# taz.de -- NSA-Skandal und die Psyche: Es ist Krieg – und alle schauen zu
       
       > Eine Vergewaltigung in New York zeigt, warum wir auf das Szenario einer
       > Totalüberwachung so lethargisch reagieren. Unpassende Überlegungen.
       
 (IMG) Bild: Es passiert etwas Schreckliches. Und alle sehen nur zu?
       
       „Stellt euch vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Das ist ein
       geflügelter Slogan der Antikriegsbewegung.
       
       Bei Demos gegen den Vietnamkrieg stand er schon auf den Bannern, und auch,
       als die Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre gegen den
       Nato-Doppelbeschluss auf die Straße ging. Der Satz wird Bert Brecht
       zugeschrieben, fälschlicherweise, eigentlich stammt er von dem
       amerikanischen Dichter und Lincoln-Biografen Carl Sandburg. In seinem
       Gedicht „The People, Yes“ von 1936 begegnet ein kleines Mädchen das erste
       Mal einer Truppenparade, und sagt: „Einmal werden sie einen Krieg geben,
       und keiner wird kommen.“
       
       Stellt euch vor, es ist Krieg. Und kaum einer schaut hin.
       
       Verwundert starrt die Welt seit einigen Wochen auf eine gigantische
       Truppenparade. Da marschieren keine Soldaten im Stechschritt, rumpeln nicht
       Panzer über den Asphalt. Es sind Algorithmen, Trojaner und Computerwürmer,
       die versammelte Spyware der NSA.
       
       ## Ach was, Krieg!
       
       Cyberwar –noch vor ein paar Wochen klang das wie Science-Fiction, eine
       vielleicht nicht ganz so fernliegende Zukunftsvision. Inzwischen wissen
       wir: Die Drohnen jagen längst durchs Netz, abgefeuert in den USA und in
       Großbritannien. Nicht nur auf der Jagd nach potenziellen Terroristen werden
       Daten abgesaugt, auch für Wirtschaftsspionage und Industriesabotage sind
       sie im Einsatz. Nicht einmal Ländergrenzen bieten Schutz, nur Tote gibt es
       bisher keine.
       
       Es ist, wie Sandburgs Mädchen prophezeit hat: Es ist Krieg, und keiner geht
       hin.
       
       Die meisten Menschen geben sich unbeteiligt. Nur ein paar hundert haben
       Anfang Juni vor dem Kanzleramt in Berlin demonstriert. Die Bundesregierung
       hat in London und Washington höflich um Auskunft über die Angriffsmethoden
       ersucht und „mit Nachdruck“ gebeten, deutsches Recht und die
       Verhältnismäßigkeit zu beachten. Der deutsche Innenminister Friedrich ist
       nach Washington gereist; man hatte den Eindruck, wie ein Emissär eines
       Stammes der Sioux, der darum nachsucht: Wenn ihr uns schon angreift, dann
       doch bitte bei Tageslicht.
       
       Ach was, Krieg! Was wollen die von der NSA schon mit meinen Daten? Je
       totaler die Überwachung, desto mehr geht denen doch durchs Netz! Wie bei
       Nine Eleven. Und ich? Ich habe doch nichts zu verbergen, was die
       interessiert!
       
       ## Der Mord an Kitty Genovese
       
       Das sind die Gedanken, mit denen man sich als normaler User der digitalen
       Welt die gute alte Normalität aufrechtzuerhalten versucht. Vielleicht
       beschäftigt man sich ein wenig mit Verschlüsselung, um nicht ganz so naiv
       dazustehen. Lässt sich sagen, was monströser ist: die
       Überwachungsmaschinerie, die da sichtbar wird, oder die Passivität, mit der
       viele Menschen darauf reagieren?
       
       1964 geschah in New York ein Mord auf offener Straße. Kitty Genovese wurde
       im Stadtteil Queens nur wenige Meter von ihrer Haustür entfernt von einem
       Mann mit einem Messer angegriffen, vergewaltigt und erstochen. Fast eine
       halbe Stunde zog sich die Tat an wechselnden Orten hin. Die verletzte Frau
       schleppte sich, eine Blutspur hinter sich herziehend, durch das Viertel.
       Der Täter, Winston Mosley, hatte schon von ihr abgelassen, setzte ihr dann
       noch einmal nach, um sie unter Messerstichen zu vergewaltigen.
       
       38 Personen verfolgten das Geschehen, ermittelte später die New Yorker
       Polizei. Niemand sah genau, was da Schreckliches vorging, aber alle sahen
       genug. Und niemand griff ein.
       
