# taz.de -- Warum wir Datenschutz vernachlässigen: Überwachen und schwafeln
       
       > Wir posten ständig Fotos auf Facebook, twittern, kaufen bei Ebay, suchen
       > uns Partner in Datingnetzwerken. Alles, weil wir gesehen werden wollen.
       
 (IMG) Bild: Gesehen um geliebt zu werden: Meine Couch, meine Digicam, mein Schlüppi, mein Schlüppi.
       
       Es ist paradox: Auf der einen Seite wird gegen Verletzungen des
       Datenschutzes durch Staat und Wirtschaft protestiert. Und auf der anderen
       Seite florieren gleichzeitig die freiwillige Aufzeichnung und Preisgabe von
       Informationen mit dem Ziel, die Lebensqualität zu verbessern.
       
       Gehen zum Beispiel Teenager in den USA Beziehungen ein, tauscht ein Drittel
       von ihnen Passwörter für soziale Netzwerke und E-Mail-Konten aus –
       Schlüssel zu totaler Intimität.
       
       Auf einen unappetitlicheren Bereich zielt die von BinCam hergestellte
       Transparenz. BinCam, eine im Deckel der Mülltonne angebrachte Kamera, filmt
       den hineingeworfenen Unrat und postet ihn automatisch auf Facebook. Die
       Nutzer von BinCam sollen in eine Art Wettkampf um den Öko-Score ihres Mülls
       treten und so ökologisch korrekter werden.
       
       Auch private Kameradrohnen erfreuen sich großer Beliebtheit. 2014 möchte
       das US-Unternehmen Always Innovating MeCam auf den Markt bringen – eine von
       vier Rotoren angetriebene Minikameradrohne. Sie fliegt ihrem Besitzer
       automatisch überallhin hinterher und nimmt ihn auf. So kann jeder
       Augenblick für die Lieben und die Cloud festgehalten werden.
       
       ## Allgegenwärtige freiwillige Überwachung
       
       2014 wird ebenso Google Glass für alle erhältlich sein und das gesamte
       Leben aus Ich-Perspektive filmen. Samsung, Intel und Telefonica finanzieren
       wiederum gerade die Forschung an einem Programm, das Telefongespräche
       abhört, in Text verwandelt und so für die Nutzer durchsuchbar und
       wiederverwertbar macht.
       
       So futuristisch oder schaurig diese Beispiele noch scheinen – der
       allgegenwärtigen freiwilligen Überwachung kommt bereits heute eine
       Schlüsselfunktion innerhalb der digitalen Gesellschaft zu. Schon lange
       gewöhnt haben wir uns an das Belohnungs- und Bestrafungssystem von Seiten
       wie dem Internetauktionshaus eBay, dem Gastfreundschaftsnetzwerk
       Couchsurfing, der Datingplattform OkCupid, dem sozialen Netzwerk Facebook
       und dem Mikroblogging-Dienst Twitter.
       
       Liefert, bezahlt man pünktlich? Ist die Ware qualitativ in Ordnung? Verhält
       man sich angenehm als Mitbewohner und Liebhaber? Ist man unterhaltsam?
       Früher eine Sache von lokal begrenztem Leumund, heute weltweit per
       Mausklick abrufbar. Ohne solche Bewertungssysteme würde die oft anonyme
       digitale Gesellschaft nicht funktionieren.
       
       ## Bentham, Foucault und Rheingold
       
       Hinsichtlich der Disziplinierung durch Transparenz gleicht die Gegenwart
       einer der berüchtigtsten Utopien der Aufklärung: dem „Panopticon“ des
       Philosophen Jeremy Bentham. Ende des 18. Jahrhunderts entwarf der britische
       Philosoph dieses kreisförmige Gefängnis, dessen Zellen alle zur Mitte hin
       offen sind, wo sich ein Wachtposten befindet. In Benthams Vision würden die
       Gefangenen nicht einmal sehen, ob der Wachtposten in der Mitte besetzt ist
       oder nicht.
       
