# taz.de -- Online-Enzyklopädie Wikipedia: Das digitale Rote Kreuz
       
       > Sie hat berühmte Lexika vernichtet, den Großkonzern Microsoft geschlagen
       > und die USA besiegt. Die Wikipedia ist die mächtigste NGO des
       > Internetzeitalters.
       
 (IMG) Bild: Taugt seit Wikipedia nur noch als Denkmal: Der gute, alte Brockhaus.
       
       Unter den Nichtregierungsorganisationen bilden das Rote Kreuz und der Rote
       Halbmond die mächtigste Bewegung des analogen Zeitalters. Seit 150 Jahren
       schützt sie Verletzte und Verwundete oder rettet Menschen vor dem
       Verhungern und Erfrieren. Dabei hilft sie „ohne Ansehen von Nationalität
       und Abstammung oder religiösen, weltanschaulichen oder politischen
       Ansichten der Betroffenen und Hilfeleistenden“, heißt es im
       Rotkreuz-Artikel beim Internet-Lexikon Wikipedia – der zeitgemäßen
       Schwester des Roten Kreuzes.
       
       Die Wikipedia ist die mächtigste NGO des digitalen Zeitalters. Erst vor
       zwölf Jahren gegründet, ist auch sie einem humanistischen Prinzip
       verpflichtet: gemeinschaftlich das Wissen der Menschheit allen
       Interessenten über alle sprachlichen, politischen und sozialen Schranken
       hinweg zugänglich zu machen. Die Gebote von Freiwilligkeit, Unabhängigkeit
       und Neutralität sind dieselben wie beim Roten Kreuz. Nur dass die
       „Betroffenen“ des Roten Kreuzes bei der Wikipedia „Leser“ heißen und die
       „Hilfeleistenden“ nur „Benutzer“.
       
       Das Wissen der Menschheit zu sammeln und kostenlos immerzu allen anzubieten
       ist eine ähnlich monströse Aufgabe wie die unentwegte Hilfe im Krieg und
       bei Katastrophen. Aufklärer mögen sogar den Schulterschluss wagen: Je mehr
       Informationen in der Welt zugänglich sind, umso weniger bewaffnete
       Konflikte wird es geben. Jedenfalls bietet die Wikipedia derzeit 19
       Millionen Artikel in 270 Sprachen, verfasst von bis zu 100.000 Aktiven in
       der ganzen Welt. Wikipedia ist die global fünft- oder
       sechsthäufigstaufgerufene Webseite.
       
       Der deutschsprachige Ableger dieser weltweiten Bewegung darf sich auch noch
       mit der taz darüber streiten, wer das größte, wichtigste und erfolgreichste
       unabhängige Projekt in Deutschland ist. Die Wikipedia bietet eineinhalb
       Millionen Artikel, derzeit 6.600 Aktive (das sind Autoren mit wenigstens
       fünf Edits in den letzten vier Wochen), Tag für Tag 450 neue Artikel. Eine
       Milliarde Seitenaufrufe pro Monat oder 24.000 Klicks pro Minute. Tendenz:
       um ein Prozent pro Monat steigend.
       
       ## Weltkulturerbe Wikipedia?
       
       Schon kursiert die Forderung, Wikipedia zum Weltkulturerbe zu erheben – ein
       bisschen voreilig angesichts ihrer Mängel. Vielleicht aber haben sich
       bereits heute drei Norwegerinnen und zwei Norweger, genervt von allen ihren
       Enkeln, den Namen einer freien Online-Enzyklopädie für die höchste Ehrung
       der Welt notiert – und genau fünfzig Jahre nach dem Friedensnobelpreis 1963
       für die Liga der Rotkreuz-Gesellschaften ginge diese Auszeichnung an die
       Wikipedia?
       
       Der Charme läge nicht nur in der Honorierung der ehrenamtlichen
       Wikipedia-Autoren, Software-Entwickler und Projekt-Aktivisten. Zugleich
       würde anerkannt, wie segensreich die Macht der Vielen im Web 2.0 sein kann.
       Das US-Nachrichtenmagazin Time hatte schon 2006, zur hohen Zeit des
       Mitmach-Internet, „dich“ zur Person des Jahres ernannt. Nachdem viel
       Netz-Euphorie verflogen ist, wird es Zeit für etwas Genaueres: den
       „unbekannten Wikipedianer“.
       
       Horribile dictu! Bei Schullehrern, Kirchenoberen und Autokraten rund um die
       Welt wäre das Entsetzen groß. Noch fällt Pädagogen kaum mehr ein, als
       Wikipedia für den Schulgebrauch zu verbieten. Die Anhänger von
       Welterschöpfungstheorien akzeptieren zähneknirschend, dass ihre
       Glaubensanliegen nur Gegenstand enzyklopädischer Artikel sind, nicht deren
       Grundlage. Viele Regimes blockieren die Wikipedia, zeitweilig, ganz, in
       einzelnen Sprachversionen oder einzelnen Artikeln. Leider gibt es keine
       Webseite, die einen aktuellen Stand bietet.
       
