# taz.de -- MONTAGSINTERVIEW MIT JAN STÖSS: "Zum Glück leben noch alle"
       
       > Als Königsmörder sieht sich Jan Stöß nicht. Auch Klaus Wowereit will der
       > neue SPD-Chef nicht zur Strecke bringen. Allerdings stellt er
       > Bedingungen. Und die CDU vor eine schwere Probe.
       
 (IMG) Bild: Jan Stöß ist neuer SPD-Chef. Den Sieg feierte er mit Quartiermeisterbier für 1,50 Euro.
       
       taz: Jan Stöß, Sie sind bekannt als Krimifan. Wem gelten Ihre Sympathien?
       Dem Mörder oder dem Kommissar? 
       
       Jan Stöß: Als Richter sympathisiert man doch eher mit dem Kommissar.
       
       Wenn man die Berliner SPD als Krimi liest, wären Sie allerdings der Mörder.
       Sie haben den bisherigen Landesvorsitzenden Michael Müller zur Strecke
       gebracht. 
       
       Das Bild ist ja völlig schief. Es leben zum Glück alle noch. Alle
       Protagonisten sind in wichtigen Funktionen, und ich habe keinen Zweifel,
       dass wir weiter gut zusammenarbeiten werden.
       
       Es könnte aber auch sein, dass das erst der Anfang einer kleinen Mordserie
       war – mit dem Königsmord an Klaus Wowereit als großem Finale. 
       
       Sie sind von Ihren Mordfantasien ja gar nicht mehr abzubringen. Mit Klaus
       Wowereit wird es eine sehr lebendige und gute Zusammenarbeit geben.
       
       Herr Stöß, vor mehr als einer Woche wurden Sie neuer Landesvorsitzender der
       Berliner SPD. Haben Sie gefeiert? 
       
       An dem Abend haben wir im Willy-Brandt-Haus das erste deutsche EM-Spiel
       gesehen. Bei mir persönlich war da vor allem das Gefühl der Verantwortung,
       die nun auf meinen Schultern ruht. Die Fußstapfen, in die ich trete, sind
       nicht gerade klein.
       
       Wie teuer war der Champagner? 
       
       Es gab Quartiermeisterbier. Das kostet bei uns im Willy-Brandt-Haus 1,50
       Euro.
       
       Wenn Sie nach dem teilweise emotionalen Wahlkampf die Hand zur Versöhnung
       ausstrecken: Was haben Sie da zu bieten? 
       
       Ein umfassendes Angebot zur Gemeinsamkeit. Es ist wichtig, dass im neuen
       Landesvorstand alle Kreisverbände vertreten sind. Wir haben mehr Frauen im
       Vorstand als je zuvor. Und auch mehr Menschen mit Migrationshintergrund.
       
       Hat Ihnen Sigmar Gabriel, der Bundesvorsitzende, schon gratuliert? 
       
       Ja, hat er.
       
       Was hat er gesagt? 
       
       Das ist persönlich. Aber natürlich sind sich Sigmar Gabriel, der Regierende
       Bürgermeister und ich einig, dass wir jetzt diese Koalition, die wir in
       Berlin haben, zum Erfolg führen wollen. Und dass wir den Berliner
       Landesverband möglichst stark und geschlossen in den Bundestagswahlkampf
       führen müssen.
       
       Die Berlinerinnen und Berliner müssen sich erst noch mit Ihnen als neuem
       SPD-Chef vertraut machen. Sie können ihnen helfen, wenn Sie uns fünf
       Eigenschaften nennen, die Ihnen ganz besonders wichtig sind. 
       
       Ich bin ein ganz gelassener Typ, verliere meinen Humor eigentlich selten
       und fahre fast immer Fahrrad, das ist allerdings keine Eigenschaft.
       
       Sagen wir also sportlich. 
       
       (lacht) Und natürlich links. Und ich freue mich, wenn Leute sagen, dass ich
       ausgleichend und integrativ bin.
       
       Was hat Sie bewogen, zur SPD zu gehen? Damals waren Sie 17 Jahre alt. Waren
       die Grünen da nicht cooler? 
       
