# taz.de -- Literatur zum Völkerstrafrecht: Die Schwere der Verbrechen
       
       > Die internationale Strafjustiz entwickelt sich rasant. Ein Essay und ein
       > Werk zu den Nürnberger Militärtribunalen erweitern den Diskurs.
       
 (IMG) Bild: Angeklagter des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien: Radovan Karadžić.
       
       Das Völkerstrafrecht hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten enorm
       entwickelt. Davon zeugt nicht nur die steigende Zahl von Gerichtsverfahren
       vor nationalen und internationalen Gerichten wie dem Internationalen
       Strafgerichtshof in Den Haag, sondern auch die neuen Gesetze und Statuten,
       die unter anderem im Falle von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
       Menschlichkeit die Strafbarkeit und die Strafverfolgung von Individuen
       heute regeln.
       
       Dementsprechend ist auch die Zahl der (Fach-)Veröffentlichungen zum Thema
       kaum mehr übersehbar. Neben juristischen Detailfragen stehen dabei
       Rechtsanwendung und Legitimität der Verfahren im Mittelpunkt: Wer
       entscheidet, wann wo gegen wen ermittelt oder gar Anklage erhoben wird? In
       welchem Verhältnis stehen Recht und Politik bei diesen Entscheidungen?
       
       Die beiden Bücher, die es hier zu besprechen gilt, nähern sich diesen
       Fragen auf sehr unterschiedliche Weise. In seinem Essay „Kein Frieden ohne
       Gerechtigkeit?“ skizziert der irische Völkerstrafrechtler William A.
       Schabas auf knapp 100 Seiten die aktuelle Situation der internationalen
       Strafjustiz und insbesondere die politischen Dimensionen, „vor der Juristen
       oft zurückscheuen und die sie lieber anderen Disziplinen überlassen
       würden“.
       
       Schon mit der im ersten Kapitel aufgeworfenen Frage „Justiz der Sieger –
       wer soll auf die Anklagebank?“ setzt er sich mit einem der häufigsten
       Vorwürfe seit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess auseinander, dass
       nämlich stets die Sieger über die Verlierer urteilten.
       
       ## Das Stigma der Siegerjustiz
       
       Bezüglich der Prozesse gegen die deutschen und japanischen Politiker und
       Militärs in Nürnberg und Tokio nach 1945 stellt er die ketzerische Frage,
       wie denn eine ausgewogene Justiz am Ende des Zweiten Weltkriegs hätte
       anders aussehen können. Und ob das „Stigma der Siegerjustiz beseitigt“
       wäre, „wenn nicht nur gegen 24 NS-Größen Anklage erhoben worden wäre,
       sondern auch gegen 24 hochrangige Vertreter der amerikanischen Führung, 24
       Briten und 24 Sowjets“. Und „wenn nicht 24, gegen wie viele dann?“
       
       Er verteidigt die damals vorherrschende Meinung, dass Kriegsverbrechen der
       Alliierten nicht mit denen des NS-Regimes zu vergleichen waren. Er
       reklamiert aber, dass diese Art von Entscheidung bis heute mindestens
       ebenso stark auf der Grundlage komplexer politischer Kalküle basiere wie
       auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit – und deswegen auch so kommuniziert
       werden sollte.
       
       Die Sondertribunale der Vereinten Nationen für Jugoslawien und Ruanda
       schilt er allerdings der Parteinahme, so sie Rechtsverstöße beispielsweise
       der Nato oder der Streitkräfte der Tutsi ausblendeten.
       
       So kommt auch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag in seiner
       Betrachtung nicht besonders gut weg. Insbesondere wirft er dem 2012
       abgetretenen Chefankläger Morena Ocampo vor, sich juristischer Konzepte wie
       der Schwere der Verbrechen bedient zu haben, um die wahren Gründe der
       Entscheidung für oder gegen die Einleitung von Ermittlungen in bestimmten
       Situationen zu verschleiern.
       
       ## Individuelle Dringlichkeiten
       
       Als kleines Gedankenexperiment schlägt Schabas vor, alle in einem Raum
       anwesenden Personen zu bitten, auf einem Blatt Papier die Situationen
       aufzuschreiben, die der Aufarbeitung durch die internationale Justiz am
       dringendsten bedürften. Er stellt die These auf, dass dabei die Staaten,
       Regionen und Verbrechen genannt werden dürften, die den eigenen Interessen
       und Erfahrungen besonders am Herzen liegen. Warum also sollte die
       individuelle Entscheidung des Chefanklägers des Strafgerichtshofs mehr
       Legitimität besitzen als die Entscheidung der Teilnehmer dieser
       Zufallsumfrage?
       
       Schabas meint, dass es letztlich keine Lösung auf rein juristischer
       Grundlage gebe und es daher die Aufgabe der Strafverfolger wäre,
       größtmögliche Legitimität zu gewährleisten, ohne zugleich dem Mythos
       Vorschub zu leisten, ihr Tun entbehre jeglicher politischen Dimension.
       