       ## Stop Online Piracy Act
       
       Auch in ihrer Selbstverteidigung zeigt sich die Macht der Enzyklopädie. Im
       Oktober 2011 brachte eine Gruppe US-amerikanischer Politiker einen
       Gesetzesentwurf ins Repräsentantenhaus ein, der vorgeblich das Urheberrecht
       schützen sollte. Dieser Stop Online Piracy Act hätte aber auch die
       Informationsfreiheit und die Neutralität der Wikipedia eingeschränkt.
       
       Aus Protest verbarg die italienische Sprachversion ihre Inhalte für 42
       Stunden, im Januar 2012 die englische für einen Tag. Die Wirkung in der
       Öffentlichkeit war gewaltig. In Italien führte der „Blackout“ unmittelbar
       zu einem Änderungsbeschluss des Parlamentes. In den USA stellte er den
       Höhepunkt einer monatelangen Kampagne von Netzaktivisten dar – der Stop
       Online Piracy Act wurde aufgehalten.
       
       Auch wenn die Wikipedianer unverdrossen, ja mit einem gewissen Vergnügen
       rufen: „Glaubt uns nicht alles! Lest anderswo nach!“, ist ihr Einfluss kaum
       zu überschätzen. Die Enzyklopädie ist über alle Berufsstände hinweg zum
       unentbehrlichen Arbeitsmittel und Helfer im Alltag geworden. Sie wird in
       Gerichtsurteilen zitiert, in Doktorarbeiten und Zeitungsartikeln.
       
       ## Lernen mit Wikipedia
       
       Jedes Jahr im Frühsommer geht eine rührende Flut von Klein- und
       Kleinstspenden ein: von dankbaren Schülerinnen, Schülern und ganzen Kursen,
       die „ohne Wiki“ ihre Prüfungen nicht bestanden hätten, wie sie im Textfeld
       der Online-Überweisung schreiben. Und dabei geht es nicht allein ums
       Abschreiben, wie Lehrer unentwegt hetzen, sondern vor allem um das Lernen
       mit Wikipedia.
       
       Wikipedia hat es geschafft, Wissensvermittlung und die aktive Teilnahme
       daran auf neue Grundlagen zu stellen. Viele Opfer säumen den Weg zum
       Erfolg. In Deutschland erwischte es als Erstes die ehrwürdige
       Brockhaus-Enzyklopädie, deren Redaktion 2008 geschlossen wurde. 2009
       folgten alle Sprachversionen der Microsoft-Enzyklopädie Encarta.
       
       Es traf auch kleinere Nachschlagewerke. So zog sich 2011 das nach 32 Bänden
       noch im Erscheinen begriffene Biographisch-Bibliographische Kirchenlexikon,
       bis dahin online frei zugänglich, hinter eine Paywall zurück. Schwer
       gebeutelt von Untersuchungen, nach denen die Wikipedia nicht mehr
       schlechter sei als die Encyclopedia Britannica, verzichtet das frühere
       Flaggschiff der Branche seit 2012 auf Print-Veröffentlichungen und
       erscheint nur noch digital.
       
       ## Verlinkung, Aktualisierung, Erweiterung, Diskussion
       
       Den Verlagen führt Wikipedia vor, was ein zeitgemäßes Nachschlagewerk und
       Open Access – der freie Zugang zu Inhalten – ist: Verlinkung,
       Aktualisierung, Erweiterung, Diskussion. Die Schweiz steuerte kürzlich eine
       Online-Veröffentlichung bei, die so ziemlich alle denkbaren Mängel dieses
       Genres versammelt. Das aus öffentlichen Mitteln finanzierte dreibändige
       Theaterlexikon der Schweiz (TLS) war, als es 2005 gedruckt erschien, für
       seine Thematik ein Pionierwerk nicht nur in der Schweiz, sondern in Europa.
       
       Ab 2010 wurden die Artikel mithilfe der auch von Wikipedia benutzten
       Software ins Internet gestellt – als Textblocks ohne Absätze, ohne Links
       nach außen und ohne jede Möglichkeit, die Artikel zu aktualisieren,
       Literaturhinweise zuzufügen oder sich auf Diskussionsseiten auszutauschen.
       
