# taz.de -- Debatte Pädophilie-Forschung: Kaum Empirie zu Missbrauchs-Folgen
       
       > Was geschieht Kindern, die sexuelle Gewalt erfahren? Die Forschung zur
       > Pädophilie tat sich lange schwer. Ihre Ergebnisse waren durchaus
       > widersprüchlich.
       
 (IMG) Bild: Verkehrsschild.
       
       Es klingt so läppisch, dabei ist es so wahr, das Argument „es war eben eine
       andere Zeit“. Die 1970er und 1980er Jahre, in denen Pädosexualität sich das
       Mäntelchen einer sozialen Befreiungsbewegung zulegte, muten manchmal an wie
       eine versunkene Epoche. Das gilt nicht nur für die Kulturproduktion, in der
       sexualisierte Kinderkörper als Abbilder gesellschaftlichen Aufbruchs
       durchaus dazugehörten. Es gilt auch für den Stand wissenschaftlicher
       Erkenntnis – etwa darüber, wie schädlich Kindesmissbrauch überhaupt ist.
       
       In der aktuellen Empörung darüber, dass Pädophile ihre sexuellen Interessen
       über Grünen-Parteiprogramme umzusetzen versuchten, wird der
       gesellschaftliche Kontext vielfach verleugnet. Doch flottierten damals
       Mutmaßungen darüber, welche Art Sexualität eigentlich wen befreite und wen
       knechtete, frei herum. So viele Überzeugungen wurden über den Haufen
       geworfen. Dabei ging auch viel Respekt vor akademischem Wissen vorläufig
       verloren.
       
       Auch dort, wo der aufklärerische Rang der Wissenschaft unangefochten war,
       gab es nicht im Ansatz einen Konsens darüber, welche Folgen sexuelle
       Übergriffe bei Kindern und Jugendlichen haben. Die Frankfurter
       Sexualtherapeutin Sophinette Becker schilderte 1997 die Diskussion im
       Sonderausschuss des Bundestags zur Reform des Sexualstrafrechts: „Die
       Mehrheit der befragten Experten (Sexualwissenschaftler, Psychiater,
       Kinderpsychiater, Psychoanalytiker u. a.) verneinte (soweit empirisch
       feststellbar) psychische Dauerschäden als isolierte, linear-kausale Folge
       nicht gewaltsamer sexueller Handlungen.“
       
       Wichtig ist hier das „soweit empirisch feststellbar“. Denn in der Tat
       warnten angesehene Sexualwissenschaftler früh vor der Verharmlosung der
       Pädophilie. Das manipulative, angeblich „gewaltfreie“ Vorgehen Erwachsener,
       das Verstummen der Kinder war längst geschildert worden. Deshalb erklärt
       heute etwa der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch: „Spätestens seit dem
       18. Jahrhundert, das heißt, seit es unsere Sexualkultur im engeren Sinne
       gibt, ist allen klar, dass sexueller Kindesmissbrauch das Kind verletzt,
       beschädigt, ja traumatisiert.“
       
       ## Später Beginn der Forschung
       
       Das galt sicherlich für damals vorliegende Untersuchungen von auffälligen
       Schicksalen. Doch trugen die beteiligten Wissenschaftszweige erst seit
       Mitte der 1980er Jahre Erhebungen zusammen, um empirisch fundierte Aussagen
       über Ausmaß und Risiken unterschiedlicher Übergriffe gegen Kinder und
       Jugendliche treffen zu können.
       
       Wer sich ein wenig durch die medizinischen Datenbanken wühlt, sieht:
       Solches methodisches Geschehen begann überhaupt erst ab etwa 1985, fast
       ausschließlich im englischsprachigen Raum. Die Zahl der Beiträge speziell
       in psychologischen Fachjournalen stieg sprunghaft an und erreichte Anfang
       der 1990er Jahre einen Höhepunkt.
       
