# taz.de -- Debatte Wahl in Mexiko: Feudale Demokratien
       
       > Die Mexikaner sind bereit, an diesem Sonntag eine korrupte Partei an die
       > Macht zu bringen. Ist Bestechung schon so selbstverständlich? Ein
       > Erklärungsversuch.
       
 (IMG) Bild: Lassen sich nicht mehr täuschen: Jugendliche der Bewegung „YoSoy132“ am Samstag in Mexiko City.
       
       Auch junge Mexikaner müssten es eigentlich wissen, selbst wenn sie nur eine
       vage Erinnerung an die letzte Zeit der 71 Jahre währenden PRI-Herrschaft
       haben: Diese Partei der institutionalisierten Revolution ist durch und
       durch korrupt. Es steht in den Zeitungen, fast täglich.
       
       Zuletzt wurde der Gouverneur des Teilstaats Tamaulipas aus der PRI
       ausgeschlossen, weil er in seiner Amtszeit fast 6 Millionen Euro
       Schmiergeld von Drogenkartellen eingesteckt hatte. Da fehlten nur noch fünf
       Wochen bis zur Präsidentschaftswahl. Vorher schon hatte Parteichef Humberto
       Moreira zurücktreten müssen. Er hatte als Gouverneur von Coahuila rund 2
       Milliarden Euro mit gefälschten Rechnungen belegt. Und trotzdem scheinen
       die Mexikaner wild entschlossen, am 1. Juli eben diese PRI nach zwölf
       Jahren zurück an die Macht zu wählen.
       
       Zwar ist mitten im Wahlkampf ganz unerwartet eine kleine Protestbewegung
       für mehr Transparenz entstanden: ein Ableger der Occupy-Bewegung, der sich
       etwas kryptisch [1][//twitter.com/YoSoy132:#YoSoy132] nennt, ein Suchwort
       im sozialen Netzwerk Twitter. Der Name ist nach einem offenen Protestbrief
       von 131 Studenten an den PRI-Kandidaten Enrique Peña Nieto entstanden und
       bedeutet: Ich bin der 132. Unterzeichner.
       
       Es sind zwar inzwischen etliche Tausend, aber noch ist nicht heraus, ob die
       Bewegung den 1. Juli überlebt. In den Umfragen jedenfalls hat sie dem
       PRI-Kandidaten nicht geschadet. Für die Mehrheit der Mexikaner ist
       Korruption offenbar so selbstverständlich, dass sie keine Rolle bei der
       Wahlentscheidung spielt.
       
       Das Phänomen ist keineswegs auf Mexiko begrenzt und lässt sich auch nicht
       nach dem politischen Links-rechts-Schema verorten. Man weiß heute, dass
       Chiles ehemaliger Diktator Augusto Pinochet nicht nur grausam war, sondern
       sich auch selbst bereichert hat, genauso wie Guatemalas ehemaliger rechter
       Präsident Alfonso Portillo.
       
       ## Von Korruption durchfressen
       
       Das Venezuela des Linkspopulisten Hugo Chávez wird im jüngsten
       Korruptionsranking von Transparency International auf Platz 172 (von
       insgesamt 182 Ländern) geführt, Brasiliens gemäßigt linke Präsidentin Dilma
       Rousseff hat innerhalb nur eines Jahres sieben ihrer Minister wegen
       Korruptionsvorwürfen entlassen.
       
       Auch ihr Vorgänger Lula da Silva war nicht frei von dieser Plage. Er musste
       2005 seinen Kabinettchef José Dirceu in die Wüste schicken. Nicht, weil
       dieser bestechlich war, sondern weil er bestochen hatte. Dirceu hatte mit
       Schwarzgeld im Parlament die Stimmen zusammengekauft, die nötig waren, um
       die rechtliche Grundlage für Lulas Sozialpolitik zu schaffen. Anders
       gesagt: Ohne Korruption hätten 40 Millionen Brasilianer und
       Brasilianerinnen in den acht Jahren von Lulas Regierung die Armut nicht
       überwinden können.
       
