# taz.de -- 100 Jahre Münchner Kammerspiele: Performer im Einkaufsgetümmel
       
       > Am Ende ihrer 100. Spielzeit feiern die Kammerspiele München ihre
       > Vernetzung in der internationalen Theaterwelt. Mit dabei ist Lotte van
       > den Berg.
       
 (IMG) Bild: Lotte van den Bergs Performance „Agoraphobia“.
       
       Es sind die Partner vergangener und künftiger Koproduktionen, die die
       Münchner Kammerspiele zum Ausklang ihrer hundertsten Spielzeit an die Isar
       eingeladen haben. „Relations“ heißt das Festival, mit dem Intendant Johan
       Simons noch bis 18. Juni die in der Tat beachtliche internationale
       Vernetzung seines Hauses mit 13 Gastspielen aus sieben Ländern und drei
       Kontinenten bekräftigt – und auch seine Aufgeschlossenheit gegenüber
       Formaten, die den Rahmen des rein Sprechtheatralen sprengen.
       
       Der Lette Alvis Hermanis, die aus Flandern stammenden Globetrotter Luc
       Perceval und Ivo van Hove, aber auch Alain Platel und die amerikanische
       Choreografin Meg Stuart haben bereits an den Kammerspielen inszeniert, zu
       deren Ensemble seit Simons Amtsübernahme 2010 auch viele holländische und
       belgische Schauspieler gehören.
       
       Andere hingegen beschnuppert man noch, wie den chinesischen Avantgardisten
       Tiang Gebing, der als möglicher Kombattant dem Münchner Versuchsballon auf
       seiner Reise in Richtung „gesamteuropäische Theaterpraxis“ einen Ruck gen
       Osten geben würde.
       
       Lotte van den Berg und ihre Gruppe OMSK aus Dordrecht, deren
       One-Man-Performance "Agoraphobia" ("Platzangst") das Festival eröffnete,
       liegen dagegen direkt auf dem bislang eingeschlagenen Weg. Die 1975
       geborene Holländerin arbeitet normalerweise ohne Worte und ihre mehrfach
       preisgekrönten Produktionen finden oft auf Wiesen oder öffentlichen Plätzen
       statt. In Belgien und den Niederlanden gibt es für die von ihr und anderen
       jungen Theatermachern favorisierte Art des fast ohne Requisiten
       auskommenden Spiels zwischen Tanz und Theater den Begriff "Holländischer
       Minimalismus".
       
       ## Von Mund zu Mund gefüttert
       
       Van den Bergs freie Theaterarbeit führte sie bis in den Kongo und in ein
       belgisches Gefängnis. Sie arbeitet auch mit Jugendlichen und Theaterlaien
       und stellt das vermeintlich Alltägliche immer wieder in einen theatralen
       Rahmen und macht es so erst bewusst.
       
       Am Toneelhuis Antwerpen entstand „Stillen“, das sich um die Suche nach Nähe
       und ihr immerwährendes Scheitern dreht: Ein Mann füttert einen zweiten
       Mund-zu-Mund wie eine Vogelmutter ihr Junges; Töne an der Grenze zwischen
       Gesang und verzweifelter Klage versuchen vorübergehend eine Gemeinschaft zu
       generieren; ein Wesen, dessen Gesicht über und über mit Pflastern verklebt
       ist, hört nicht mehr auf zu zittern.
       
       Das sind aufs Wesentliche konzentrierte, intime Momente, die sehr bewegen.
       Denkt man ihre emotionale Essenz mit dem Setting von Van den Bergs
       „Gerucht“ zusammen, worin ein belebter städtischer Platz die Hauptrolle
       spielt, auf den die Zuschauer aus einer Glasbox herausschauen, hat man
       bereits das Rezept für „Agoraphobia“ zur Hand. Mit unterschiedlichen
       Performern tourte das kurze Stück 2013 bereits in fünf Sprachen durch ganz
       Europa.
       
       ## Monolog per Handy verfolgen
       
       In München übernimmt den Part des einsamen, stets auf sich selbst
       zurückgeworfenen Mannes, der mitten im innerstädtischen Einkaufsgetümmel
       das Wort ergreift, obwohl er noch nicht reif und seine Haut noch „zu sehr
       Grenze“ ist, der Kammerspiele-Akteur Hans Kremer. Und es ist nicht Kremers
       Schuld, dass der Monolog, den zuerst jeder über sein privates Handy
       verfolgt, bevor einen ein Störgeräusch aus der Leitung wirft und einen
       Menschenauflauf um den Redner erzwingt, eine Enttäuschung ist.
       
       Kremer ist prima, wenn er in abgewetzten Cordhosen den autistischen
       Großstadtbrabbler mimt, während das Mikro an seinem Mund jedem
       Unbeteiligten klar machen muss, dass hier gerade etwas hergestellt wird.
       
       Es ist – natürlich – Kunst, und die macht sich hier ein klein wenig
       lächerlich. Denn während das oben beschriebene wortlose Spiel um Nähe und
       Distanz, Brutalität und Zärtlichkeit einem keine Deutung aufzwingt, hört
       man hier Wort für Wort, was man zu denken und zu wünschen hat. Nämlich eine
       „Revolution der Gefühle“, in der der Mensch alles über Bord wirft, was ihn
       vom Anderen trennt: Namentlich Wissen und Körpergrenzen. „Fängst du mich
       auf, wenn ich falle?“, wird da gefragt. Oder ziehen wir „einander vorbei
       wie Schiffe in der Nacht?“
       
       ## Vertrauensvolles Zusammenrücken
       
       Der teils platt poetisierende Text von Rob de Graaf ist emotional
       überdeutlich und inhaltlich wabernd. (Zweiteres macht es vermutlich
       leichter, ihn international aufzuführen.) Und er ist reine Demagogie: Da
       wird nach „Heilung“, „Willensverschmelzung“ und einem „Lehrmeister“
       gerufen, dem man „folgen“ kann. Als wäre das blind vertrauensvolle
       Zusammenrücken von Menschen, das Lotte van den Berg nach eigenem Bekunden
       etwa bei Occupy-Demonstrationen vermisst hat, schon eine Qualität an sich –
       und nicht zugleich auch die mögliche Quelle für viele
       fanatisch-faschistoide „Bewegungen“.
       
       Weiter schweigen wäre weitaus besser gewesen als diese Rede.
       
       10 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine Leucht
       
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