# taz.de -- Debatte Niedriglöhne: Die Kehrseite der Nächstenliebe
       
       > Die Gesellschaft profitiert in großem Maße von freiwilligen Helfern in
       > Kliniken und Wohlfahrtsverbänden. Die Beschäftigten profitieren nicht.
       
 (IMG) Bild: Mit der Aussetzung der Wehrpflicht wurde auch der Zivildienst abgeschafft. Die Arbeit übernehmen nun ehrenamtliche „Bufdis“.
       
       Bürgerschaftliches Engagement und freiwillige Tätigkeiten werden von den
       Befürwortern gern als einzigartige Arbeit definiert. Wer sich ehrenamtlich
       für andere engagiert, bringt angeblich automatisch eine besondere Qualität
       der Zuwendung ein, eine einzigartige „Energieform“, die unbezahlbar sei und
       daher deutlich von bezahlter Arbeit zu unterscheiden. Ehrenamtliche
       Tätigkeit sei komplementär und zusätzlich zu beruflicher Arbeit anzusehen.
       
       Arbeitsmarktpolitisch übersetzt heißt das: Freiwillige, ehrenamtliche
       Tätigkeit darf Erwerbsarbeitsplätzen keine Konkurrenz machen. Im Gesetz
       über den Bundesfreiwilligendienst heißt es ausdrücklich, dieser sei
       „arbeitsmarktneutral auszugestalten“.
       
       Auch über andere Dienste wie das Freiwillige Soziale Jahr kann man lesen:
       „Die Freiwilligen verrichten unterstützende, zusätzliche Tätigkeiten und
       ersetzen keine hauptamtlichen Kräfte.“
       
       ## Die Billig-Bufdis
       
       Der mit der Wehrpflicht abgeschaffte Zivildienst sollte ebenfalls
       arbeitsmarktneutral sein. Faktisch aber waren viele Zivis mit Pförtner- und
       Fahrdiensten oder Küchen- und Kantinenhilfe beschäftigt, also mit Arbeiten,
       für die eigentlich bezahltes Personal hätte eingestellt werden müssen. Da
       viele ehemalige Anbieter von Zivildienststellen nunmehr umstandslos
       „Bufdis“ statt „Zivis“ beschäftigen, besteht der Verdacht, dass auch beim
       Bundesfreiwilligendienst die Sache mit der Arbeitsmarktneutralität eher
       locker gesehen wird.
       
       Berno Schuckart-Witsch (Ver.di) hat Beispiele für Freiwilligen- und
       Bufdi-Stellen parat: Kindertagesstätten, die Küchenhilfen und Personen
       suchen, die mit den Kindern rumtollen und sie begleiten: unentgeltlich, 40
       Stunden in der Woche. Oder eine Suchtklinik, in der Ehrenamtliche ebenfalls
       voll in die Abläufe integriert sind.
       
       Eigentlich erfüllt das alles rechtlich die Kriterien eines
       Arbeitsverhältnisses – nur dass man entweder gar nichts verdient oder als
       Bufdi höchstens 336 Euro im Monat. Anders als zuvor für die
       Zivildienstleistenden gibt es für Bufdis keinen Rechtsanspruch auf
       Unterkunft, Verpflegung oder entsprechende geldwerte Leistungen.
       
       Viele Tätigkeiten in den Freiwilligendiensten ebenso wie vieles andere, was
       unter ehrenamtlicher Tätigkeit mit Aufwandsentschädigung läuft, sind de
       facto Jobs im Niedrigstlohnsektor. Überwiegend werden sie in Bereichen
       verrichtet, die durch hohe Belastung, extremen Personalmangel und
       strukturelle Unterfinanzierung gekennzeichnet sind und in denen Gehälter
       ohnehin schmal ausfallen – bei den Wohlfahrtsverbänden liegen sie im
       Schnitt 10 bis 15 Prozent unter den entsprechenden, auch nicht üppigen
       Tarifen für den öffentlichen Dienst.
       
       ## Der Markt ist abgegrast
       
       Für Wohlfahrtsverbände wie die evangelische Diakonie ist Ehrenamtlichkeit
       schon lange eine „strategische Notwendigkeit“, weil sie in der ihnen von
       der Politik auferlegten Konkurrenz- und Wettbewerbssituation nur durch
       Senkung der Personalkosten bestehen können.
       