       Korruption ist das Schmiermittel lateinamerikanischer Politik, und das hat
       tiefe historische Wurzeln. Die Region ist bis heute vom spanischen Vorbild
       geprägt. Die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht vor 200 Jahren war nicht
       die Unabhängigkeit der Ureinwohner von den Eroberern, sondern die der
       Kolonisatoren von ihrer Mutter.
       
       Diese spanischstämmige Oligarchie hat das mitgebrachte Sozial- und
       Wirtschaftsmodell einfach auf die neuen Staaten übertragen: Der Patrón, der
       auf der Hacienda bestimmt, ist das Vorbild heutiger Präsidialdemokratien.
       Das Volk kuscht und bekommt dafür die Brosamen ab, wie seinerzeit die
       Knechte. Man lebt für den Patrón und gleichzeitig von den Wohltaten, die er
       verteilt, wie es ihm gefällt.
       
       ## Selbstherrliche Bestimmer
       
       Bis heute nennt man in Lateinamerika Regierungsfunktionäre nicht
       „öffentliche Bedienstete“ – also Diener des Gemeinwohls. Man nennt sie
       „Autoridades“: diejenigen, die selbstherrlich zu bestimmen haben.
       
       Bei einem Regierungswechsel tauscht der Präsident nicht nur die Minister
       und hohen politischen Beamten aus, sondern alle – bis hinunter zum
       Briefträger und Müllmann. Dieses System der Klientel- und Vetternwirtschaft
       ist so allgemein akzeptiert, dass selbst die kleinsten Parteifreunde eines
       Gewählten das Recht auf einen Staatsjob zu haben glauben.
       
       Es ist längst üblich geworden, dass die Gattinnen von Präsidenten zu
       Ministerinnen ernannt (bis Anfang dieses Jahres in Guatemala und aktuell in
       El Salvador und Nicaragua) oder Nachfolgerinnen des Ehemanns im höchsten
       Staatsamt werden (wie in Argentinien), oder es zumindest versuchen (wie in
       Guatemala und Honduras). Fast niemand in Lateinamerika stört sich daran.
       
       Und auch ein anderes, noch schlimmeres Erbe kam aus Spanien: So, wie die
       Franco-Diktatur Vorbild der lateinamerikanischen Militärregimes der 1960er
       bis 1980er Jahre war, diente danach der in Madrid ausgehandelte Übergang
       zur Demokratie als Blaupause auf der anderen Seite des Atlantiks. Wie in
       Spanien wurde kein Scherge der Diktatur zur Rechenschaft gezogen. Die
       Demokratie bekam als Fundament das Unrechtssystem der Straffreiheit. In
       diesem Jahr noch wurde im demokratischen Spanien der Untersuchungsrichter
       Baltasar Garzón mit einem Berufsverbot bestraft, weil er angeordnet hatte,
       Massengräber aus der Zeit der Franco-Diktatur zu öffnen.
       
       ## Mörder sind angesehene Leute
       
       Dass Argentinien, Chile und ein bisschen auch Guatemala Jahrzehnte später
       dann doch noch mit der Aufarbeitung ihrer dunklen Geschichte begannen,
       lässt immerhin hoffen. Die drei Länder sind die Ausnahme. In der Regel sind
       die Massenmörder von gestern bis heute angesehene und einflussreiche
       Politiker oder Wirtschaftsbosse.
       
       Wer bereit ist, über Mord und Totschlag einfach hinwegzusehen und dies dann
       auch noch einen geordneten Übergang zur Demokratie nennt, der kann sich
       über ein paar unterschlagene Millionen nicht aufregen. Zumal das zugrunde
       liegende System der Straffreiheit genauso Voraussetzung für eine totale
       Vergangenheitsamnesie ist wie für die Korruption.
       
