# taz.de -- Kriegsverbrecher-Prozess in Stuttgart: Vor der Richterbank ist Wahrheit relativ
       
       > Seit Mai 2011 stehen in Stuttgart zwei Hutu-Milizenführer wegen
       > Kriegsverbrechen im Kongo vor Gericht. Auch das Gericht selbst steht auf
       > dem Prüfstand.
       
 (IMG) Bild: Ein Kämpfer der FDLR: „Die Verhaftung sollte uns zum Aufgeben zwingen, aber unser Kampf geht weiter.“
       
       STUTTGART taz | Es ist heiß an diesem Nachmittag, die Prozessbeteiligten im
       stickigen Saal 6 des Oberlandesgerichts Stuttgart dösen mehr oder weniger
       vor sich hin. Der Verhandlungstag 96, der letzte vor der Sommerpause, geht
       zu Ende. Gerade hat der ruandische Dolmetscher das abgehörte Telefonat
       Nummer 7.152 vom 28. August 2009 übersetzt.
       
       Darin rätseln Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni, die beiden
       Angeklagten, warum der deutsche Internet-Provider OVH ihre Webseite
       [1][www.fdlr.org] abgeschaltet hat. „Der Grund ist, dass es Leute gibt, die
       angerufen haben und gesagt haben, dass es die Internetseite von Mördern
       ist“, erklärt Musoni, Vizepräsident der im Kongo kämpfenden ruandischen
       Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas), seinem
       Präsidenten Murwanashyaka.
       
       Davor hat einer der sechs Richter die deutsche Übersetzung eines
       UN-Berichts verlesen. Es geht um ein Massaker im ostkongolesischen Dorf
       Busurungi in der Nacht zum 10. Mai 2009, bei dem laut Anklageschrift
       FDLR-Kämpfer „mindestens 96 Zivilisten erschossen, erstachen, erschlugen
       oder zerhackten“. Die UN-Ermittler, die Busurungi Tage später besuchten,
       berichten, ganze Familien von FDLR-Kämpfern hätten sich beteiligt, mit
       Stöcken und Macheten. „Es gab auch Kinder, die Kinder getötet haben“,
       schreiben sie.
       
       Ein Zeuge erzählte dem UN-Team, wie eine Frau mit ihren fünf Kindern in
       ihrem Haus eingeschlossen und verbrannt wurde. Der Vater eines anderen
       wurde mit einer Machete aufgeschlitzt, die Leiche auf die Straße geworfen.
       „Die FDLR hat nach den Angriffen gefeiert und gesungen: ’Wohin ihr auch
       geht, FDLR wird euch folgen‘ “, heißt es.
       
       ## Jahrelange Ermittlungen
       
       Das Massaker von Busurungi ist der schlimmste einzelne Tatvorwurf in dem
       Kriegsverbrecherprozess, der seit 4. Mai 2011 im OLG Stuttgart läuft.
       Murwanashyaka und Musoni, die seit vielen Jahren in Deutschland leben, sind
       beschuldigt, als Präsident und Vizepräsident der ruandischen Miliz FDLR
       systematische Verbrechen gegen die kongolesische Zivilbevölkerung
       verantwortet und nicht verhindert zu haben.
       
       Zusätzlich seien sie Mitglieder beziehungsweise Rädelsführer einer
       ausländischen terroristischen Organisation. Das ist das Ergebnis
       jahrelanger Ermittlungen der Bundesanwaltschaft, die Tausende
       Telefongespräche, E-Mails und SMS-Nachrichten auswertete. In Ruanda
       befragten die Ermittler Dutzende ehemaliger FDLR-Kämpfer. Sie holten auch
       Aussagen von kongolesischen Opfern ein.
       
       Noch nie hat die deutsche Justiz ein derartiges Verfahren gestartet – nach
       dem Völkerstrafgesetzbuch, das das Rom-Statut des Internationalen
       Strafgerichtshofs in deutsches Recht überträgt. Zuständig ist sie, weil die
       beiden Angeklagten seit vielen Jahren in Deutschland leben und die FDLR von
       Baden-Württemberg aus führten.
       
       Parallel dazu läuft in Frankfurt ein Völkermordprozess gegen den
       ruandischen Exbürgermeister Onesphore Rwabukombe, ebenfalls wohnhaft in
       Deutschland, wegen Massakern an Tutsi während des Genozids in Ruanda 1994.
       All das ist ein eindeutiges Signal: Mutmaßliche Kriegsverbrecher, die in
       Deutschland leben, sollen nicht straffrei davonkommen.
       
