# taz.de -- Judentum und Identität: Kapitelmans Kind
       
       > Warum mein Vater unbedingt will, dass ich wieder Jude werde – und wie
       > schwer es ist, diesen Wunsch tatsächlich zu erfüllen.
       
 (IMG) Bild: Versteckte Identität: Ohne jüdischen Namen wächst man in der Ukraine leichter auf.
       
       „Wenn du deinen Namen nicht änderst, enterbe ich dich.“ Mein Vater, Leonid
       Kapitelman, meint es ernst. Er will, dass ich seinen Familiennamen annehme.
       Ich bin sein einziges Kind und hätte schon seit 26 Jahren so heißen können.
       Aber damals, in der Ukraine, hielt er das für keine gute Idee.
       
       „Weil ich weiß, wie schwer es ist, als Jude in der Ukraine zu leben.“
       
       Ich: „Was hätte mir denn konkret gedroht, Papa?“
       
       Er: „Einfach alles, von Hänselei bis Totschlag. Dieser Name hätte dein
       ganzes Leben überschattet. Das geht schon im Kindergarten los. Du hättest
       für alles doppelt so hart arbeiten müssen. Wenn Kapitelman im Eignungstest
       neunzehn Punkte holt und Kirilenko lediglich fünfzehn, kriegt trotzdem
       Kirilenko die Stelle.“
       
       Also bekam ich den Decknamen Romashkan, den ich bis heute trage. Romashkan,
       so hieß ein früherer Ehemann meiner Mutter. Allzu genau hat sie sich dazu
       nie erklärt. Die offizielle Story geht so: Sie kam aus Moldawien nach Kiew,
       dann gab es die ein oder andere Ehe, und irgendwann traf sie meinen Vater,
       Kapitelman. „Den alten Juden“, wie sie ihn liebevoll neckt.
       
       Sie unterstützt meinen Vater bei dessen Siedlungspolitik hinsichtlich
       meines Namens. Allerdings nicht wirklich militant. Sie befürwortet den
       Plan, wie man befürwortet, dass irgendjemand irgendwann mal den Keller
       aufräumen sollte. Aber es stimme schon, „mit Romashkan hast du nichts zu
       tun.“
       
       ## Judenwitze reißen dürfen
       
       Kapitelman ist ein schöner Name, und ich möchte meinem Vater seinen Wunsch
       erfüllen. Außerdem ist es recht unterhaltsam, einen jüdischen Nachnamen in
       Deutschland zu haben. Als einziger im Raum Judenwitze reißen dürfen,
       während die Anderen neidisch sabbern – herrlich. Trotzdem verstehe ich das
       Drängen meines Vaters nicht ganz.
       
       „Warum ist es dir plötzlich so wichtig, Papa?“
       
       „Es geht um die Fortführung des Familienbaums. Mein Großvater hieß so und
       deine Enkel sollen auch so heißen.“
       
       „Geht es dir denn darum, dass es dein Name ist, oder darum, dass ich
       unseren jüdischen Namen nicht verheimlichen soll?“
       
       „Um beides. Aber ich kann dir nicht sagen, was von beidem mir wichtiger
       ist.“
       
       „Aber warum hast du es gerade jetzt so eilig? Warum wolltest du nicht schon
       vor drei oder fünf Jahren, dass ich deinen Namen annehme?“
       
       „Ich habe es sogar schon vor zehn Jahren versucht. Immer wieder. Die
       ukrainische Behörde in Berlin wollte aber nichts davon wissen. Die haben
       gesagt, dass sie sich in Deutschland nicht um solche Extrawünsche kümmern.
       Die wollten, dass deine Mutter, du, und ich extra zur Behörde nach Kiew
       fahren.
       
       Weil die notwendigen Akten angeblich in irgendwelchen Sowjetarchiven lägen.
       In Kiew sollte dann ein Gericht über unseren Antrag entscheiden. Die
       einzige Möglichkeit, diesen Unsinn zu umgehen, wäre, wenn du die deutsche
       Staatsbürgerschaft annimmst und die Sache mit deutschen Ämtern klärst.“
       
       ## Mission: Staatsbürgerschaft
       
       Die Mission lautet also: Deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, Namen
       ändern, den semitischen Seelenfrieden meines Vaters retten – und mein Erbe!
       Mein größter Gegner dabei heißt momentan „festes Einkommen“. Als Student
       verdiene ich nicht genug. Kein fester Arbeitsplatz, kein Pass. So sieht es
       das Ausländeramt. Siebzehn Jahre hier gelebt?
       
       Kein Argument. Auch egal, dass der Staat seit sechs Jahren Bafög in mich
       investiert. Irrelevant, dass ich das Deutschlandstipendium erhalte. Die
       haben so viel Geld in mich reingebuttert, die müssten mir den deutschen
       Pass eigentlich an die Stirn tackern! Und zwar gratis. Aber nein: Für das
       Bildungsministerium bin ich die Elite von morgen, für das Ausländeramt der
       Hartz-IV-Empfänger von draußen.
       
       Selbst angenommen, die Bürokratie würde für einen Tag vergessen, dass sie
       Bürokratie heißt, und ab morgen stünde Kapitelman auf meinem Briefkasten –
       für meinen Vater wäre das Problem damit wohl aus der Welt. Aber was für ein
       Kapitelman wäre ich dann eigentlich?
       
