# taz.de -- Debatte 150 Jahre SPD: Die Gespenster der Geschichte
       
       > 150 Jahre Sozialdemokratie: Die SPD repräsentiert das Mittlere, Moderate.
       > Deshalb brauchen wir sie – selbst mit ihren Egoshootern an der Spitze.
       
 (IMG) Bild: Versucht Willy Brandt da, die beiden Egoshooter aufzuhalten?
       
       Der kluge Liberale Max Weber versuchte 1907 dem Bürgertum die Furcht vor
       der damals revolutionären Sozialdemokratie zu nehmen. Auf den Parteitagen,
       so der Soziologe, habe längst „phrasenhaft nörgelndes und klagendes
       Debattieren“ flammende Aufrufe zum Umsturz abgelöst. Unter den Funktionären
       entdeckte Weber keine entschlossenen Revolutionäre, vielmehr präge die
       gemütliche „Physiognomie des Kleinbürgertums“ das Bild. Eine „Erdrosselung
       des Kapitals oder Brandschatzung des Vermögens der Besitzenden“, so die
       beruhigende Aussicht, sei von dieser Partei nicht zu befürchten.
       
       Die SPD sah sich damals noch völlig anders. Man strebte doch, auf dem
       Papier, nach Sozialismus und Menschheitsbefreiung und nicht nach
       Ministersesseln. Max Webers scharfsinnige Beobachtung nahm vorweg, was bis
       heute ein Kennzeichen der Sozialdemokratie ist: ihre gespaltene
       Selbstwahrnehmung. Fern der Macht glaubt die Partei an hochfahrende Ideale,
       sie schürt die nervöse Erwartung, dass sie an der Macht vieles ändern werde
       – doch an der Regierung passt sie sich rasch den Verhältnissen an.
       
       Die SPD hat es schwer, ein realistisches Bild von sich selbst zu entwerfen.
       Es oszilliert zwischen kühner Vision und grauem Alltagsgeschäft, die meist
       ziemlich unverbunden nebeneinander existierten. Dieses Gefälle produzierte
       regelmäßig Enttäuschungen, eine Art strukturelles Unglück. Fast immer blieb
       die SPD an der Macht hinter den Erwartungen zurück, die sie geweckt hatte.
       Ausnahmen wie die Zeit 1969 bis 1974, als eine gesellschaftliche
       Emanzipationswelle die SPD trug, bestätigen diese Regel.
       
       Was kann, was will die SPD 2013 sein? In ihrem Grundsatzprogramm steht noch
       immer, dass sie den „demokratischen Sozialismus“ will. Nein, das will sie
       keinesfalls. Die Parteispitze würde eigenhändig jeden Versuch ersticken,
       die Eigentumsordnung zu ändern oder mit der Wirtschaftsdemokratie, die die
       SPD lange forderte, ernst zu machen.
       
       Auch Sigmar Gabriels Aufruf, dass die satt gewordene Partei wieder an die
       Basis müsse, dorthin, wo es stinkt und brodelt, war nur eine
       Beschwörungsformel, die nach Arbeiterschweiß riechen sollte. Die SPD mag
       den Gestank der Armut nicht. Sie ist nicht mehr hungrig. Sie strebt, wie
       die allermeisten, zum Moderaten, Mittleren, Bequemen.
       
       Es ist unnütz, Idealen nachzutrauern, an die man selbst nicht mehr glaubt.
       Die SPD muss akzeptieren, was sie ist: die Partei der sozialen Mitte. Ihr
       Job ist es, die „sorgenvolle Zufriedenheit“ (Joachim Raschke) dieses
       Milieus zu repräsentieren. Ihr Klientel ist die gut verdienende Beamtin,
       die will, dass alles bleibt, wie es ist, der Angestellte im Chemiewerk, der
       mehr Lohn will, der Rentner im Ruhrgebiet. Der Hartz-IV-Empfänger eher
       nicht.
       
       ## Die SPD muss nicht kreativ sein
       
       Was kann man von der SPD verlangen? Sie muss nicht kreativ sein. Ihre Rolle
       ist nicht, Neues zu erfinden, sondern Machbares durchzusetzen. Sie muss
       zwar lernfähig und pragmatisch sein, vor allem aber braucht sie einen
       verlässlichen inneren Kompass. Der war in der Schröder-Ära weitgehend
       defekt. Die Ausweitung der Leiharbeit war kein Kollateralschaden, sondern
       Ziel der Schröder-SPD, die den Versprechen des flexiblen Neo-Kapitalismus
       glaubte. So gab sie dem Markt Vorrang vor dem Staat. Künftig muss die
       Kompassnadel in eine andere Richtung zeigen: Staat vor Markt und maßvolle
       Umverteilung. Nicht aus Klientelismus, sondern um den gesellschaftlichen
       Zusammenhalt zu sichern.
       
       Mit Antikapitalismus hat das nichts zu tun. Zur großen Umverteilung, der
       Enteignung der Superreichen per Steuer, ist die SPD nicht in der Lage. Das
       wäre zwar die nötige Antwort auf die Finanzkrise, um Luft aus der Geldblase
       zu lassen. Doch um sich mit den Eliten dieses Landes anzulegen, fehlt der
       Partei der Schwung.
       