       Die Jusos waren einfach nicht so bürgerlich wie die Grünen, und ich hatte
       mindestens damals eine sozialistische Grundeinstellung. Da wären die
       uncoolen Grünen nie infrage gekommen. Tut mir leid.
       
       Ihr Eintritt in die SPD war 1990. Das war mit Oskar Lafontaine an der
       Spitze. Waren Sie mit ihm auch gegen die Wiedervereinigung? 
       
       Nein. Es stimmt auch nicht, dass die SPD damals die Wiedervereinigung nicht
       wollte. Für mich war der Fall der Mauer ein absolut einschneidendes
       Erlebnis.
       
       Spielte Oskar Lafontaine eine Rolle bei Ihrem Eintritt? 
       
       Ja. Die Politik eines neuen Weges, des Neuanfangs nach den Kohl-Jahren, das
       hat mich damals überzeugt.
       
       Wenn er keine Fahnenflucht begangen hätte, wäre er heute noch ein Vorbild
       für Sie? 
       
       Er hat den Parteivorsitz einfach so hingeschmissen wie einen abgetragenen
       Mantel. Das war eine Schande. Am Ende stand ihm doch vor allem sein
       Alphamännchen-Gehabe im Weg.
       
       Sie kommen aus einem wenig privilegierten Elternhaus und waren der Erste in
       Ihrer Familie, der studierte. Gab es da auch eine Dankbarkeit gegenüber der
       SPD und ihrer Bildungspolitik? 
       
       Das hat definitiv eine Rolle gespielt. Mein Vater konnte später über den
       zweiten Bildungsweg Hauptschullehrer werden. Dieses Aufstiegsversprechen
       als zentrales Moment sozialdemokratischer Politik, damit bin ich groß
       geworden.
       
       Hat auch Ihr Schwulsein zur Politisierung beigetragen? 
       
       Nein. Das ist Teil meiner Persönlichkeit, aber nicht meiner Politik.
       
       Während Ihrer Studienzeit in Göttingen ebbte das politische Engagement
       merklich ab. Weil Sie sich – im Sinne preußischer Pflichterfüllung – ganz
       und gar dem Jurastudium gewidmet haben? Oder war da auch eine Portion
       Hedonismus im Spiel? 
       
       (lacht) Ich fürchte, Letzteres. Ich habe auch schon nach drei Semestern
       nach Berlin gewechselt, da gab es dann erst recht viel fürs Leben zu lernen
       – an preußische Pflichterfüllung war nicht wirklich zu denken. Aber ich bin
       froh, dass ich am Ende eine Ausbildung abgeschlossen habe, die mich auch
       unabhängig von der Politik macht.
       
       Dann reden wir doch einen Satz über den Hedonismus: Ist denn die SPD die
       Partei, die verstanden hat, wie das moderne, junge Berlin tickt? Oder ist
       es auch Ihr Job, da ein bisschen frischen Wind reinzubringen? 
       
       Jemand wie ich kann in der Berliner SPD Landesvorsitzender werden – ein
       38-Jähriger Linker, Zugezogener, dessen Heimat ganz klar Berlin ist: Das
       zeigt doch, dass die SPD eine Partei ist, die sehr offen ist für Neues. Die
       SPD verkörpert das Berlingefühl wie keine andere Partei.
       
       Was ist denn Ihr Berlingefühl? 
       
       Ich finde es positiv, dass die Stadt so international geworden ist. In
       Berlin wird inzwischen auch italienisch, französisch oder spanisch
       gesprochen. Wir sind eine wirkliche Weltgegend geworden. Außerdem spielt es
       keine Rolle, woher man kommt, was man spricht, an wen man glaubt oder wen
       man liebt. Das finde ich ganz toll.
       
       Sie sprechen jetzt über eine ganz andere Welt als die der
       Hartz-IV-Empfänger und Modernisierungsverlierer, die es in Berlin auch
       gibt. 
       
       Nehmen Sie den Wrangelkiez: Ich finde es nicht schlecht, was sich da
       verändert hat. Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, man hätte das auf dem
       Stand von 1985 konservieren sollen, weil man da auf der Straße noch Fußball
       spielen konnte. Da ist die Lebensqualität heute doch eine ganz andere.
       