       Vor 17 Jahren kamen wir nach Deutschland. Jüdische Kontingentflüchtlinge,
       die Wiedergutmachungsjuden. Haben Leonid Kapitelman und Vera Romashkan
       seitdem ihren Platz hier gefunden? Zumindest haben Sie das eherne Gesetz
       befolgt, dass Immigranten möglichst einen kleinen Laden eröffnen sollten.
       
       ## Vater-Sohn-Gespräch, so halbwegs
       
       In Leipzig verkaufen sie jetzt Wodka und Matrjoschkas. Im hinteren Teil des
       Ladens ist ein Büro. Ein chaotisches Kabuff voller Rechnungen und Akten.
       Ich sitze am Büro-Rechner, Papa kopiert neben mir Papiere.
       Vater-Sohn-Gespräch, so halbwegs.
       
       Mein Vater ist ein unerhört schlechter Zuhörer. Wenn er auch noch nebenbei
       kopieren muss, könnte man genauso gut mit dem Kopierer sprechen. Ich stelle
       ihm trotzdem identitätsstiftende Fragen:
       
       „Sag mal, du hast erzählt, dass deine Eltern, Rachel und David, religiös
       waren. Dass sie ständig in die Synagoge gingen. Das heißt, du wurdest
       religiös erzogen?“
       
       „Ja.“ Ich sehe, dass mein Vater mit heiligem Ernst eine Rechnung über
       Gewürzgurken und vier Säcke Rote Bete kopiert.
       
       „Wie kommt es, dass du überhaupt nichts davon behalten hast? Ich sehe dich
       nie beten.“
       
       Es dauert eine Weile, bis mein Vater antwortet.
       
       „Paps, ich habe dich etwas gefragt.“
       
       „Weil ich an den ganzen Scheiß nicht glaube.“ Der Kopierer rattert, die
       Gurken und die Rote Bete finden ihre Bestimmung im Universum.
       
       „Du glaubst nicht an den Scheiß?“
       
       „Nein. Alle Religionen sind Hirngespinste.“
       
       „Aber du bezeichnest dich als Juden?“
       
       „Ja.“
       
       „Dann bist du aber ein ziemlich schlechter Jude.“
       
       „Ja, kann man so sagen.“
       
       „Und ich? Bin ich ein Jude?“
       
       „Bei dir ist das etwas anderes.“ Ich bin verwirrt und muss doch über die
       Situation lachen.
       
       Silvester 2012. Für uns Weihnachten, nach russischer Zählweise. Aber auch
       nicht wirklich, weil ja keiner an den „Scheiß“ glaubt. Jedenfalls hat
       Mutter traditionsgemäß Ente gemacht. Vollgegessen gehen alle rauchen, außer
       Papa und mir. Vater-Sohn-Gespräch, so richtig.
       
       „Papa, ich verstehe das nicht. Du hasst Deutschland. Du hast den Deutschen
       den Holocaust nie verziehen. Du hast keine deutschen Freunde. Du hast hier
       überhaupt kein soziales Leben. Wieso Deutschland? Warum sind wir nicht nach
       Israel gegangen?“
       
       „Deinetwegen.“ Wir schweigen eine Weile.
       
       „Meinetwegen?“
       
       „Deinetwegen. Du hast keine jüdische Mutter. In Israel wärst du immer ein
       Jude zweiter Klasse gewesen. Das wollte ich dir nicht antun.“ Ich bin
       perplex und traurig. Weil mein Vater sich eine Gattin der falschen
       Konfession gesucht hat, fühle ich mich so, als hätte ich sein Leben
       verhunzt.
       
       In diesem Moment möchte ich nicht mehr Kapitelman heißen. Auch nicht
       Romashkan. Ich will überhaupt keinen Nachnamen. Ich möchte auch keinen
       deutschen oder irgendeinen Pass. In diesem Moment habe ich diese ganze
       Kategorisierungsscheiße satt.
       
       Mein Name ist nicht mein Name. Jude darf ich offiziell nicht sein,
       Nichtjude ist auch nur eine Notlösung. Meine Staatsangehörigkeit ist ein
       Witz. Ich habe nicht mal eine richtige Adresse. Damit das Ausländeramt mich
       nicht wegen der Residenzpflicht stresst (ich bin ja auf dem Papier immer
       noch Flüchtling), lebe ich offiziell immer noch in Leipzig. Die Bürokratie
       in grauen Gebäuden macht meine Identität zu einer Baustelle. Genau wie die
       in unseren Köpfen.
       
       Papa und ich bringen den Müll raus. Er stöhnt, dass meine Mutter, „die alte
       Moldawanka“, wie er sie liebevoll schimpft, zu viel rauche. Unten
       angekommen, halte ich ihm die Tür auf und scherze:
       
       „Ich hab gehört, es bringe Glück, Juden, die Müll rausbringen, die Tür
       aufzuhalten. Ach, ihr verrückten Juden!“
       
       Mein Vater dreht sich um und fixiert mich mit ernster Miene: „Hör auf so zu
       reden. Was glaubst du denn, was du bist?“
       
       7 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dmitrij Romashkan
       
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