# taz.de -- Debatte Antisemitismus: Das Problem der Anderen
       
       > Rechtes Gedankengut ist in allen Teilen der deutschen Gesellschaft
       > verankert. Die hiesige Antisemitismusdebatte geht an der
       > gesellschaftlichen Realität vorbei.
       
 (IMG) Bild: Antisemitismus wird in der deutschen Öffentlichkeit immer zur Ausnahme stilisiert – doch das ist ein Selbstbetrug.
       
       Eine jüdische Geschäftsfrau wird wegen einer angeblich nicht bezahlten
       Lieferung, die es nie gab, von einem deutschen Unternehmer als jüdische
       Lügnerin und Betrügerin beschimpft und mit der Pest in Verbindung gebracht.
       Ein Rabbiner wird wegen seiner Kippa als Jude erkannt und
       zusammengeschlagen.
       
       Solche spektakulären Vorkommnisse zeigen aber nur einen Teil der
       Judenfeindlichkeit in Deutschland im Jahr 2012. Die Ergebnisse unserer
       aktuellen Studie „[1][Die Mitte im Umbruch]“ für die
       Friedrich-Ebert-Stiftung sind schockierend. Insbesondere die Zunahme
       demokratiefeindlicher Ansichten signalisiert einen Zustand der
       Gesellschaft, die sich dort, wo die Krise anklopft, immer chauvinistischer
       geriert.
       
       Die Mitte-Studien haben seit 2002 immer darauf hingewiesen, dass extrem
       rechtes Gedankengut nicht nur ein Phänomen der politischen Ränder, sondern
       in allen Teilen der Gesellschaft anzutreffen ist. Es basiert auf Strukturen
       und Denkweisen, die unsere gesamte Gesellschaft prägen. So ist
       Nationalismus nicht denkbar ohne die grundlegende Annahme, dass es so etwas
       gibt wie ein deutsches Volk, das eine Herkunft teilt und daher gemeinsame
       Interessen hat. Deutlich zeigt sich dies in der Annahme, dass es natürlich
       sei, zu „seiner“ Fußballnationalmannschaft zu halten.
       
       So wenig aber an der Nation natürlich ist, so sehr ist sie als Vorstellung
       und politische Struktur wirkmächtig, mit Folgen für jeden Einzelnen von
       uns. Auf der nationalen Identifikation basiert der sekundäre
       Antisemitismus, der erstmals im Rahmen der Studie mit erfasst wurde.
       
       ## Auschwitz als Makel
       
       Die Identifikation mit der Nation lässt die Deutschen das deutsche
       Verbrechen Auschwitz als persönlichen Makel empfinden und die Erinnerung
       daran abwehren. Sie wollen einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit
       ziehen (62 Prozent Zustimmung) oder sind es leid, von den Verbrechen der
       Deutschen an den Jüdinnen und Juden zu hören (38 Prozent Zustimmung).
       
       Die Zustimmung zu einzelnen antisemitischen Äußerungen ist jedoch viel
       höher ist als der Anteil weltbildhafter Antisemiten an der Bevölkerung. Bei
       „nur“ 11,5 Prozent der Befragten liegt ein festes Syndrom judenfeindlicher
       Einstellungen vor; sie stimmten allen judenfeindlichen Aussagen im
       Fragebogen mehrheitlich zu. Beim sekundären Antisemitismus sind es 23,8
       Prozent.
       
       Dieser Befund zeigt, dass der Ansatz der Mitte-Studien auch beim Thema
       Antisemitismus den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Nur ein gewisser Teil
       der Deutschen sind ideologisierte Judenhasser, ebenso wie nur einige
       Deutsche Rechtsradikale sind. Doch deren extreme Einstellungen fußen auf
       Ansichten, die weit verbreitet und salonfähig sind.
       
       ## Juden = Israel
       
       Einzelne antisemitische Einstellungsfragmente sind bei teilweise mehr als
       der Hälfte der Bevölkerung vorhanden, während die gleichen Personen andere
       judenfeindliche Einstellungen durchaus ablehnen. Wir sehen also eine starke
       Zersplitterung des Antisemitismus. Zudem schöpft der Antisemitismus in
       einer heterogen zusammengesetzten Bevölkerung aus unterschiedlichen
       kulturellen und sozialstrukturellen Quellen und kann sehr unterschiedliche,
       oft sogar einander widersprechende Inhalte transportieren. So neigen
       beispielsweise Menschen mit Migrationshintergrund weniger zum sekundären
       Antisemitismus.
       
