# taz.de -- Literaturzeitschrift „Neue Rundschau“: Täterinnen begehen Taten
       
       > In der Literaturzeitschrift „Neue Rundschau“ schreiten Autorinnen das
       > eigene Denken ab. Glücklicherweise ohne Schwarzer-Bashing und
       > Alphamädchen-Hype.
       
 (IMG) Bild: Die Autorinnen kommen ohne Latte-macchiato-Mütter-Klischee aus.
       
       Statt eines Vorworts steckt ein kurzer Mailwechsel das Konzept dieser
       Ausgabe ab. Die Schriftstellerin Antje Ravic Strubel weist den Lektor Hans
       Jürgen Balmes – der zusammen mit Jörg Bong, Alexander Roesler und Oliver
       Vogel die Neue Rundschau herausgibt – darauf hin, dass auch in der
       altehrwürdigen Literaturzeitschrift des S. Fischer Verlags „ein eklatant
       unausgewogenes Verhältnis zwischen weiblicher und männlicher Präsenz
       herrscht“.
       
       „Du hast absolut Recht! Das geht nicht! Das darf nicht sein!“, ruft darauf
       erschrocken bis eilfertig der Herausgeber zurück und macht im Namen der
       Redaktion ein geradezu klassisches, total nett gemeintes Sühneangebot: Eine
       ganze Ausgabe lang sollen doch mal die Frauen sprechen! Und: „Wir würden
       uns freuen, Dich als Gastkuratorin zu gewinnen.“
       
       Doch Antje Ravic Strubel, die sich zuletzt vor allem mit Übersetzungen der
       amerikanischen Essayistin Joan Didion verdient gemacht hat, sträubt sich,
       „ein Alibiheft fürs gute Gewissen“ zu gestalten. Zwar nimmt sie das Angebot
       an, drückt ihm jedoch ihren eigenen Stempel auf. Nicht „der Stand
       feministischer Debatten“ oder die Kathy Ackers von heute, wie Balmes
       vorgeschlagen hat, sollen Gegenstand der Strubel-Nummer sein.
       
       Glücklicherweise wird auch sonst keine der üblichen Schubladen zwischen
       Alice-Schwarzer-Bashing und Alphamädchen-Hype, Vagina-Explorationen und
       Stillschlammschlachten, Genderterror und Latte-macchiato-Mutterschaft
       aufgezogen. Selbst die Quotenfrage, die ja die Ausgabe erst angestoßen hat,
       bleibt außen vor; mit Joachim Helfer ist auch ein (seine Homosexualität
       thematisierender) Mann im Boot. Stattdessen setzt Strubel auf die
       „grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis zwischen Ich und Welt“. „Was
       dringend getan werden muss“ steht auf dem Titel – wobei diese mehr
       postleninistische als postfeministische Ansage dann doch zielstrebig in die
       Irre führt.
       
       „Verschleier dein Anliegen“ heißt schließlich einer der 13 Imperative, die
       Antje Ravic Strubel in Anlehnung an den frühen Listenschreiber Walter
       Benjamin („Ankleben verboten! Die Technik des Schriftstellers in 13
       Thesen“) verfasst hat und die der Leserin gleich zuerst in Form eines
       beigelegten Leporello in den Schoß purzeln. „Widersprich dir selbst“,
       „Vernachlässige dich selbst“, „Lösch deine Spuren“, „Sei viele“ oder auch
       „Ertränke deine Leser und deine Vögel im Licht“. Was wie eine Setlist vom
       Tocotronic-Konzert klingt, ist ein poetisches Programm des Eigensinns (der
       auch Eigenunsinn mit einschließt), verdichtet und erhoben gegen die eigene
       Berechenbarkeit, gegen Effizienz und ein Übermaß an Rationalität.
       
       ## Sich-sediert-Fühlen
       
       Die Grundlage dieser Poetik findet sich in der Gegenwartsdiagnose, die
       gerade die essayistischen Texte des Heftes verbindet. „Wie sind umgeben von
       grenzenloser Freiheit“, schreibt die Autorin Julia Schoch (Jahrgang 1974),
       „Die Menschen müssen sterben, weil alles bekannt ist“, zitiert die
       Lyrikerin Anja Utler (Jahrgang 1973) Die tödliche Doris aus dem Jahr 1981.
       
       Das typische Generationsleiden der in den 70er Jahren Geborenen an bereits
       geschlagenen Schlachten, weggebrochenen autoritären Instanzen, am
       Sich-sediert-Fühlen durch fortwährende Konsumverfeinerung und
       Ichausbildung? Von diesen altbekannten Brettern unternehmen die Autorinnen
       dann doch sehr unterschiedliche Sprünge.
       
       Den Auftakt macht Anja Utler, ebenfalls mit einem Imperativ im Titel: „Nur
       Sklaven sind unangreifbar: Verwickelt Euch“. Ihr Text sträubt sich mit fast
       jedem Satz und nicht ohne Koketterie gegen die schnelle Leserverwertung.
       
       Utler entfaltet ihre Gedanken in Fragmenten – Beobachtungen, literarische
       Notizen zu einer Begegnung auf der Palliativstation, Fragen und
       Überlegungen zu Zitaten anderer Autoren, Schnipsel zu Politik- und
       Zeitgeistfragen –, und genau diese paradoxe Gedankenbewegung, das
       verwickelte Entwickeln einer komplexen Subjektposition zwischen Leben und
       Tod, oder auch, weniger philosophisch gesprochen, eines schreibenden Ichs,
       ist zugleich Thema dieses Aufsatzes und Rettungsrezept vor dem Herz- und
       Hirnstillstand.
       