       Weil die Besserverdienenden den Wrangelkiez erobert haben? 
       
       Nicht nur. Es ist sicherer geworden und auch internationaler. Es sind auch
       Nachbarschaftsinitiativen und Feste im Kiez entstanden, die den sozialen
       Zusammenhalt stärken.
       
       Jetzt sprechen Sie wie ein Projektentwickler und nicht wie der Sprecher der
       SPD-Linken, der gerade Landesvorsitzender seiner Partei geworden ist und
       mehr Engagement im Kampf gegen Mietsteigerungen fordert. 
       
       Gegenfrage: Was sollte denn ein SPD-Linker sagen? Alles beim Alten lassen
       und jede Veränderung bekämpfen? Das werden Sie bei mir nicht vorfinden. Die
       Politik der SPD ist es, dafür zu sorgen, dass auch im Wrangelkiez Menschen
       mit geringerem Einkommen wohnen bleiben können. Ich finde schon, dass es
       ein Recht darauf gibt, auch in der Innenstadt zu leben.
       
       Was ist links für den Sprecher der Berliner Linken, wenn es um die
       Stadtpolitik geht? 
       
       Links bedeutet vor allem, dass man die ökonomische Verteilungsfrage ernst
       nimmt. In der Stadtpolitik heißt das, dass es weiterhin eine soziale
       Mischung geben muss. Dann die Orientierung auf Arbeitnehmerinteressen und
       ein enger Kontakt zur Gewerkschaftsbewegung. Und bei allem: der Kampf für
       Toleranz und Offenheit.
       
       Haben Sie deshalb ein innerparteiliches Bündnis mit der SPD-Rechten in
       Neukölln geschmiedet? Mit dem Sarrazin-Freund Buschkowsky für ein offenes
       und multikulturelles Berlin? 
       
       Sie werden lachen. Ich finde schon, dass die Neuköllner SPD und das
       Bezirksamt sich dort ernsthaft um die Probleme kümmern. Das ist keine
       ideologische Verblendung, sondern der Wunsch, die Lebensbedingungen der
       Menschen zu verbessern.
       
       In den drei Antworten auf die Frage nach linker Politik fiel nicht das
       Stichwort „öffentliche Daseinsvorsorge“. 
       
       Da ist so sehr SPD-Kernthema geworden, dass ich es gar nicht mehr
       ausdrücklich nennen muss. Im Ernst: Als wir 2005 bei uns im Kreisverband
       gesagt haben: Das, was da mit dem Wasser passiert ist, ist eine
       Katastrophe, wurden wir sehr stark ausgegrenzt. Mittlerweile ist die
       Forderung nach Rekommunalisierung und einer starken öffentlichen
       Daseinsvorsorge mehrheitsfähig. Heute wissen wir, dass eben nicht alle
       Aufgaben von Privaten erfüllt werden können. Ganz im Gegenteil.
       
       Ist die Aufgabe, S-Bahnen fahren zu lassen, von der S-Bahn GmbH, der
       Tochter eines öffentlichen Unternehmens, auch gut erfüllt worden? 
       
       Nein, sie ist sehr schlecht erfüllt worden. Die Politik hat da auf einen
       Börsengang der Bahn gesetzt. Damit hat man die S-Bahn als Tochter der Bahn
       in ernste Schwierigkeiten gebracht.
       
       Nun ist der Kelch der Privatisierung an der Bahn erst mal vorbeigegangen.
       Heißt das für Sie, dass die S-Bahn GmbH ab 2017 weiter der natürliche
       Betreiber sein muss? Den Betrieb an die BVG oder ein noch zu gründendes
       kommunales Unternehmen zu geben, wäre für das Land schließlich finanziell
       nicht zu stemmen. 
       
       Es stimmt, da gibt es große Widerstände. Ob man das auch in kommunaler
       Regie machen kann, ist nie richtig durchgerechnet worden. Ich kann mit der
       S-Bahn GmbH jedenfalls besser leben als mit privaten Anbietern und der
       Situation, dass wir am Ende drei oder vier Private haben, die das Netz
       befahren.
       