       ## Nur wenige Zuschauer
       
       Im Vergleich zu dieser historischen Aufgabe erscheint das Prozessgeschehen
       in Stuttgart erstaunlich banal. Das einzige, was im OLG-Gebäude in der
       Stuttgarter Olgastraße auf etwas Außergewöhnliches hindeutet, ist die
       Sicherheitsschleuse vor Saal 6. Drinnen verlieren sich meist nur wenige
       Zuschauer auf den hölzernen Klappsitzen im Publikumsraum. Und zweimal die
       Woche, montags und mittwochs kurz nach halb zehn, wiederholt sich die
       gleiche Prozedur.
       
       Die Angeklagten werden einzeln von Polizeibeamten mit Handschellen in den
       Gerichtssaal und auf die Anklagebank geführt, die Verteidigung wartet
       schon, auch die Vertreter der Bundesanwaltschaft sitzen schon da in ihren
       roten Roben. Sobald die Mitglieder des 5. Strafsenats den Saal betreten,
       werden den Angeklagten die Handschellen abgenommen. Sämtliche Anwesenden
       erheben sich, bis der Vorsitzende Richter Hettich durch seine Brille den
       Saal mustert und freundlich mit leicht schwäbischem Akzent sagt: „Bitte
       nehmen Sie Platz.“
       
       Was dann passiert, ist oft schwer zu verstehen. Scheinbar zufällig greift
       der Senat in den Fundus der Beweismittel der Anklage und lässt ohne
       erkennbare Logik in der Abfolge Telekommunikationsüberwachungsprotokolle
       oder Dokumente verlesen, die bereits in den Akten stehen. Es geht darum, ob
       die vor Gericht von Dolmetschern live vorgenommene Neuübersetzung von
       Telefongesprächen auf Kinyarwanda oder Französisch den Übersetzungen in der
       Akte entspricht, und was die Verteidigung dazu sagt, wie die Anklage die
       Beweismittel bewertet.
       
       Es sind Phasen des Prozesses, die kein Ende zu nehmen scheinen. Das
       Prozessgeschehen bezieht sich dann darauf, dass die Verteidigung versucht,
       den Beweiswert oder auch die Glaubwürdigkeit der Beweismittel anzuzweifeln,
       zuweilen mit robusten Methoden: so wird dem ruandischen Dolmetscher
       Unfähigkeit unterstellt. Auch wenn schließlich doch Zeugen auftreten, seien
       es extra eingeflogene ehemalige FDLR-Kämpfer aus Ruanda oder Experten,
       dreht sich die Befragung oft langwierig um den Abgleich ihrer Aussagen in
       Stuttgart mit denen ihrer Vernehmung durch deutsche Staatsanwälte Jahre
       vorher.
       
       ## Geschichtskonflikt
       
       Dabei geht es um grundlegende Dinge, nämlich die unterschiedlichen
       Versionen der Geschichte Ruandas und Kongos und den Charakter der FDLR: Ist
       sie eine politische Bewegung mit legitimen Zielen, deren militärisches
       Handeln sich darauf beschränkt, ruandische Hutu-Flüchtlinge zu schützen?
       Oder ist sie eine Terrororganisation in der Nachfolge des ruandischen
       Völkermordes, die in Teilen des Kongo ein Schreckensregime führt?
       
       Das zu beurteilen, setzt detailliertes Wissen über die Region voraus. Doch
       die Verfahrensbeteiligten in Stuttgart bemühen sich nicht sichtbar, dieses
       Wissen systematisch zu erlangen. Ebenfalls nicht vorhanden sind offenbar
       brauchbare detaillierte Landkarten des Ostkongo, die den Ablauf des
       Kriegsgeschehens verständlich machen würden. Gerade wenn der
       Geschichtskonflikt zwischen Verteidigung und Anklage tobt, wirken die
       Senatsmitglieder oft desinteressiert.
       
       Dabei liefern die überwachten Telefongespräche und E-Mails immer wieder
       interessante historische Erkenntnisse. So diskutiert Murwanashyaka mit
       hochrangigen Verantwortlichen der FDLR über neue Strategien, das Image der
       Miliz international aufzupolieren, um nicht mehr als verbrecherisch
       angesehen zu werden. Vor diesem Hintergrund erließ Murwanashyaka im Jahr
       2009 Anweisungen an seine Kämpfer, den Kampf zwar fortzuführen, jedoch
       keine Vergewaltigungen und Morde mehr zu begehen. Denn Murwanashyaka wusste
       schon damals genau, dass er für solche Verbrechen eines Tages zur
       Verantwortung gezogen werden würde.
       
