# taz.de -- Libertinage in den USA: „Wir müssen den Sex verteidigen“
       
       > Die amerikanische Historikerin Dagmar Herzog über Obamas Triumph, Angst
       > vor Sex, eingeschränkte weibliche Selbstbestimmung und die Macht des
       > „Pink Money“.
       
 (IMG) Bild: Hier küssen sich Katie Sawatske (l.) und Corri Riczu öffentlich in Hollywood/USA. Und das werden sie auch weiterhin tun.
       
       taz: Frau Herzog, wir wollen über Politik und Selbstbestimmung reden.
       Bedeutet der Sieg Obamas auch einen Triumph für die sexuellen Bürgerrechte? 
       
       Dagmar Herzog: Ja, und das ist so erleichternd. Es geht einerseits um die
       Homoehe, aber auch um Verhütungsmittel für arme Frauen – und um ein
       richtiges Verständnis von Vergewaltigung. Zwei republikanische Politiker
       haben im Wahlkampf ganz offen gesagt, das Frauen auch im Fall einer
       Vergewaltigung das Kind austragen sollen.
       
       Wie bitte? 
       
       Nicht nur: Kein Recht auf Abtreibung! Sondern auch: Es sei ja von
       Medizinern erwiesen, dass der weibliche Körper, wenn er wirklich keine Lust
       auf diesen fremden Mann hätte, gar nicht schwanger würde. Das hat eine
       unglaubliche Reaktion ausgelöst.
       
       Eine depressive wie bei vielen Liberalen und Linken vor vier Jahren? 
       
       Eine wütende. Das hat eine immense Mobilisierung bewirkt, eben auch unter
       konservativen Frauen. Das Gleiche passierte im Fall der Verhütungsmittel:
       Eine junge Studentin hatte im Kongress berichtet, wie wichtig es für sie
       gewesen sei, staatliche Unterstützung für die Pille zu bekommen.
       
       In ultrakonservativen Medien wurde sie dann als Nutte bezeichnet, das war
       sehr hässlich. Aber das Gute war: Die liberalen Frauen fanden so ihre
       Stimme wieder – und auch die konservativen protestierten.
       
       Noch vor Kurzem waren Sie und viele andere progressive Kräfte in den USA
       wenig optimistisch. 
       
       Bis vor zwei Monaten war ja überhaupt nicht klar, dass Obama gewinnt. Wir
       können David Corn von Mother Jones dankbar sein für dieses Video, in dem
       Romney sagte, das 47 Prozent der Amerikaner nur von Regierungsgeldern leben
       … – da wurde vielen Ärmeren im Land klar, dass Romney wirklich nur für die
       Millionäre da ist. Und dann kam auch noch „Sandy“ – die Republikaner hatten
       ja immer behauptet, dass es den Klimawandel gar nicht gibt.
       
       Mitentscheidend für Obamas Sieg sollen die Stimmen der Schwulen und Lesben
       gewesen sein, hört man. 
       
       Ja, allerdings. Hillary Clinton hatte ja schon im Dezember in Genf gesagt,
       dass weltweite LGBT(Lesbian, Gay, Bisexual und Trans)-Rechte ein neuer
       Eckstein ihrer Außenpolitik werden würden. Im Sommer hatte sich dann auch
       Obama für die Homoehe ausgesprochen – und mittlerweile ist die Hälfte des
       Landes dafür. Das ist großartig.
       
       Die Homoehe wird sich durchsetzen? 
       
       Ja, ganz sicher. Wir werden gewinnen. Man braucht in diesem Kampf zwei
       Ebenen. Zum einen muss man ganz viele liebende, gleichgeschlechtliche Paare
       zeigen. Man muss Liebe zeigen, viel Liebe, auch wenn es sentimental klingt
       – das ist so wichtig, um die Leute zu gewinnen. Aber man braucht auch einen
       Hebel.
       
       Sie meinen: einen Baseballschläger? 
       
       Ja. Ich meine: Auf die Dauer hilft nur Power. Obama war sich ja auch lange
       unsicher, ob er bei dem Thema einsteigen soll. Aber dann wurde Druck auf
       ihn ausgeübt, und zwar von seinen finanziellen Unterstützern. „Pink Money“,
       zwei seiner wichtigsten Geldgeber für den Wahlkampf waren Schwule, und die
       haben dann gesagt: Jetzt mach mal, Obama, sonst bekommst du kein Geld. Das
       war der heilsame Druck.
       
       Worauf gründet eigentlich dieser konservative Gegendruck, dieser
       sexualpolitische McCarthyismus der Konservativen in den vergangenen 20
       Jahren? 
       
       Vor allem die acht Bush-Jahre haben unglaublichen Schaden angerichtet. Bei
       der Sexualität gibt es immer Ambivalenzen, die Leute wollen sich da häufig
       nicht mit Freiheiten konfrontiert sehen. Und das haben die Republikaner
       ausgenützt. Wer hätte sich denn in den Neunzigern vorstellen können, dass
       man den eigenen Jugendlichen erklärt:
       
       Ihr dürft keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr haben? Niemand. Bush hat
       ganz zynisch und offen gesagt: Wir machen jetzt Abstinenzerziehung für
       alle, wir werden das benutzen, um Leute auf unsere Seite zu bringen. Das
       hat unheimlich gezogen, diese Angst vor der Sexualisierung der Jugend.
       
