# taz.de -- Berliner Sommerausflug 4: Im verzauberten Land
       
       > Auf dem Schöneberger Südgelände leben seltene Vögel, wuchern wilde
       > Pflanzen, rasten Besucher. Hin und wieder duftet es nach Heu.
       
 (IMG) Bild: Verwunschene Natur: auf dem Schöneberger Südgelände.
       
       Neu nach Berlin gekommen, kletterten wir aus Heimweh nach den Rändern der
       kleinen Städte voller nächtlicher Feuer über Gleise und Zäune. Wir aßen
       Brombeeren, sammelten Brennnesseln und knutschten Kunststudenten. Heute
       machen wir dasselbe, nur dass die verbotenen Gebiete jetzt offizielle
       Eingänge haben und die Gleise, alten Loks und besprayten Stellwerke in
       einem Naturschutzgebiet mit aussterbenden Heimtierrassen stehen.
       
       Beim „Natur-Park Südgelände“ handelt es sich um ein Gebiet etwa zwischen
       dem Steglitzer Schuttberg „Insulaner“ und dem Schöneberger „Gasometer“ in
       Höhe des neuen und alten S-Bahnhofs Priesterweg. Der Verfall der von
       Menschen kunstvoll arrangierten Technik wird dort nur beobachtet, das
       Wachstum der „grünen Hölle“ dagegen geschützt und gefördert. Die Neonatur
       verbindet sich dabei quasi organisch mit den Resten einer Schwerindustrie,
       die unmerklich wegrostet und überwuchert wird.
       
       Es war eine Bürgerinitiative, die 1980 eine Verwertung des 1889 in Betrieb
       genommenen und 1969 stillgelegten Güter- und Rangierbahnhofs als Immobilie
       verhinderte, indem sie einen Senatsbeschluss zur Rodung des Geländes
       mittels aufklärerischer Flugblätter, Aktionen und Rechtsmittel zu Fall
       brachte. Den Rest besorgten dann die Naturschützer, die keinen Spaß
       verstehen, wenn es um eine gefährdete Tier- oder Pflanzenart geht, von
       denen es auf dem „Südgelände“ laut der Beschilderung jede Menge gibt:
       angefangen von zarten Pflänzchen und noch zarteren Insekten über äußerst
       seltene Vögel bis hin zu immer mehr kleinen Säugetieren.
       
       Inzwischen erinnert der Ort an ein verzaubertes Land, wie in dem fast schon
       wieder vergessenem Film „Stalker“ von Tarkowski oder in den Videoclips über
       die „Verbotene Zone“ von Tschernobyl. Die Gegend hat etwas verboten
       Feierliches.
       
       An den Zugängen stehen Eintrittsautomaten, die die Funktion einer
       1-Euro-Spendenkasse haben. Dann, zwischen Birken, Ebereschen, Ahorn- und
       Weißdornbäumen: Schafe, die wie Ziegen aussehen. Sie weiden auf bunten,
       artenreichen Wiesen, Plastikschilder weisen auf deren ewigen Wandel hin.
       
       Wir treten über schwebende Brücken, die alten Gleisbetten folgen, gerade
       nicht in die Nester der Zivilisationsnachfolgevögel, empfindliche
       Bodenbrüter … und gelangen zu einer großen Dampflok, der ersten Drehscheibe
       Berlins, einem Café, einem großen Reparaturschuppen, Stellwerken und
       Werkstätten, einem Kiosk, an dem ein taz-Transparent hängt, und zu einem
       riesigen Wasserturm, auf dem ein Turmfalkenpärchen nistet.
       
       Wir streiten uns an einem Brombeerwall, ob es sich davor um eine
       „Rispen-Flockenblume“ oder einen „Raublattschwingel“ handelt. Und es wird
       schriftlich an die Selbstverantwortung der Jugend appelliert: „Sprayt an
       den vorgesehen Stellen von 11 bis 16 Uhr, damit Sprayen weiterhin erlaubt
       werden kann. Viel Spaß!“
       
       Parallel zur „Wilden Grünzone“, getrennt durch Zäune und S-Bahn-Gleise,
       gibt es noch eine „Zahme Grünzone“, die aussieht wie den dortigen
       Schrebergartensiedlungen gewaltsam abgerungen, um dann vom Jugendsenator
       „developed“ zu werden. Die sportive Schneise heißt seit 2002
       Hans-Baluschek-Park und besteht laut Wikipedia „im Wesentlichen aus
       Wiesenflächen, einem 1,5 Kilometer langen Weg und vier gestalteten Plätzen
       entlang des Weges“. Wir überzeugten uns davon auf dem Rückweg vom
       Südgelände Südkreuz.
       
       Während in der „Wilden Grünzone“ verantwortungsvolle junge Väter ihre
       munteren Babys füttern, „Bird-Watcher“ ihre Angebetete anflüstern: „Hast du
       eben den Zaunkönig gehört?“, und ältere Damen für den Frieden meditieren,
       spielt sich in der „Zahmen Grünzone“ der übliche Juvenil-Schwachsinn ab:
       Birkenbäumchen umknicken, Basketball, Hund anleinen, Joggen, Skateboarden,
       sich betrinken, laut Musik hören.
       
       Die Zahme und die Wilde Grünzone stehen hier im selben Verhältnis
       zueinander wie U- zu E-Musik. Deswegen gibt es auf dem wilden Südgelände
       statt Bewegungsspielen zahme Sitzveranstaltungen: zum einen das
       Ein-Frau-Theater „Fräulein Brehms Tierleben“, in dem es nach Heu duftet.
       „Das weltweit einzige Theater für gefährdete Tierarten“, wie Fräulein Brehm
       behauptet, die nur ausgestopfte Tiere mitspielen lässt und daneben noch
       Symposien mit Experten veranstaltet – unter anderem über Regenwürmer und
       Wildbienen (von denen es 95 Arten auf dem Südgelände gibt).
       
       Zum anderen das kleine Amphitheater der Shakespeare Company, die den Sommer
       über „Shakespeare in Grün“ gibt, daneben aber auch noch das Potsdamer
       Ensemble „Shakespeare und Partner“ mit der „Komödie der Irrungen“ zu Gast
       hat.
       
       In der Reparaturhalle haben drei Amerikaner ein „White Bouncy Castle“
       aufgebaut – eine Hüpfburg, groß und weiß, in der es jedoch im Gegensatz zu
       den gewöhnlichen U-Luftmonstern um eine „ernst gemeinte Erprobung von
       Choreografie im Alltag geht, in der es nur Teilnehmer, keine Zuschauer mehr
       gibt.“
       
       Man sieht daran: Ganz mag man sich auch auf dem Südgelände nicht auf die
       bloße Neonatur als Ausflugsziel verlassen. Dabei finden dort bereits wie in
       jeder „Zone der Anomalie“ quasinatürliche Kulturereignisse statt –
       Bilokationen zum Beispiel.
       
       Gerade als wir nämlich im Cafégarten Platz nahmen, ging der
       Kairo-Korrespondent der taz, Karim El-Gawhary, dort vorbei. Er beschrieb
       zwei älteren Herren die lange Geschichte des Schöneberger Südgeländes.
       Zugleich befand er sich jedoch auch in Ägypten, von wo aus er uns täglich
       über den Arabischen Aufstand aufklärt, und zwar äußerst fundiert.
       
       17 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
 (DIR) Katrin Eissing
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Dokumentartheater
 (DIR) Brandenburg
       
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