# taz.de -- Berliner Sommerausflug 5: Wo so irre weit zu gucken ist
       
       > Es hat etwas Beruhigendes, mal nicht das Gefühl zu haben, irgendwas zu
       > verpassen, weil einfach gar nichts passiert. Auf dem Weg nach
       > Klosterfelde.
       
 (IMG) Bild: Vorbei geht's am Wandlitzsee, in den dieser junge Mann gerade springt.
       
       Wenn man sagt, Großstädter hätten einen ziemlich weiten Begriff von
       „Natur“, dann ist das die reine Wahrheit.
       
       Sobald ich irgendwas anderes als Asphaltwüsten und Häuserdschungel vor die
       Nase kriege, gerate ich stets in totale Verzückung. „Woah, guck mal, Kühe!“
       Ich klebe an der Fensterscheibe der „Heidekrautbahn“. Wir fahren nach
       Klosterfelde. Der Freund vom Freund des Freundes von Tante Erna hat dort
       ein Haus, das wollen wir uns angucken. „Stadtkind!“, spottet Paul und
       schüttelt den Kopf.
       
       Paul findet Natur unheimlich, er ist mit ihr aufgewachsen. Ich dagegen –
       groß geworden mit Fenster zum Hof, voll betoniert, mit Mülltonnen und
       Teppichstange statt Klettergerüst – finde schon irre, dass man hier so weit
       gucken kann, ohne wirklich was zu sehen. Es hat so etwas Beruhigendes, wenn
       man mal nicht das Gefühl haben muss, irgendwas zu verpassen, weil einfach
       gar nichts passiert. „Will jemand eine Stulle?“, fragt Tante Erna. „Wir
       sind gerade losgefahren“, sage ich. Mit der S 2 bis Karow und dann in die
       Niederbarnimer Eisenbahn, wie die Regionalbahn hier heißt. Man könnte
       direkt bis Klosterfelde durchfahren, aber wenn man eine Station vorher
       aussteigt und den Rest mit dem Fahrrad fährt, dann braucht man nur
       Fahrkarten für den ABC-Bereich. Und das spart ordentlich Geld.
       
       Vom Bahnhof Wandlitzsee geht es rechts nach Klosterfelde auf der B 109
       Richtung Prenzlau. Links Atzes Angelladen, rechts Fleischerei Wolff, am
       Straßenrand Knupperkirschen. Der Fahrradweg verläuft parallel zur
       Hauptstraße. Der Barnim ist von vielen Seen und Tümpeln durchzogen, in
       denen man prima baden kann, die jedoch Abkürzungen durchs Grüne mitunter
       verhindern. Der Liepnitzsee ist hier um die Ecke, der Wandlitzsee natürlich
       und der Lottschesee, da wollen wir später noch hin.
       
       ## Keine Mauern im Blick
       
       „Klosterfelde 6 km“ verkündet ein gelbes Schild. Weizenfelder, so weit das
       Auge reicht. Und: „Schwalben! Sind das Schwalben?“ Grazile Vögelchen tanzen
       über das Feld und stürzen sich in die Tiefe. Wenn sie im Wind segeln, sieht
       aus, als würden sie an unsichtbaren Fäden hin und herschwingen. Schwalben
       kenne ich, die gibt es auch in Pankow, aber hier kann man sie richtig
       beobachten, weil keine Mauern den Blick versperren.
       
       Wenn links hinten die Windräder in den Himmel ragen, dann sieht man rechts
       bald das Ortseingangsschild von Klosterfelde, direkt dahinter das erste
       Haus und an dessen Fassade ein Werbeplakat: „Berlin, du bist so wunderbar“.
       In einem der Vorgärten steht ein Motorrad aus Baumstämmen. Ein paar Meter
       weiter ragt ein fest montiertes Schild aus verwilderten Büschen, das
       irgendwie nach Tankstelle aussieht. Es wirbt für „DDR-Waffen, Reparatur,
       An- und Verkauf“.
       
       Ein Autohaus gibt es auch. Und eine Imbissbude mit dem sprechenden Namen
       Zum heißen Würstchen.
       
       Plötzlich lautes Motorendröhnen. Es klingt, als würde ein Hubschrauber über
       uns hinwegfliegen. Mindestens. Doch oben ist nichts. Stattdessen brettern
       neben uns auf der Landstraße drei … äh … Dinger vorbei. Sie haben
       Ähnlichkeit mit Harley Davidsons, aber je ein Rad zu viel.
       
       Klosterfelde ist berühmt für seine Trikertreffen, lernen wir später bei
       Wikipedia. Außerdem hat es als große Attraktion ein weltweit einmaliges
       Internationales Artistenmuseum. Es gibt sogar so offizielle
       Sehenswürdigkeitenschilder, die das anzeigen. Leider ist der Betreiber vor
       Kurzem verstorben, im Alter von 85 Jahren. Bis jetzt ist unklar, was aus
       dem Museum wird.
       
