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
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