       ## Nicht die Avantgarde
       
       Ganz anders die Überlegungen von Julia Schoch und Kathrin Röggla (Jahrgang
       1971), die ebenfalls ihre Autorinnenpositionen reflektieren. Schoch gelangt
       in ihrem stringenten Wechselspiel aus Prosa und Philosophie zu der
       Überzeugung: „Wo die wesentliche Erfahrung die unaufhörliche Metamorphose
       allen Seins ist, lässt sich nur in eine Richtung sehen: zurück.“ Nicht die
       Avantgarde, sondern die Erinnerungswürdiges aufsammelnde Nachhut sei daher
       die zwingende Marschposition des Schriftstellers.
       
       Und Röggla überprüft aus Anlass ihrer Recherchen bei einer Mainzer
       Bürgerinitiative gegen den Fluglärm des Frankfurter Flughafens ihre
       Vorurteile gegen den verächtlich gescholtenen „Wutbürger“ und gelangt zu
       interessanten Einsichten über die „derzeit beliebte Diskursposition“ des
       Opfers: „Es sieht so aus, als dürfe man eigentlich kein individuelles Opfer
       sein in dieser Gesellschaft, und gleichzeitig erzielt man doch symbolische
       Gewinne, wenn man einer Opfergruppe angehört.“
       
       Apropos Opfergruppe. Ist Antje Ravic Strubel nicht doch die ein oder andere
       feministische Positionsbestimmung unterlaufen? Es fällt auf, dass etliche
       Beiträge ein starkes Ich setzen mit hoch empfindsamen Erzählerstimmen;
       keinesfalls weltabgewandt, aber doch mit sich selbst beschäftigt.
       Prosafragmente, Tagebucheinträge, lyrische Prosa scheinen geeignete Formen:
       Die Berliner Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf verdichtet einen
       Inselurlaub mit Säugling zu einer soghaften Kette, in der sie nicht nur
       kunstvoll und witzig Laute verschiebt, sondern auch eine kleine
       Evolutionsgeschichte der Sprach- und Subjektwerdung erzählt.
       
       Im Vergleich dazu sind die Gedichte der Kroatin Olja Savicevic
       schnörkellose Momentaufnahmen, scheinbar an der Wirklichkeit entlang
       notiert, die sich dann doch zu einer überraschenden Einsicht, einem
       Aphorismus zusammenziehen. Und in Sara Stridsbergs wehmütiger Erzählung
       „Was ist Ever Love?“ erforscht ein Ich in fragmentarischen Schnipseln,
       warum „ich mich immer in jemanden verlieben muss, vor dem ich Angst habe“.
       Durch ihr radikal subjektives Erzählen bugsiert die schwedische
       Schriftstellerin den Leser in die Position des Analytikers, der eine vom
       Verschwinden der Mutter geprägte Familiengeschichte aufdeckt.
       
       ## Täterinnen begehen Taten
       
       „Weibliches Schreiben“ – so hießen in den 90ern (und heißen noch heute)
       germanistische Hauptseminare, in denen gruselige Innenlebenschilderungen
       von Marlen Haushofer bis Friederike Mayröcker mit der These erklärt wurden,
       dass Frauen nach jahrhundertelanger Unterdrückung im Patriarchat ihre
       Identität erst erfinden und sich aus dem Opferstatus herausschreiben
       müssten. Tempi passati?
       
       Es ist ein Zeichen von Selbstbewusstsein, wenn Strubels Anthologie vor
       allem ausgeprägte Individualität vermittelt und höchste Skrupel vor
       ideologischer Vereinnahmung, außerdem sperrangelweit offene
       Wahrnehmungskanäle und Leidenschaft für das eigene Denken, Schreiben, Tun.
       Die britische Autorin Jeanette Winterson, die den Bogen von den staatlichen
       Bestrafungen der Suffragetten zu Pussy Riot spannt, klingt in diesem Umfeld
       fast schon ein wenig überholt, wenn sie mit der Aufforderung „Taten, nicht
       Worte, meine Damen“ schließt. Aber ja, nicht Opfer, sondern Täterinnen
       begehen Taten!
       
       Die Basis für diese schöne neue Souveränität dürfte zum einen schlicht
       Wohlstand sein. Daran erinnert die kluge Auswahl selbst, etwa mit einem
       Gedicht der nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. „Sie
       weiß, die Kinder werden verkümmern – / Wie die Palmen auch. Aber sie kennt
       kein Schottland, / Wo jedes Kind gerade wächst, / Wo jedes Kind im Sand /
       Ohne uringelbe Flecken, ohne verfärbte Flüsse spielt.“
       
       Antje Ravic Strubel wiederum denkt in einem kurzen Text über die jüngsten
       deutschen Debatten um Sexismus, Rassismus und Antisemitismus nach und kommt
       zu dem Schluss: „In diesem Land tut sich etwas!“ Klar, die öffentlichen
       Grenzverhandlungen darüber, was als sexuelle Belästigung, rassistische oder
       antisemitische Verunglimpfung empfunden wird, sind ein Gewinn. Der
       Siegeszug des liberalen Pluralismus oder seiner strengen Schwester, der
       Political Correctness, ist die zweite Bedingung für ein Klima, in dem nicht
       jedes Angebot für ein „Frauenheft“ in eine schwer munitionierte
       Großoffensive verwandelt werden muss.
       
       Und doch, finde ich, kann man auch von diesem Triumph nicht ohne seine
       Fallstricke erzählen: den Beigeschmack von Gesinnungskontrolle, moralischen
       Überlegenheitsgefühlen und jenen Opfergruppenzwängen, die Kathrin Röggla
       erwähnt. Aber man muss ja nicht alle Großtaten auf einen Schlag begehen.
       
       15 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva Behrendt
       
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