# taz.de -- Prozess gegen Altnazi: Mordanklage nach 69 Jahren
       
       > Vor dem Landgericht Hagen muss sich seit Montag Siert B. verantworten.
       > Die Anklage lautet Mord. Die Tat liegt 69 Jahre zurück.
       
 (IMG) Bild: Erst als Greis vor Gericht: Siert B.
       
       BERLIN taz | Die Fahrt mit dem Gefangenen begann spät am Abend des 22.
       September 1944. Vom SS-Posten Delfzijl bei Groningen in der
       niederländischen Provinz ging es in Richtung Appingedam. Im Wagen saßen
       August Neuhäuser vom NS-Sicherheitsdienst (SD), sein 23-Jähriger
       Untergebener Siert B. und ihr Gefangener, der 36 Jahre alte Aldert Klaas
       Dijkema.
       
       Der Bauer aus Bierum war als Widerstandskämpfer am Vortag auf seinem Hof
       festgenommen worden. Dort soll er untergetauchte Juden, Widerstandskämpfer
       und junge Männer versteckt haben, die sich der Zwangsarbeit in Deutschland
       entzogen. Seine Reise ging in den Tod
       
       Der Wagen der deutschen Besatzer stoppte in der Nähe einer Fabrik. Der
       Gefangene Dijkema wurde zum Aussteigen aufgefordert. „Geh eben mal pissen“,
       lautete die Aufforderung seiner Bewacher. Dann fielen vier Schüsse. Alder
       Klaas Dijkema starb, getroffen von zwei Kugeln in den Kopf. Die
       mutmaßlichen Täter aber gaben danach an, der Mann sei auf der Flucht
       getötet worden.
       
       69 Jahre nach der Tat hat an diesem Montag vor dem Landgericht Hagen der
       Prozess gegen Siert B. begonnen Die Anklage lautet auf Mord. Der
       mutmaßliche Täter ist 92 Jahre alt und gilt als körperlich rüstig. Drei
       Stunden pro Tag kann gegen ihn verhandelt werden. Der erste Prozesstag
       endete schon nch 30 Minuten.
       
       ## Der Fall ist ein Lehrbeispiel
       
       Nun ist es nicht so, als habe die Justiz erst kürzlich Kenntnis von dem
       Fall erhalten. Auch kann man dem Ankläger Andreas Brendel von der
       Staatsanwaltschaft Dortmund schlecht vorwerfen, nicht ordentlich ermittelt
       zu haben. Der Fall Siert B. ist dennoch ein Lehrbeispiel für das Jahrzehnte
       währende Versagen der bundesdeutschen Ermittlungsbehörden – und für den
       Staat, der NS-Verbrecher mehr schützte, als dass er sie verfolgte.
       
       Denn unbekannt blieb der Mord von Appingedam keineswegs. Schon 1949 wurde
       Siert B. wegen der Tat in den Niederlanden von einem Sondergericht zum Tod
       verurteilt, das Urteil wurde später auf „lebenslänglich“ gelindert. B. war
       bei dem Prozess nicht anwesend. Er hatte sich rechtzeitig nach Deutschland
       abgesetzt und begann im westfälischen Breckenfeld ein bürgerliches Leben
       aufzubauen – als Produzent von Jägerzäunen, Mitglied des Schützenvereins,
       eines Kegelklubs und unter dem falschen Namen Siegfried Bruns.
       
       Das alles war legal, denn Adolf Hitler hatte allen niederländischen
       SS-Freiwilligen per Führererlass vom 19. Mai 1943 großzügig die deutschen
       Staatsbürgerschaft verliehen - und die bundesdeutschen Behörden sahen nach
       1945 keinen Grund, diese Entscheidung zu revidieren.
       
       ## Mangel an Heimtücke
       
       Erst 1978 führten Recherchen ehemaliger holländischer Widerstandskämpfer
       und des Wiener Nazijägers Simon Wiesenthal auf die Spur von Siert B. Weil
       dieser aber zum deutschen Staatsbürger geworden war, lehnten die Behörden
       die Vollstreckung eines Auslieferungsantrag der Niederlande ab. Immerhin
       ermittelte nun die Staatsanwaltschaft Dortmund in dem Fall. Sie aber kam zu
       dem Schluss, dass der Tat von Siert B. die Mordmerkmale fehlten.
       Insbesondere mangele es an einer "Heimtücke" der Täter. Deshalb sei die Tat
       nur als Totschlag zu bewerten - der aber war längst verjährt.
       
       Diese Entscheidung war kein Einzelfall, sondern zählte zum juristischen
       Standard der Bundesrepublik, der hunderten Nazitätern die Freiheit
       schenkte. Allerdings wurde B. 1980 vom Landgericht Hagen in einem anderen
       Fall zu sieben Jahren Haft verurteilt. Der SS-Mann hatte im April 1945, nur
       Tage vor Kriegsende, die jüdischen Brüdern Mejer und Lazarus Sleutelberg
       erschossen und sie vorher gezwungen, ihr eigenes Grab auszuheben.
       
       Mitte der 1980er Jahre wurde Siert B. wieder ins heimatliche Breckenfeld
       entlassen. Alles sprach dafür, dass sein weiterer Lebensabend sich ohne
       juristische Spätfolgen für sein Tun entwickeln würde. Aber es kam anders.
       
       Im März 2010 wurde in Aachen der ehemalige SS-Mann Heinrich Boere in einem
       ähnlichen Fall wegen Mord zu lebenslanger Haft verurteilt. Der SS-Mann
       hatte 1944 in den Niederlanden drei Zivilisten als Vergeltung für Aktionen
       des Widerstands getötet. Das Gericht kam zu der Auffassung, dass diese
       Tötungen sehr wohl als Mord und nicht als Totschlag zu bewerten seien.
       
       „Es war Mord“, ist sich denn auch Staatsanwalt Brendel im Fall von Siert B.
       sicher. Brendel hat bald nach dem Aachener Urteil die eingestellten
       Ermittlungen wieder aufgenommen. Die Rechtsauffassung habe sich verändert,
       sagt er.
       
       Und so muss sich der greise B. seit Montag für das verantworten, was 69
       Jahre zuvor geschehen ist. Seiner eigenen Version zufolge ist er vollkommen
       unschuldig. Dem TV-Magazin „Panorama“ gab B. 2012 über den Tathergang
       Folgendes zu Protokoll: „Unterwegs blieb das Auto stehen und Neuhäuser
       sagte: ,Hier müssen wir hin.' Dann sind wir ausgestiegen und die Straße
       entlanggelaufen. Und dann hörte ich auf einmal einen Schuss und habe mich
       erschrocken. Und der Mann fiel um.“
       
       Sämtliche Zeugen sind inzwischen verstorben. Siert B. wil in dem auf elf
       Verhandlungstage terminierten Prozess nur Angaben zu seiner Person machen.
       
       2 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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