       Und es gibt nur ein historisches Vorbild für ein solch radikales Umsteuern:
       den New Deal in den USA der 30er. Dem allerdings gingen Wirtschaftskrise
       und Massenverelendung voraus. Nicht nur die SPD, auch die Gesellschaft, die
       großteils von der Exportindustrie lebt, ist dafür nicht reif. Ähnliches
       gilt für die Europapolitik: Rot-Grün würde keine fundamental andere Politik
       als Merkel machen. Rot-Grün würde weniger arrogant mit Südeuropa
       umspringen, aber kaum Eurobonds wagen.
       
       Was man von der SPD erwarten kann, ist eine unspektakuläre Politik der
       kleinen Schritte. Die braucht keine leuchtende Zukunftsversprechen. Es
       reicht darzulegen, dass man die Interessen der Mehrheit nach mehr sozialem
       Ausgleich bedient.
       
       Manche werden das strukturkonservativ finden. Genau das ist es: Es ist der
       Versuch, den in Jahrzehnten erkämpften, nun bröckelnden Sozialstaat und
       Klassenkompromiss im globalen Finanzmarktkapitalismus zu bewahren. Tony
       Judt hat dies etwas missverständlich „Sozialdemokratie aus Furcht“ genannt.
       Es geht aber nicht darum, Ängste politisch zu manipulieren. Die SPD soll
       vielmehr wieder ihre alte Rolle als Schutzmacht der kleinen Leute spielen.
       Die sind in Deutschland allerdings keine Habenichtse mehr.
       
       Was man von der SPD erwarten kann, ist aufgeklärte Realpolitik, die die
       Fallhöhe zwischen Gerechtigkeitsrhetorik und dem, was danach die
       Ministerialbürokratie daraus macht, mindert. Nichts ist schlimmer als das
       Spiel von Versprechung und Enttäuschung. Insofern macht die SPD derzeit
       programmatisch viel richtig, indem sie einige Agenda-Schäden reparieren
       will und maßvolle Steuererhöhungen ankündigt.
       
       ## Zwei Egoshooter an der Spitze
       
       Strategisch und personell sieht es allerdings schlechter aus. Um als
       Partei, die sich kümmert, wahrgenommen zu werden, braucht sie anderes
       Personal. Gefragt sind PolitikerInnen, die bescheiden und zuverlässig
       wirken. Angela Merkel kann das, Hannelore Kraft auch. Gabriel und
       Steinbrück, die beiden Egoshooter, können es nicht.
       
       Die SPD darf ruhig langweilig wirken. Unzuverlässig, launisch, wie unter
       Schröder, darf sie nicht sein. Das Sprunghafte, Alphatierhafte passt nicht
       zur Geste des Beschützenden, die die SPD für sich reklamieren will. Merkel
       hat verstanden, dass sie ein bisschen sozialdemokratisch sein muss, um an
       der Macht zu bleiben. Die SPD hat nicht verstanden, dass sie ein bisschen
       Merkel werden muss, um an die Macht zu kommen.
       
       Eher düster stimmt auch der Blick auf die Machtchancen der SPD. „Rot-Grün
       oder nichts“ tönt es. Das ist gelogen. Jeder weiß, dass am 22. September,
       wenn kein Wunder geschieht, alles auf eine Große Koalition hinausläuft, in
       der die SPD als Nachtschattengewächs an Merkels Seite verkümmern wird.
       Dabei könnte die Partei in einer kommoden Lage sein. Sie könnte sich, auch
       mit knapp 30 Prozent, so geschickt positionieren, dass gegen sie
       Regierungsbildungen schwierig sind – wenn Rot-Grün FDP und Linkspartei als
       mögliche Partner akquiriert.
       
       Die FDP kommt dafür erst nach einer sozialliberalen Grundrenovierung in
       Frage. Derzeit bietet sich steuer- und sozialpolitisch Rot-Rot-Grün an. Das
       wäre kein historisches Projekt, sondern eine nüchterne Zusammenarbeit, die
       auf Arbeitsteilung basiert: Die Linkspartei erreicht abgehängte Milieus,
       die der SPD lange den Rücken gekehrt haben. Doch die SPD hofft lieber
       weiter auf den baldigen Zusammenbruch der PDS/Linkspartei, um in Siegerpose
       deren Rest aufzusaugen. Das ist keine Strategie, das ist kindisch.
       
       Und es hat etwas von einer Bestrafung: Man verachtet in der Linkspartei den
       eigenen, aufgegebenen Anspruch auf antikapitalistische Reformen, man hasst
       in ihr die Erinnerung, wie sehr die Agenda 2010 die SPD gespalten hat. In
       der Linkspartei scheint manchem Sozialdemokraten ein Teil der eigenen
       Geschichte als Gespenst zu begegnen, dem man nur den Tod wünscht. „Ein
       Übermaß der Historie kann dem Lebendigen schaden“, schrieb Friedrich
       Nietzsche. Es ist, als wäre die SPD noch immer gefangen in den Illusionen
       ihrer Geschichte.
       
       19 May 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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