       Man spricht seitdem vom Genovese-Effekt, wenn unter den Augen von Passanten
       eine Gewalttat passiert: Wenn eine Frau in der U-Bahn vergewaltigt wird und
       niemand auf ihre Hilferufe reagiert, wie 1997 in Hamburg. Oder zuletzt 2011
       in der chinesischen Stadt Foshan, als die zweijährige Yue Yue überfahren
       wird und stirbt, weil mindestens 18 Menschen wegsehen.
       
       ## Reden wir von informationeller Gewalt!
       
       Der Zuschauereffekt hat in den letzten fünfzig Jahren unzählige
       sozialpsychologische Untersuchungen motiviert: Was geht in den Köpfen der
       Menschen vor, wenn sie nichts tun? Wie kann das sein: Es passiert etwas
       Schreckliches. Und alle sehen nur zu?
       
       Es gibt die These von der Verantwortungsdiffusion, die gleich nach 1964
       aufkam. Sie sagt: Je mehr Leute am Tatort sind, desto geringer ist das
       Gefühl der Verantwortlichkeit bei jedem Einzelnen. Diese Annahme wird immer
       wieder bestätigt.
       
       In einem Versuch mimte ein New Yorker Collegestudent einen epileptischen
       Anfall. 85 Prozent der Probanden halfen, sofern sie allein waren, aber nur
       31 Prozent, wenn fünf weitere Menschen dabeistanden. Waren noch mehr da,
       sank das Engagement auf ein noch niedrigeres Niveau. Ist die Aufregung über
       den NSA-Skandal so gering, weil mehr als die Hälfte der Menschheit
       potenziell davon betroffen ist? Weil jeder Einzelne nur ein Milliardstel
       der Verantwortung trägt?
       
       Handelt es sich denn überhaupt um Gewalt, wenn eine Behörde
       Telefongespräche und Internetverbindungen absaugt? Es ist oft Unsicherheit
       über eine Tat, die Menschen passiv werden lässt. Schläft der Mann, der da
       auf der Straße liegt, nur seinen Rausch aus, oder wurde er
       zusammengeschlagen? Je mehr Leute dabeistehen, desto seltener schätzt man
       die Situation als Notfall ein – sonst hätte ja schon jemand eingegriffen.
       Man nennt das pluralistische Ignoranz.
       
       Schlimmer noch ist es, wenn nicht die Wahrnehmung uns trügt, sondern auch
       die Einordnung eines Vorfalls: Wurde eine Frau vergewaltigt, oder hat sie
       die Tat nicht auch provoziert? Zu Zeiten, als Kitty Genovese starb, wurde
       eine solche Frage in Gerichtssälen noch oft gestellt. Heute sind die
       moralischen Maßstäbe, was sexuelle oder häusliche Gewalt angeht, etwas
       klarer. Und von informationeller Selbstbestimmung hat auch schon jeder
       gehört. Wenn dagegen von informationeller Gewalt die Rede ist, dann heißt
       das immer noch „Datenschutzverstoß“. Als ob man die NSA oder die
       Prism-Jäger mit ein paar Strafzetteln stoppen könnte.
       
       ## Die Diffusion der Moral
       
       Warum scheinen uns Situationen oft so diffus, dass wir uns wünschen, es sei
       nichts passiert? Auch dafür haben die Wissenschaftler einen
       Erklärungsversuch: die Urban-Overload-Theorie. Denn in Städten kann man die
       versammelte Hilflosigkeit noch besser beobachten, in allen Gesellschaften.
       
       Das Leben in der Masse, Reizüberflutung und Anonymität führen dazu, dass
       die Menschen sich nach innen wenden und weniger auf ihre Umgebung
       reagieren. Eine Schutzhandlung also. Gibt es auch einen Digital Overload?
       Erklärt das, warum sich der Bürger unbeteiligt gibt, wenn aus der
       Virtualität heraus seine Realität angegriffen wird?
       
       1964 musste eine Frau auf den Straßen von New York sterben. Welche
       Auswirkungen die globale digitale Überwachung hat, ist heute noch gar nicht
       absehbar. Aber die Fragen sind bitter.
       
       „Stellt euch vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Ein unbekannter Autor
       hat auf Kriegsdemos schon vor Jahrzehnten dazugedichtet: „Dann kommt der
       Krieg zu euch.“
       
       26 Jul 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jörn Kabisch
       
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