       Das Nachleben des Antisemitismus nach dem Nationalsozialismus ist
       vielfältig. Die weit verbreitete Verharmlosung der Nazizeit und der Schoah
       aus nationaler narzisstischer Kränkung ist eine Folge, die allgemeine
       Verunsicherung, wie man in Deutschland mit Jüdinnen und Juden umgehen soll
       (oder wer überhaupt jüdisch ist und was genau Jüdinnen und Juden ausmacht),
       eine andere. Das Verantwortlichmachen von Jüdinnen und Juden für Israels
       Politik ist ebenso eine Folge davon (24 Prozent finden wegen der
       israelischen Politik Juden unsympathisch) wie der Versuch, den Spieß
       einfach umzudrehen und alles Jüdische und/oder Israelische zu bewundern und
       jede Kritik an jüdischen oder israelischen Institutionen als antisemitisch
       zu diffamieren.
       
       Die Durchdringung großer Teile der Gesellschaft zumindest mit
       Versatzstücken des Antisemitismus findet leider keine Entsprechung in der
       deutschen Antisemitismusdebatte. Statt der tatsächlich omnipräsenten
       Grauzonen und diskursiven Anschlüsse kennt sie nur Schwarz und Weiß. Meist
       werden Tabuverletzer gesucht. Die werden dann nach skandalförmigen
       Erregungen aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.
       
       ## Lagerbildung bei Grass
       
       Die Diskutanten sind meist in zwei klare Lager gespalten, auch dort, wo die
       Fälle nicht so eindeutig gelagert sind. Entsprechend wurde beispielsweise
       Günter Grass nach seinem israelfeindlichen Gedicht von den einen als
       Antisemit verteufelt und von den anderen als mutiger Mahner gefeiert. Kaum
       einer wollte sehen, dass in beiden Sichtweisen ein Körnchen Wahrheit
       verborgen ist.
       
       Dieser deutsche Diskurs über den Antisemitismus ist so verheerend wie die
       in der Studie zutage geförderten Einstellungsmuster. Mit den periodisch
       auftretenden Skandalen gelingt es trotz gleichzeitigem Dauergedenken und
       Mahnen immer wieder, den Antisemitismus zur Ausnahme zu stilisieren, zum
       großen Bösen, zur Abweichung von der Normalität. So bleibt Antisemitismus
       immer ein Problem der Anderen. Doch diese Sichtweise ist ein Selbstbetrug –
       dies gilt auch für viele der immer achtsamen Mahner.
       
       Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Problem und keine individuelle
       Pathologie. Er ist tief in unserer Kultur verwurzelt, zeigt sich in Sprache
       wie in stereotypen Einstellungen. Diese komplizierten Verschränkungen gilt
       es zunächst anzuerkennen, um Antisemitismus bekämpfen zu können: Nicht
       durch Ausschluss der „Anderen“, sondern durch einen kritischen Blick auf
       unsere gesamte Gesellschaft und uns selbst.
       
       27 Nov 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.fes-gegen-rechtsextremismus.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Ullrich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Deutschland
 (DIR) Israel
 (DIR) rechtsnational
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Nazis
 (DIR) Landtag
 (DIR) Piratenpartei
 (DIR) Rechtsextremismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) „Allein unter Deutschen“: Ein jüdischer Autor im Land der Täter
       
       Die Deutschen seien antisemitisch und rassistisch, schreibt Tuvia Tenenbom
       in seinem Reisebericht. Versöhnlich stimme ihn manchmal nur ein Schnitzel.
       
 (DIR) Sportler im „Jahrhundert des Hasses“: Extreme Charakter-Verkrümmungen
       
       Zwei Sporthistoriker haben ein Buch herausgegeben, das Täter, Opfer und
       Widerstandskämpfer im 20. Jahrhundert vorstellt. Ein sehr gelungenes Werk.
       
 (DIR) Ausstellung über jüdische Presse: Warnung vor Fallingbostel
       
       Die Synagoge Celle zeigt die Geschichte der deutschsprachigen jüdischen
       Zeitungen zwischen Gleichstellung und Diskriminierung.
       
 (DIR) Tweet zum Nahost-Konflikt: Piraten-Politiker entschuldigt sich
       
       Dietmar Schulz bedauert einen Tweet, in dem er den Holocaust mit dem
       Nahostkonflikt verglich. Für den Landtag in NRW und die Piratenpartei ist
       das Thema damit durch.
       
 (DIR) Nahost-Konflikt mit Holocaust verknüpft: Aufregung um Piraten-Tweet
       
       In einem Tweet vergleicht der NRW-Piratenabgeordnete Dietmar Schulz den
       Holocaust mit dem Krieg in Nahost. Die Empörung geht quer durch die
       Parteien.
       
 (DIR) Politiker über Rechtsextremismus-Studie: Erziehung, Prävention, Engagement
       
       In Ostdeutschland denken viele Menschen rechtsextrem. Nun reagieren
       Politiker – mit einer ganzen Reihe an Forderungen.