       Schon die permanente Möglichkeit der Überwachung würde ausreichen, um das
       Verhalten der Insassen im gewünschten Sinn zu ändern. Für den Historiker
       Michel Foucault war das Bentham’-sche Panopticon Ausgangspunkt seiner
       vehementen Kritik der neuzeitlichen Disziplinargesellschaft, die ihre Macht
       in der Angst des Einzelnen verankert.
       
       Howard Rheingold, einer der ersten und bis heute einflussreichsten
       Netztheoretiker, folgte Foucault in seiner Kritik eines staatlich
       kontrollierten Bentham’schen Panopticons. Aber er zog einen anderen
       Schluss. Nicht die Idee der Disziplinierung durch Transparenz sei schlecht,
       sondern lediglich ihre Anbindung an den Staat. Im Zeitalter des Internets
       müsse das Panopticon demokratisiert werden. Gerade die offenen digitalen
       Gesellschaften könnten auf solche subtilen Disziplinierungstechniken nicht
       verzichten, wenn sie funktionieren sollten. Schließlich gäbe es in den
       digitalen Weiten immer weniger Kontrolle durch Staat, Familie und physische
       Freundschaftsbande.
       
       ## Lacan und Gott
       
       Wahrscheinlich aber ist freiwillige Überwachung von jedem durch jeden auch
       aus anderen als pragmatischen Gründen beliebt. Denn sie stillt unser
       rasendes Verlangen danach, gesehen zu werden. Dem Psychoanalytiker Jacques
       Lacan zufolge hängt das Ich des Einzelnen von einer fiktiven Größe ab: dem
       „Großen Anderen“. Der Mensch kann Teile seines Körpers – Rücken, Hals und
       vor allem sein eigenes Gesicht – nicht ohne Spiegel sehen und hat deshalb
       eine lückenhafte Vorstellung von seinem Selbst. Dieser Mangel treibt ihn in
       die existenzielle Abhängigkeit vom Blick des Großen Anderen: die Illusion
       eines allsehenden Beobachters, die im Subjekt wiederum die Illusion eines
       kohärenten Ichs erzeugt.
       
       In der Vergangenheit wurde der Blick des Großen Anderen von Gott
       repräsentiert, beziehungsweise von Eltern, Autoritäten oder auch der
       Meinung der Nachbarn. Im digitalen Zeitalter wird der anonyme Andere im
       Internet zur höchsten denkbaren Autorität. An ihn richten wir unsere
       Status-Updates und Tweets. Er soll unsere Filmchen und Fotos auf der
       Foto-Teil-App Instagram, der Video-App Vine und der Blogging-Plattform
       Tumblr mögen und auf Ebay und per BinCam Zeugnis davon geben, dass wir gute
       Händler und ökologisch korrekt sind. Wie ein mechanischer Herrgott soll uns
       der Blick des Großen Anderen mithilfe von privaten Überwachungsdrohnen
       folgen. Und mit Google Glass wird endlich der Traum wahr, unseren Blick
       vollständig mit dem des Großen Anderen zu verschmelzen.
       
       Aus der Perspektive der Psychoanalyse bringt das Internet daher nicht – wie
       so oft behauptet – die Emanzipation des Einzelnen mit sich, sondern die
       bisher intensivste Abhängigkeit vom Blick des Großen Anderen. Schwierig ist
       das vor allem, weil diese Abhängigkeit fast automatisch zur Illusion führt,
       dass der Schwarm, der heute den Großen Anderen repräsentiert, eine Person
       sei, über Intelligenz verfüge und uns – ähnlich wie Gott – Entscheidungen
       abnehmen könne: Entscheidungen etwa darüber, was wir tun, schreiben und
       lesen, was wir wegwerfen, welche politischen Kampagnen wir unterstützen.
       
       Besonders die ethische Entscheidung verliert ihren Wert, wenn sie lediglich
       vor dem anonymen Blick des Schwarms bestehen soll, dem die jeweils
       individuelle Qualität der ihn bildenden Einzelnen abgeht. Eine
       Entmystifizierung dieser quasireligiösen Illusion ist überfällig.
       
       2 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Johannes Thumfart
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