       In einem Gespräch mit Musoni am 18. Juli 2009 zählt der FDLR-Präsident die
       Vorwürfe auf, mit denen er zu rechnen habe: „Erstens Vergewaltigung, das
       habe ich schon erzählt. Der andere Vorwurf gegen uns sind all diese
       Massaker. Ein weiterer Vorwurf gegen uns ist die Ausbeutung des Reichtums
       des Kongo. Schließlich gibt es den Vorwurf, wir würden die Entwaffnung
       ablehnen. Es sind diese vier Punkte“, sagt Murwanashyaka. „Gott ist mitten
       in unserem Kampf. Ich frage mich manchmal, warum sie uns nicht verhaften.“
       
       So wie Murwanashyaka sich bereits im Vorfeld detailliert vorbereitete, so
       wirkt er auch im Gerichtssaal stets konzentriert. Er gibt seinen
       Verteidigern regelmäßig Hinweise, welche Fragen zu stellen sind. Ebenso
       Musoni. Doch eine eigene Aussage haben beide bisher verweigert.
       
       ## Aus Ruanda eingeflogen
       
       Besonders genau hören die beiden Angeklagten hin, wenn in Stuttgart
       ehemalige FDLR-Kämpfer auftreten, die sich von der UNO haben demobilisieren
       und nach Ruanda zurückbringen lassen, wo sie jetzt als Zivilisten leben. 12
       von 32 geplanten Zeugen aus Ruanda konnten bisher vernommen werden.
       
       Einer der wohl wichtigsten von ihnen war im Oktober 2011 der ehemalige
       Militärchef der FDLR, Paul Rwarakabije, heute hoher Staatsbeamter in
       Ruanda. Er bestätigte, dass Murwanashyaka Leitlinien für die Soldaten
       entwickelt habe, dass ihm regelmäßig Bericht erstattet wurde.
       „Murwanashyaka gab Feedback, damit wir wussten, was wir machen sollten“,
       schildert er die Rolle des FDLR-Präsidenten. „Das letzte Wort hatte er.“
       
       Ein weiterer Zeuge antwortet auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen
       Murwanashyaka und seinen Kämpfern: „Als Kind muss man den Vater
       respektieren.“ Ein anderer sagt aus, dass die FDLR Plünderungen auf Befehl
       verübt habe, als Überlebens- und Trainingsstrategie. Zwar habe
       Murwanashyaka erklärt, dass Plünderungen und Raub nicht mit den Zielen der
       FDLR vereinbar wären, doch habe dies vor Ort keine Rolle gespielt. Nur
       Plünderungen ohne Befehl seien bestraft worden.
       
       Murwanashyaka, erinnern sich weitere, habe es stets abgelehnt, den
       bewaffneten Kampf einzustellen, um seinen Einfluss auf die kongolesischen
       und ruandischen Regierungen nicht zu verlieren. Daher kamen regelmäßig
       Botschaften von ihm, um die Kämpfer zu motivieren.
       
       Eine Standardfrage von Senat und Bundesanwaltschaft an FDLR-Zeugen in
       Stuttgart lautet: War Präsident Murwanashyaka auch der militärische Führer?
       Die Antwort war immer dieselbe: Er sei der oberste Führer, der wie jeder
       andere Staatspräsident den Oberbefehl über die Armee habe, wobei die
       Befehle im Einzelnen vom höchsten FDLR-Militärführer im Kongo selbst kamen,
       General Sylvestre Mudacumura. Daher ist von zentraler Bedeutung, wie
       Murwanashyaka und Mudacumura miteinander kommunizierten. Gab Murwanashyaka
       auch Befehle an seinen Armeechef? Oder hätte er es zumindest tun können,
       unterließ es aber? Das sind die Kriterien der sogenannten
       „Vorgesetztenverantwortlichkeit“.
       
       2009, kurz bevor die Armeen Kongos und Ruandas gemeinsam gegen die FDLR
       vorgingen, habe Murwanashyaka Befehle an Mudacumura geschickt, so ein
       Zeuge: „Er teilte uns mit, die ruandische und die kongolesische Armee
       würden zusammenarbeiten, um uns zu bekämpfen. Laut Telegramm sollten wir
       der kongolesischen Bevölkerung mitteilen, dass sie nicht mit den Armeen
       zusammenarbeiten solle. Diejenigen, die mit ihnen zusammenarbeiten,
       betrachten wir als Feind. Das stand im Telegramm, es kam von Murwanashyaka.
       So teilte es uns Mudacumura mit.“
       
       Diese Aussage ist wichtig, denn in der Folge beging die FDLR zahlreiche
       Rachefeldzüge gegen kongolesische Gemeinden, deren Bewohnern sie vorhielt,
       mit dem Feind zu kooperieren. Und genau diese Rachefeldzüge sind Gegenstand
       der deutschen Anklage.
       