       Das Ergebnis ist eine groteske Verschwendung von Qualität. Zentrale Artikel
       dieses Fachlexikons erhalten im Jahr so viel Besuch wie ihre Entsprechungen
       in Wikipedia innerhalb eines Monats. Zugleich veralten die TLS-Texte immer
       mehr, während manche Theaterleute wenigstens die Wikipedia-Artikel
       aktualisieren.
       
       Im Interesse des Theaters, des Lexikons, der Autoren, der Geldgeber und
       erst recht der Nutzer wäre es sinnvoll gewesen, das Online-TLS ganz unter
       eine freie Lizenz und damit der Wikipedia zur Verfügung zu stellen. Das
       sorgfältige Einpflegen der Inhalte hätten dann schon die Wikipedianer
       übernommen. Und zur Beruhigung derjenigen, die im Wirken der
       Schwarmintelligenz doch nur den Untergang des Abendlandes sehen: Das
       Original-TLS hätte weiter unberührt im Netz stehen können.
       
       ## Gewaltige ungenutzte Ressourcen
       
       Also: Her mit den Fachlexika, die buchhalterisch abgeschrieben sind, mit
       Steuergeldern finanziert oder von Uni-Wissenschaftlern während ihrer
       Arbeitszeit verfasst wurden! Wobei auch die Wikipedianer noch auf
       gewaltigen ungenutzten Ressourcen sitzen.
       
       Bislang wird bei einer Abfrage nicht angezeigt, wenn ein gesuchtes
       Stichwort nur in einer anderen Sprachversion vorhanden ist. Wertvolle
       Schwesterprojekte wie die Quellensammlung Wikisource oder das Wörterbuch
       Wiktionary sind ganz unauffällig verlinkt und müssten eigentlich in die
       Wikipedia integriert werden. Eine brauchbare Smartphone-App ist noch immer
       nicht in Sicht. Immerhin geht bald das Projekt Wikidata an den Start, aus
       dem ein zentraler Datenpool für alle Sprachversionen entstehen soll.
       
       Und dann ist da, brandneu, noch Wikivoyage. Der freie Reiseführer arbeitet
       in der Beta-Version, die Seite über Oslo ist bereits online. Und Wikipedia
       weiß, der Einsendeschluss für Vorschläge ist an das
       Friedensnobelpreiskomittee der 1. Februar 2013.
       
       27 Dec 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dietmar Bartz
       
       ## TAGS
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Traditions-Enzyklopädie wird eingestellt: Lasst den Brockhaus frei!
       
       Im letzten Brockhaus lebt Loriot noch und Schröder ist Bundeskanzler. Amy
       Winehouse fehlt. Nun gibt es die Gelegenheit für einen zeitgemäßen Abgang.
       
 (DIR) Wikipedia startet eigenes Reiseportal: Enzyklopädie des Unterwegsseins
       
       Reisetipps von jedem für jeden – mit dieser Mission hat die Wikimedia
       Foundation das Portal Wikivoyage gestartet. Ein vormaliger Betreiber will
       dagegen vorgehen.
       
 (DIR) Wikipedia-Eintrag von Christian Lindner: Wer bin ich?
       
       Kaum ein Wiki-Eintrag wurde 2012 so oft geändert wie der vom
       FDP-Hoffnungsträger. Die „Wirtschaftswoche“ übte Kritik und machte
       inoffizielle Verbesserungsvorschläge.
       
 (DIR) Falschmeldungen bei Wikipedia: Ein Krieg weniger
       
       Sechs Jahre lang existierte auf Wikipedia ein Artikel über ein historisches
       Ereignis. Dabei hat es niemals stattgefunden.
       
 (DIR) Publizist von Gehlen übers Urheberrecht: „Digitalisierung verflüssigt die Kultur“
       
       „Eine neue Version ist verfügbar“: Der Publizist Dirk von Gehlen über
       Crowdfunding, die Verantwortung von Verlagen, Urheberrechte und die
       Einkünfte von Künstlern.
       
 (DIR) Professor klagt gegen Online-Lexikon: Pressefreiheit schützt Wikipedia
       
       Ein Professor aus Tübingen muss es hinnehmen, dass auf Wikipedia
       persönliche Informationen über ihn stehen. Laut Gericht ist der Artikel
       durch die Pressefreiheit geschützt.
       
 (DIR) Regionale Wikis: Ode an die Heimat
       
       Stadtwikis liegen im Trend, es gibt bereits über 160 davon. Sie bieten
       Möglichkeiten zur aktiven Bürgerbeteiligung, nicht nur in Demokratien.
       
 (DIR) Aktivistin über Frauen bei Wikipedia: „Frauen vermeiden Konfrontationen“
       
       Sarah Stierch engagiert sich für eine femininere Wikipedia. Mit mehreren
       Projekten will sie mehr Mitarbeiterinnen für das Online-Lexikon gewinnen.