       Klosterfelde ist eines dieser Brandenburger Dörfer, deren Struktur denen
       von Halsketten ähnelt. Straßenangerdorf heißt so was. Die B 109 ist die
       Kettenschnur, an der sich die Häuser wie Perlen entlangziehen. In der Mitte
       des Ortes ragt als größte Perle von Klosterfelde eine kleine dicke Kirche
       in den Himmel, ein frisch restaurierter Bau aus dem 13. Jahrhundert mit
       Kreuzrippengewölbe und holzgeschnitztem Altar aus dem 17. Jahrhundert.
       Während der Sommerferien ist die Kirche täglich für Besucher geöffnet.
       
       Es gibt auch einige Gründerzeitbauten im Ortskern, die von Klosterfeldes
       Wohlstand als Küchenmöbelfabrikstandort im 19. Jahrhundert künden.
       
       Wenn man einmal ganz durch Klosterfelde durchgefahren ist, kommt ganz
       hinten, noch hinter dem Ortsausgangsschild, der Lottschesee, der aus einem
       großen Teil mit Zeltplatz, Angelstelle und eigener Heidekrautbahnstation
       besteht und einem kleinen Lottschesee mit einer winzigen Badestelle. Das
       Wasser erinnert an Apfelsaft. Naturtrüb. Aber der Boden ist toll. Es gibt
       gar keine Steine, die pieken, wenn man reingeht.
       
       Direkt neben der Badestelle ist das Haus Lottschesee mit Hotel und
       Restaurant. Pauls Nackensteak mit Pommes ist okay und preiswert, mein
       gemischter Salat in Teigtasche dagegen eine Zumutung mit Joghurtdressing.
       Tante Ernas Apfel-Streuselkuchen wiederum schmeckt zum Reinlegen gut,
       obwohl sie eigentlich gar keinen Hunger hat wegen der Stullen von der
       Hinfahrt.
       
       Apropos. So langsam gilt es, den Rückweg zu planen. Erna hat
       herausgefunden, dass jeder zweite Zug der Heidekrautbahn in Klosterfelde
       eingesetzt wird. „Einen von denen müssen wir kriegen!“, sagt sie. Es sei
       schließlich Sonntag und außer uns vermutlich noch schätzungsweise eine
       Million andere Berliner in den Barnim zum Baden gefahren. Und alle hätten
       ihre Fahrräder dabei.
       
       ## Mangelware Fahrradabteil
       
       Tante Erna macht jeden Sommer mit ihren Freundinnen eine mehrtägige
       Fahrradtour. Sie hat schon so viele Züge wegen Überfüllung fahren lassen
       müssen, weil die Bahn trotz stetigen Ausbaus des Fahrradtourismus nicht auf
       die Idee kommt, am Wochenende mal zusätzliche Fahrradabteile an die
       Regionalzüge zu hängen. Die Radtoursaison geht ja auch nur von Anfang März
       bis Ende Oktober. Dank Ernas Vorsorge sind wir eine halbe Stunde eher am
       Bahnhof.
       
       Die Bahnhofstraße geht neben der Kirche ab. Die Bahnhofssiedlung ist
       sozusagen das Collier an der Halskette B 109. Zu Tante Ernas großem Glück
       steht die leere Bahn schon bereit. Wir verstauen die Räder. Der Fahrer
       trinkt Kaffee in der Bahnhofskneipe, die direkt an den Bahnsteig
       anschließt. Ein paar Gestalten hängen am Tresen. „Ick muss ja ooch
       zuhause“, murmelt der eine. „Der Zuch fährt do’ erst neununzwanzich“, sagt
       der andere. Das Bier wird frisch gezapft.
       
       Als der Zug 20.29 Uhr von Klosterfelde abfährt, stehen fünf Räder in dem
       Fahrradabteil, das offiziell für zehn Fahrräder ausgelegt ist. In
       Wandlitzsee kommen ungefähr zehn dazu. „Alle Räder ins Fahrradabteil!“,
       ruft die Stimme des Fahrers aus den Lautsprechern, als Leute versuchen,
       sich in der Zugmitte irgendwo reinzuschummeln. „Die sind sonst nicht
       versichert“, weiß jemand. In Wandlitz müssen die meisten Radfahrer draußen
       bleiben. „Ich hab schon zwei Züge fahren lassen“, erzählt eine Frau, die es
       gerade noch geschafft hat. In Basdorf ist das Fahrradabteil so voll, dass
       drei Spanier ihre Rennräder einfach auf die anderen Fahrräder
       obendrauflegen. In Schönwalde hat der Fahrer dann resigniert.
       
       Wir sind entspannt. Unsere Räder bilden zwar das Fundament des
       Fahrradberges, aber Karow ist Endstation. Da steigen eh alle aus. Und wir
       kommen wohlbehalten nach Hause zurück.
       
       24 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lea Streisand
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Brandenburg
       
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