       ## Traumatisierte Zeugen
       
       Aus Sicht der Verteidigung ist all dies kein Beleg für irgendetwas, da es
       sich nicht um direkte Zeugen der vorgeworfenen Verbrechen handele. Immer
       wieder übt die Verteidigung – und das ist ja auch ihre Aufgabe – durch
       aggressive Befragung Druck auf die Zeugen aus. Ziel ist, die Zeugen zu
       verunsichern und mögliche Lücken und Widersprüche in den Aussagen
       aufzudecken. Regelmäßig wirft die Verteidigung dem Senat vor, seiner
       Pflicht zur Sachaufklärung nicht nachzukommen.
       
       Für die FDLR-Zeugen ist dies eine Herausforderung. Sie treten ja nicht nur
       erstmals vor einem deutschen Richter auf; für viele ist es vermutlich ihre
       erste Überseereise überhaupt und auch das erste Mal, dass sie ihren
       Präsidenten Murwanashyaka leibhaftig zu Gesicht bekommen.
       
       Angriffe auf Zivilisten habe die FDLR nicht begangen, sagen die
       FDLR-Zeugen. In den Befragungen wird aber deutlich, dass die Miliz eine
       eigene Definition von Zivilisten hat. All jene, die in ihren Dörfern mit
       Feinden der FDLR – ab 2009 also auch Kongos Armee – zusammenlebten, werden
       nicht als Zivilisten angesehen. Daher gibt es nach dem Verständnis der FDLR
       keine Übergriffe auf Zivilisten, wenn die Miliz diese Dörfer angreift.
       
       Wenn Vertreter der FDLR von Zivilisten sprechen, meinen sie in der Regel
       die von ihnen selbst geschützten ruandischen Hutu-Flüchtlinge. Einige von
       ihnen kamen als Kinder zur FDLR. Manche hatten im Krieg Angehörige
       verloren. Die FDLR bot ihnen Schutz und Struktur. Schaubilder über die
       politischen und militärischen Organe der FDLR werden im Gerichtssaal
       präsentiert. Murwanashyaka wurde als Präsident wahrgenommen, sogar als
       gottgleich. Ein FDLR-Veteran sagt, es habe 12-Jährige als Hilfskräfte
       gegeben – „weil jemand, der Flüchtling im Kongo ist, keine andere Wahl
       hat“.
       
       ## Die Zeugen widersprachen
       
       Für die ruandischen Zeugen wäre eine psychologische Betreuung in Stuttgart
       sicherlich von Vorteil gewesen. Einige bekamen zwar einen Rechtsbeistand,
       der jedoch während der Vernehmung kaum eine Rolle spielte. Jedem wurde
       vorab erklärt, dass er im Falle der Selbstbezichtigung die Aussage
       verweigern könne; als Auslandszeugen könnten sie sogar die komplette
       Aussage verweigern, wie die Verteidigung stets betonte.
       
       Doch dann widersprachen die Zeugen und sagten, dass sie ja gekommen seien,
       um auszusagen. Es schien ihnen undenkbar, nach dem langen Flug aus Ruanda
       nach Deutschland vor Gericht aufzutreten, nur um dann nichts zu sagen.
       
       Am detailliertesten schilderten die Zeugen dann, wie sie zur FDLR kamen und
       wie ihre Zeit dort aussah. Einigen war deutlich anzusehen, wie belastend es
       für sie war, zum Beispiel über den Tod ihrer Angehörigen zu sprechen. Man
       kann davon ausgehen, dass diese Zeugen schwersttraumatisiert sind. Eine
       entsprechende Betreuung und Vorbereitung hat das Gericht ihnen indes nicht
       ermöglicht.
       
       Der Prozess dürfte noch Jahre dauern, es sei denn, die Angeklagten
       gestehen. Wichtige Zeugen kommen erst noch, die bereits geladenen kommen
       wohl alle noch mal. Am 10. September geht es weiter. Die Verteidigung hat
       eine Erklärung zum UN-Bericht zu Busurungi angekündigt.
       
       19 Aug 2012
       
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