       Nun liegt seit jeher ein breiter Graben zwischen der wissenschaftlichen und
       der „breiten“ Öffentlichkeit. Doch begann mit dieser Art Forschung erst die
       Ära, in der durchsickernde Forschungsergebnisse à la „x Prozent der Mädchen
       erfahren sexuellen Missbrauch“ zur Sensibilisierung der Gesellschaften
       beitrugen.
       
       ## Endlich Kinder im Mittelpunkt
       
       Erst in den 1990er Jahren erschienen endlich mehrere Studien, in denen
       nicht nur Erwachsene nach ihren Erinnerungen befragt wurden, sondern Kinder
       über längere Zeit beobachtet wurden: was ihnen geschah, ob und wann sie
       sich erholten. So konnte der Zusammenhang etwa zwischen psychischen
       Problemen und Missbrauch viel genauer beschrieben werden.
       
       1993 berichteten Kathleen Kendall-Tackett, Linda Meyer Williams und David
       Finkelhor: „Die Auswirkung sexuellen Missbrauchs ist ernsthaft und kann
       sich in einer großen Variation symptomatischen und krankhaften Verhaltens
       äußern.“ Am stärksten verbreitet seien (über-)sexualisiertes Verhalten und
       Posttraumatische Belastungsstörungen. Ein Drittel der Kinder zeige gar
       keine Symptome.
       
       Ende der 1990er Jahre erschien die erste Metaanalyse, die 59 Studien
       auswertete. Bruce Rind, Philip Tromovitch und Robert Bauserman schrieben
       1998: „Was die Ergebnisse nahelegen ist, dass das negative Potenzial des
       sexuellen Kindesmissbrauchs für die meisten Individuen, die ihn erlebt
       haben, überschätzt wurde.“ Mädchen seien stärker betroffen als Jungen, auch
       hänge der Grad der Schädigung davon ab, inwiefern Gewalt angewandt wurde.
       Diese Studie verursachte solche Aufregung, dass sogar der US-Congress sich
       distanzierte, auch wenn die Fachgesellschaft sie für methodisch in Ordnung
       erklärte.
       
       Wie weit und tief die Schäden aber gehen können, zeigte 2009 eine noch
       junge Studie im relativ jungen Zweig der Epigenetik. Demnach kann sich
       sexueller Missbrauch sogar in die Gene einbrennen und die Fähigkeit zur
       Stressbewältigung für immer beschränken.
       
       ## Gekaperte Erkenntnisse
       
       Über all die Jahre sammelte sich an den Hochschulen, auch in den Praxen der
       TherapeutInnen das Wissen darüber an, dass Kindesmissbrauch katastrophale,
       aber auch stark unterschiedliche Auswirkungen haben kann, dass
       Vernachlässigung und Gewalt diese auf jeden Fall verschärfen. Doch wie im
       Fall der Bruce-Rind-Studie kaperten Pädosexuelle jedes Fitzelchen
       Erkenntnis, dass es ihnen zu erlauben schien, sich Kindern zu nähern. Dies
       plus entsprechende Abwehrreaktion einer empfindlich gewordenen
       Öffentlichkeit machte die Diskussion unmöglich, die viele TherapeutInnen
       sich wünschen: Darüber, welches erschwerende und welches erleichternde
       Faktoren sind, wie also Hilfe in jedem einzelnen, immer besonderen Fall
       funktionieren könnte.
       
       Anfang der 1980er Jahre aber gab es keinen auch nur halbwegs gesicherten
       empirischen Erkenntnisschatz. Es gab Moralvorstellungen, die einer halben
       Generation bestenfalls religiös, wahrscheinlich aber bloß unterdrückerisch
       motiviert schienen. Es gab scharfe Kritik an der Pädophilie-„Bewegung“ von
       seriösen Wissenschaftlern. Aber es ist nicht richtig, die damaligen
       Debatten über Pädophilie nach den Maßstäben zu beurteilen, die von der
       Forschung erst seit den 1990er Jahren zur Verfügung gestellt werden.
       
       21 Sep 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrike Winkelmann
       
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