       Auf der Hacienda war der Patrón an kein Gesetz gebunden – er war das
       Gesetz, die „Autoridad“. Dasselbe Gesellschaftsmodell findet sich bis heute
       in den Präsidialverfassungen Lateinamerikas, im Selbstverständnis der
       Präsidenten und in der politischen Kultur. Checks and Balances sind, wenn
       überhaupt, dann nur rudimentär vorhanden.
       
       Die Staaten sind zwar formale Demokratien, die Regierungen werden gewählt.
       Republiken im Sinne einer res publica aber, in denen der Staat das
       Gemeingut aller ist, das sind sie noch lange nicht.
       
       Auch wenn es wie ein Widerspruch in sich selbst klingen mag:
       Lateinamerikanische Staaten sind am ehesten so etwas wie Feudaldemokratien,
       in denen der Feudalherr zwar gewählt wird, danach aber das Land als sein
       Eigentum verwaltet. Was in einer Republik Korruption genannt wird, ist in
       dieser lateinamerikanischen Staatsform eine Selbstverständlichkeit. Warum
       also nicht eine korrupte Partei wählen?
       
       1 Jul 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://https
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Toni Keppeler
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt USA unter Donald Trump
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Linker Kandidat will Ergebnis anfechten: „Schmutzige“ Wahl in Mexiko
       
       Stimmenkauf und Manipulation der Wahlergebnisse in Mexiko. Der unterlegene
       Linke, López Obrador, erhebt schwere Vorwürfe gegen Wahlsieger Peña Nieto.
       
 (DIR) Mexikos Präsident: Neues, altes Gesicht
       
       Enrique Peña Nieto ist neuer Präsident Mexikos. Obwohl er als frisches
       Gesicht präsentiert wird, ist er doch eng verbunden mit den alten,
       korrupten Eliten.
       
 (DIR) Regierungswechsel in Mexiko: Comeback der PRI mit Peña Nieto
       
       Die in den Augen vieler diskreditierte frühere Staatspartei PRI schafft mit
       ihrem Präsidentschaftskandidaten Enrique Peña Nieto die Rückkehr an die
       Macht.
       
 (DIR) Kommentar Wahl in Mexiko: Die alten Strukturen bleiben intakt
       
       Die in Mexiko regierende PAN ist für den Wahlsieg der alten Mächte
       verantwortlich. Die liberale Wirtschaftspolitik von PAN hat die Armut
       vergrößert und die Gewalteskalation ausgelöst.
       
 (DIR) Wahl in Mexiko: Oppositionskandidat gewinnt
       
       Einheit und Versöhnung: Dazu rief der künftige Präsident Mexikos die
       Bevölkerung nach der Wahl auf. Enrique Peña Nieto von der
       Institutionalisierten Revolution lag am Ende klar vorn.
       
 (DIR) Wahl in Mexiko: Sehnsucht nach dem Alten
       
       Die Mexikaner haben Gewalt und Armut satt. Die Partei des jetzigen
       Präsidenten Felipe Calderón werden sie deswegen vermutlich abwählen.
       
 (DIR) US-Justizminister unter Druck: Republikaner wollen Holder abstrafen
       
       Es geht um Waffenschmuggel an der Grenze zu Mexiko und Machtspielchen im
       Wahlkampf: Die Republikaner wollen Eric Holder im Kongress mit einer
       „Missbilligung“ bestrafen.
       
 (DIR) Zehntausende demonstrieren in Mexiko: Protest gegen „korrupten Kandidaten“
       
       Mehr als 90.000 Menschen gehen in Mexiko gegen Peña Nieto auf die Straße.
       Die Demonstranten werfen dem Favoriten auf das Präsidentschaftsamt
       Korruption vor.
       
 (DIR) Studentenproteste in Mexiko: „Yo soy 132“ mischt Wahlkampf auf
       
       Die Präsidentschaftswahl am 1. Juli schien schon entschieden. Nun bringt
       eine neue studentische Bewegung das politische Szenario Mexikos gründlich
       durcheinander.