       Da wurde ja offenbar mit starken Ressentiments gearbeitet. 
       
       Und das hatte einen homophoben Schlag, es hatte einen rassistischen Klang
       und einen frauenfeindlichen Spin. Alle drei Aspekte waren sehr wichtig für
       diesen „McCarthyismus“, was die sexuellen Bürgerrechte anbetrifft. Auf
       einmal klagten hysterische Eltern vor Gericht, weil die Sexualerzieher in
       der Schule das Thema Homosexualität erwähnt haben.
       
       Dieser „McCarthyismus“ – der ist ja zivilgesellschaftlich ganz gut
       organisiert, etwa in den christlich-fundamentalistischen Kirchen. Trotzdem
       wundern wir uns, dass diese Kampagne so gut funktioniert. Warum ist das so? 
       
       Sexualität hat keine Lobby. Als ich mein Buch über die religiösen Rechte
       geschrieben habe, das war in den Bush-Jahren, da haben mich auch ältere
       säkulare, liberale, demokratische Frauen angeschaut, als ob ich vom Mars
       käme – weil ich der Meinung war, das Jugendliche selbst entscheiden sollen,
       ob sie vor der Ehe Sex haben oder nicht.
       
       Diese Leute waren verunsichert, ängstlich. Ich musste immer nach Europa
       kommen, um zu sehen, wie Leute auf der Straße knutschen und sich liebevoll
       den Po tätscheln. Das erlebt man in den USA gar nicht so oft. Ich meine:
       Einerseits ist die ganze Gesellschaft mit diesem Sex-Geschnatter
       durchtränkt, aber gleichzeitig sind da diese starken Strafaffekte.
       
       Strafen wofür? 
       
       In öffentlichen Schulen wurden dreckige Turnschuhe hochgehalten – als
       Symbol der verlorenen weiblichen Virginität wegen vorehelichem Sex. Man ist
       schmutzig, man ist verdreckt. Und dann der Rassismus. Abstinenzerziehung
       hat ja eigentlich seine Ursache in der Reagan-Ära, sie war Teil eines
       bundesweiten Wohlfahrtsprojekts für schwarze, alleinerziehende Mütter.
       
       Das war ein Doppelprogramm: Wie ist man eine gute Mutter und wie kann man
       abstinent leben? Die schwarzen Wohlfahrtsempfängerinnen sollten keine
       Kinder mehr bekommen, und das war nicht einmal sehr subtil rassistisch.
       
       Es gibt aber doch eine große Gegenbewegung: Immerhin sind vier Plebiszite
       in den USA zugunsten von Homosexuellen ausgegangen. 
       
       Das war hart erkämpft, richtig. Und der Wind hat sich in mancher Hinsicht
       gedreht. Aber ich habe gerade wieder diesen Aufsatz von Adorno gelesen,
       „Sexualtabus und Recht heute“ von 1963, dieser Text, der für die neue Linke
       in jenen Jahren so wichtig war.
       
       Ich habe den Text just zu der Zeit, als General Petraeus wegen seiner
       außerehelichen Affäre durch den Kakao gezogen wurde, gelesen. Adorno wusste
       schon: In solchen Fällen geht es um Strafaffekte, die da mobilisiert werden
       – obwohl wir ja eigentlich in einer liberalen Gesellschaft leben könnten.
       
       Abermals: Was hat es mit den Strafaffekten auf sich? 
       
       Das ist ganz merkwürdig. Um es an der Homoehe zu illustrieren: Bei der geht
       es um Bindung, Monogamie und Verantwortung – und das zieht. Adorno
       erkannte: In einer superliberalen Gesellschaft, in der Sexualität sozusagen
       zu einem Hygieneartikel geworden ist und in der jeder ein gutes Sexualleben
       haben muss und darüber quatscht, da ist weder das Perverse noch das
       Leidenschaftliche erlaubt. Da sind dann plötzlich wieder alle aggressiv
       dagegen.
       
       Nun klingen Sie, mit Adorno, wieder kulturpessimistisch. 
       
       Zumindest bezüglich der weiblichen Selbstbestimmung. Lieber ein lesbisches
       Paar, das sich liebt und heiratet, als eine Frau, die mit vielen Leuten
       schläft – so funktioniert die Rechnung. Alle tun so, als ob Sexualität okay
       wäre, aber in dem Moment, wo es irgendwie nicht ins Schema passt, kommen
       die Strafaffekte wieder zum Vorschein.
       
       Das könnte in Deutschland auch so kommen. Ein Beispiel: Man kann inzwischen
       unter Heteros nicht mehr über schwule Sexualität reden, ohne dass daran
       Anstoß genommen wird. 
       
       Meine Erfahrung aus den USA ist, dass Heteros eigentlich sowieso nicht
       gerne über die Komplexität von Intimität und Sex sprechen. Vielleicht haben
       sie Angst vor Sex.
       
       Und wie halten Sie es? 
       
       Ich finde, dass wir Sex verteidigen sollten, auch wenn es kompliziert ist
       oder wenn wir ambivalente Gefühle haben. Viele geraten in Panik, wenn es um
       Sexualität außerhalb einer Paardynamik geht. Man kann damit aber leben. Man
       muss keine Angst haben.
       
       22 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) J. Feddersen
 (DIR) M. Reichert
       
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