       Ein rationalerer Umgang mit den vielleicht drängendsten Problemen der
       internationalen Strafgerichtsbarkeit, deren Ressourcenknappheit und
       Selektivität bei der Auswahl der Verfahren, würde der gesamten Debatte gut
       anstehen. Denn gerade auch in Deutschland meint man oft, man müsse sich
       nicht nur an der Institution des internationalen Strafgerichtshofes
       beteiligen, sondern im Paket gleich die Praxis des Chefanklägers, die
       Fallauswahl befürworten.
       
       Allein solch kritische Ausführungen machen den kleinen Band von Schabas
       lesenswert – ohne dass aber seine knappen Anmerkungen zu den anderen
       abgehandelten Themen – Frieden und Gerechtigkeit – wirklich überzeugen
       könnten.
       
       Was junge Historikerinnen und Historiker zu dieser Diskussion beitragen
       können, belegt der von Kim Priemel und Alexa Stiller herausgegebene knapp
       tausendseitige Sammelband zu den Nürnberger Militärtribunalen, „NMT. Die
       Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und
       Rechtschöpfung“. Priemel und Stiller wollen den Blick von dem bekanntesten
       und zweifelsfrei wichtigen Hauptkriegsverbrecherprozess nach 1945 auch auf
       jene zwölf oder dreizehn Verfahren richten, die zwischen 1946 und 1949
       nicht mehr vor alliierten, sondern nur vor US-amerikanischen
       Militärtribunalen verhandelt wurden.
       
       ## Institutioneller Ansatz
       
       Der in vielerlei Hinsicht spannende Band geht ebenso wie die Schrift von
       Schabas auf die Defizite der Verfahren ein: die nicht durchweg überzeugende
       Auswahl der Angeklagten, das realpolitisch motivierte Zugeständnis der
       Alliierten, eigene Kriegsverbrechen zu übergehen, und die inkohärenten
       Strafmaße.
       
       Bei ihrem Versuch, „ein vollständiges, empirisch gesichertes Bild der
       einzelnen Verfahren wie der gesamten Serie“ zu zeichnen, machen sie
       deutlich, was heutige Völkerstrafrechtler von den Nürnberger Verfahren
       lernen könnten. Angefangen von der intellektuellen Fundierung durch –
       insbesondere exilierte! – Wissenschaftler wie Franz Neumann arbeiteten die
       Verfahren die vier Säulen, auf denen nationalsozialistische Herrschaft
       ruhte, heraus: Partei, Ministerialbürokratie, Wehrmacht und
       Privatwirtschaft.
       
       Auch die Planung eines zweiten, rein ökonomischen Vier-Mächte-Tribunals
       zeugt von dieser theoretischen Grundlage, auch wenn es aus politischen
       Gründen zu diesem Verfahren nicht kam.
       
       Mit dieser Konzeption, den institutionellen Ansatz zu untersuchen, war man
       in der Lage, über die Schuldfeststellung bei einzelnen Personen die
       Strukturen des NS-Staates auszuleuchten. Einen der Haupteinwände gegen das
       Völkerstrafrecht, systemisches Unrecht zu individualisieren, konnten die
       Prozessplaner in Nürnberg entkräften. Es gelang ihnen, die komplexe
       Relation von bürokratischen Entscheidungsprozessen und individueller
       Verantwortung realitätsgetreu und – wichtiger noch – juristisch
       aussagekräftig abzubilden.
       
       ## Historisch wichtige Nachfolgeverfahren
       
       Die Politik der USA nach Ende des Zweiten Weltkriegs und zu Beginn des
       Kalten Kriegs machte den juristischen Pionieren auf US-amerikanischer Seite
       jedoch einen Strich durch die Rechnung. Dennoch trugen nicht zuletzt die in
       detailreichen Aufsätzen geschilderten und kommentierten Nachfolgeverfahren
       nicht nur zur historischen Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich
       entscheidend bei. Sie werden bis heute zu jeder juristischen Diskussion
       darüber herangezogen, wer auf die Anklagebank eines internationalen
       Strafgerichts gehört und wer eher nicht.
       
       Die völkerstrafrechtliche Praxis nach Nürnberg war dann eher so dürftig,
       dass selbst den Anklägern von heute oft der Zugriff auf die Angeklagten und
       das notwendige Beweismaterial aktuell fehlt. Deswegen sind insbesondere die
       Wirtschaftsverfahren gegen die Manager des Flick-Konzerns, von IG-Farben,
       Krupp und Röchling bis heute wichtige Präzedenzfälle, die die juristische
       Debatte weltweit bereichern.
       
       Hervorzuheben sind auch der Juristenprozess und der Nürnberger
       Ärzteprozess, die der Selbstinszenierung der Eliten in
       Nachkriegsdeutschland entgegentraten, man habe unideologisch und
       unpolitisch, lediglich als neutrale Experten gehandelt.
       
       Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and
       Human Rights (ECCHR), hat 2012 bei Wagenbach „Mit zweierlei Maß. Der Westen
       und das Völkerstrafrecht“ veröffentlicht.
       
       13 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolfgang Kaleck
       
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