       Herr Stöß, Sie erklären uns gerade, dass Ihre Position als SPD-Chef mit der
       des Koalitionsvertrags nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Dort steht,
       dass es eine Teilausschreibung gibt, wenn eine Ausschreibung des gesamten
       Netzes rechtlich nicht möglich ist. 
       
       Abgeordnetenhaus und Senat beraten hierzu. Ich finde es gut, dass alle
       Seiten nach der wirklich besten Lösung suchen.
       
       Die Frage einer Gesamtausschreibung prüft derzeit der Wissenschaftliche
       Parlamentsdienst. Wenn er zu der Auffassung kommt, dass das nicht geht, was
       machen Sie dann? 
       
       Warten wir das Gutachten doch erst einmal ab.
       
       Muss man den Koalitionsvertrag an dem Punkt notfalls noch mal aufschnüren? 
       
       Ich bin skeptisch, ob die CDU überhaupt der Auffassung ist, dass es bei der
       S-Bahn viele private Betreiber geben soll. Mein Eindruck ist, dass beide
       Regierungsparteien eine solche Situation schwierig fänden.
       
       Haben Sie mit Frank Henkel, Ihrem Kollegen als Landesvorsitzendem bei der
       CDU, darüber schon gesprochen? 
       
       Wir treffen uns bald. Da werden wir dann natürlich über alle aktuellen
       Themen reden.
       
       Wer müsste in Berlin denn mehr Angst vor Neuwahlen haben? Die SPD oder die
       CDU? 
       
       In Berlin wird es keine Neuwahlen geben.
       
       Sie schließen einen Bruch von Rot-Schwarz aus? 
       
       Ja.
       
       Bis zum Ende der Legislaturperiode 2016? 
       
       Wir werden mit der CDU bis zum Herbst 2016 regieren. Bisher macht dieser
       Senat doch eine ordentliche sozialdemokratische Politik.
       
       So hat das auch Raed Saleh, der SPD-Fraktionsvorsitzende, bei seiner
       Antrittsrede im Abgeordnetenhaus beschrieben. Die CDU war not amused. 
       
       Durchaus treffend hat er das im Plenum so vorgetragen, auch CDU-Abgeordnete
       klatschten da.
       
       Herr Stöß, Sie sind hauptberuflich Richter am Verwaltungsgericht. Wo nehmen
       Sie die Kraft her, das durchzustehen? Wo tanken Sie auf? 
       
       Ich würde mich als glücklichen Menschen betrachten – wenn ich etwas zu tun
       habe. Aber zwischendurch muss ich schon mal in den Urlaub fahren. Und beim
       Fahrradfahren kann man auch über sich selbst nachdenken.
       
       Wenn Herr Nußbaum über seinen Schatten gesprungen wären und Sie wären nun
       Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Finanzen, wären Sie dann auch
       SPD-Landesvorsitzender? 
       
       Ihre Frage enthält ja eine Unterstellung, die nicht richtig ist. Richtig
       ist aber, dass ein Landesvorsitzender nicht Weisungen von anderen
       unterliegen sollte.
       
       Rache ist auch ein Motiv, das Ihnen als Krimifan vertraut sein dürfte.
       Haben Sie nur deshalb kandidiert, weil Sie nicht Staatssekretär geworden
       sind? 
       
       Zu Herrn Nußbaum habe ich ein völlig geklärtes, gutes Verhältnis. Da gibt
       es nichts zu rächen.
       
       17 Jun 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Antje Lang-Lendorff
 (DIR) Uwe Rada
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Stöß und Diepgen im Zoo: Alphatiere im Flusspferdhaus
       
       Der neue SPD-Chef Jan Stöß muss sich mal wieder mit Hackordnungen
       auseinandersetzen.
       
 (DIR) Rotes Tuch für CDU: Warnsignale an die Koalition
       
       Der neue SPD-Chef Jan Stöß stellt im Konflikt um eine Teilausschreibung der
       S-Bahn den Koalitionsvertrag mit der CDU in Frage. Am Mittwoch trifft er
       Frank Henkel.