       Im Jahre 2010 beschäftigte die Diakonie bundesweit über 700.000
       Ehrenamtliche. 74 Prozent davon waren Frauen, 8 Prozent erwerbslos
       Gemeldete. Hauptamtliche gab es zur gleichen Zeit 453.000. Nicht ganz so
       stark stützen sich die anderen Wohlfahrtsverbände auf die Ehrenamtlichen.
       Bei der Caritas lautet das Zahlenverhältnis Haupt- zu Ehrenamtliche 559.000
       zu 500.000, bei der Arbeiterwohlfahrt 173.000 zu 70.000.
       
       Der entkernte Sozialstaat und seine Träger stützen sich auf dieses
       euphemistisch „Bürger-Profi-Mix“ (Klaus Dörner) genannte Modell. Es ist
       aber schon jetzt nicht mehr funktionsfähig. Burn-out und Überlastung bei
       gleichzeitig schlechter Bezahlung führen zu chronischem Arbeitskräftemangel
       in Pflegeberufen und in Kindertagesstätten. Freiwillige können die Lücken
       auf Dauer nicht füllen. Obwohl die Werbetrommel unentwegt gerührt wird, ist
       der Markt für ehrenamtliche Kräfte ziemlich abgegrast.
       
       Ein Stück weit Entlastung versprechen da die sogenannten Dienste, nicht
       nur, weil sie den Einsatz der Freiwilligen plan- und berechenbarer machen.
       Zugleich bieten sie durch kleinere Geldbeträge einen monetären Anreiz. Der
       seit 2011 bestehende Bundesfreiwilligendienst (BFD) trägt dazu bei, die
       Grenzen zwischen „monetarisiertem Ehrenamt“ und dem wachsenden Sektor
       prekärer Beschäftigung weiter zu verwischen. Ein Jahr nach dessen
       Einführung freute sich die Bundesregierung, dass der neue Dienst so gut
       angenommen wurde und alle 35.000 Plätze belegt waren.
       
       ## Arbeitslose zu uns!
       
       Kein Wunder, sagen die Gewerkschaften. In den ostdeutschen Bundesländern
       ist der BFD eine Alternative zur Arbeitslosigkeit. Indiz dafür ist, dass
       sich dort viele über 27-Jährige melden, also Menschen in einem Alter, in
       dem man bei einer normalen Erwerbsbiografie beruflich gerade Fuß fasst, in
       Ostdeutschland mit der weit über dem Durchschnitt liegenden
       Arbeitslosigkeit aber wenig Chancen hat.
       
       Seit dem 1. Januar 2012 gelten Erleichterungen für Hartz-IV-Bezieher, die
       sich zum BFD gemeldet haben; sie dürfen vom BFD-Taschengeld 175 Euro
       zusätzlich zu ihren Arbeitslosengeld-II-Bezügen behalten und sind während
       ihrer Dienstzeit nicht gezwungen, angebotene Erwerbsarbeit anzunehmen.
       Diese Erleichterungen sind natürlich, objektiv betrachtet, ein weiteres
       Indiz dafür, dass ganz legal Arbeit zu sittenwidrigen Niedriglöhnen
       geleistet wird, außerhalb jedweder Mindestlohnregelung oder tariflichen
       Bestimmung.
       
       Bufdis, FSJler, Teilzeitkräfte, Leiharbeiter, 450-Euro-Jobber unterhalb der
       Versicherungspflichtgrenze, Honorarkräfte, Praktikanten, Menschen mit
       „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ (sogenannte
       Ein-Euro-Jobs), Ehrenamtliche mit und ohne „Aufwandsentschädigung“ – oft
       haben Betriebs- bzw. Personalräte oder Mitarbeitervertreter keinen
       Überblick mehr darüber, welche Beschäftigte zu welchen Konditionen
       arbeiten.
       
       Alle profitieren von diesem zersplitterten, völlig intransparenten
       Arbeitsmarkt: die traditionellen Träger von Einrichtungen und die neuen
       privaten Betreiber von Kliniken, wie Fresenius, Asklepios, Helios oder
       Rhön-Klinikum. Nur die dort Beschäftigten profitieren nicht. Das ist die
       Kehrseite der Philosophie der Nächstenliebe.
       
       18 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Claudia Pinl
       
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