# taz.de -- Umsiedlung wegen Airport-Neubau: Die kopierte Heimat
       
       > Diepensee musste 2004 dem neuen Berliner Flughafen weichen. Noch nicht
       > alle Bewohner sind angekommen. Und Fluglärm gibt es dort vielleicht
       > trotzdem.
       
 (IMG) Bild: Das neue Diepensee: Zehn-Jahres-Bäume, Zehn-Jahres-Häuser, Zehn-Jahres-Straßen
       
       DIEPENSEE taz | „Was bedeutet für Sie Heimat?“ fragt Max Frisch in seinem
       Buch „Fragebogen“. „Meene Frau“, würde Kurt Rahmlow vielleicht sagen. Denn
       seine geografische Heimat, sein Haus, sein Stall, seine Felder, der Teich,
       das Gemeindezentrum, sein ganzes Dorf existieren nicht mehr. Der Terminal
       des neuen BER-Flughafens steht heute dort, wo Rahmlow die ersten 75 Jahre
       seines Lebens verbracht hat.
       
       Er, Rahmlow, versinkt zehn Kilometer entfernt von seinem alten Zuhause in
       einem breiten weißen Fernsehsessel, schaut durch den Wintergarten seines
       großen Hauses auf seinen noch größeren Garten. Der kleine Mann wirkt noch
       kleiner in diesem Haus, noch älter in diesem nigelnagelneuen Dorf, in den
       weiten Flächen Brandenburgs. Hier, in Diepensee. Genauer: das neue
       Diepensee. Zehn-Jahres-Bäume, Zehn-Jahres-Häuser, Zehn-Jahres-Straßen.
       
       Rahmlow, 84 Jahre alt, hat dem Flughafen Platz gemacht. Berlin, Brandenburg
       und der Bund haben ihn dafür entschädigt und von Diepensee ins neue
       Diepensee umgesiedelt. Sein ganzes Dorf.
       
       1996, als der Entschluss zum BER-Flughafen-Standort Schönefeld fiel, wurde
       in Diepensee alles geschätzt: Grundstücke und Mietwohnungen, jeder
       Apfelbaum, der Johannisbeerstrauch, der Gartenteich. Alles nach einem
       festgelegten Satz. „Neues für Altes, das war die Devise.“ Helmut Mayer ist
       der Ortsvorsteher Diepensees, seit über dreißig Jahren arbeitet er für das
       Dorf. Früher, zu DDR-Zeiten, als Hauptbuchhalter des volkseigenen Guts
       (VEG) und jetzt, seit zwanzig Jahren, im Ortsbeirat.
       
       DDR, Kommunismus und die Arbeit auf dem Land, das ist eng mit Alt-Diepensee
       verbunden. Und es steht so sehr im Gegensatz zu Neu-Diepensee, dem
       Kapitalismus, den Kleingärten und dem Rentnerdasein.
       
       „Früher sind wir nach Berlin gefahren, ins Theater, wir haben
       Mondscheinfahrten gemacht und alles so was. Früher war das kulturelle Leben
       durch die Betriebe gesteuert und gelenkt. Alle haben teilgenommen“, sagt
       Anneliese Rahmlow und läuft vor ihrem Fernseher hin und her. Sie hat die
       Hosen an in der sechzigjährigen Rahmlow-Beziehung. „Hier ist man sich
       selbst überlassen. Rentnertreff ist alle zwei Monate.“
       
       ## Ein Stück deutsche Geschichte geht durch Diepensee
       
       VEG, das wurde Diepensee nach dem Krieg, als so viele Flüchtlinge kamen und
       den ehemaligen Gutshof erst zu einem 550-Seelen-Dorf gemacht haben. Ein
       paar Familien, darunter Rahmlows, erhielten Bodenreformland, um es zu
       bewirtschaften, und DDR-Ziegelsteine, um Häuser auf das Land zu bauen.
       
       Der Rest Diepensees arbeitete auf dem VEG und wohnte in Plattenbauten der
       ehemaligen Karl-Marx-Straße. „Nach der Wende ging die VEG den Bach runter“,
       sagt Ortsvorsteher Mayer. Und als 1991 bekannt wurde, dass der neue
       Hauptstadtflughafen genau auf Diepensee gebaut werden könnte, wollte
       niemand mehr investieren.
       
       Gutsenteignung, Flucht, Bodenreform, Wende, Treuhand und dann, 1996, die
       Standortentscheidung zum BER-Flughafen. Ein Stück deutsche Geschichte geht
       durch Diepensee.
       
       Rahmlows sind alt, aber fit. Wenn sie zum Arzt im Nachbarort gehen, dann,
       weil sie dort alle Diepenseer treffen. Das, was früher der Konsum
       Alt-Diepensees war, ist heute das Wartezimmer von Dr. Gottschall in
       Waltersdorf. „Für die Umsiedlung galt: Das Vorhandene wird ersetzt. Den
       Konsum gab’s zum Stichtag nicht mehr, eine Kirche hatten wir nie.“ Deswegen
       muss Neu-Diepensee auf Supermarkt und Gotteshaus verzichten.
       
       Wenn man durch die Straßen des Ortes läuft, vom Gemeindezentrum die
       Hauptstraße hinunter zur Freiwilligen Feuerwehr, sieht man links am Berg
       Häuser mit Türmchen, ab und zu einen Swimmingpool und große Gärten. Die
       Bürgersteige sind gepflegt, es wachsen Eichen, Linden und an jeder Ecke
       steht ein anderes Modell „Straßenlaterne“. So, wie die Diepenseer es
       wollten. Gemeinsam konnten sie den neuen Ort entwerfen, ihre Vorstellungen
       auf Einwohnerversammlungen äußern, eigene Straßennamen und ihre Nachbarn
       aussuchen.
       
       ## „Und ’ne marode Bude hatte auch jeder.“
       
       Günter Herwig, der Ortschronist Diepensees, hat das alles dokumentiert. Er
       ist stolz darauf, alle Zahlen zu kennen und bei den Leuten in die Häuser zu
       gehen, die die Nachbarn nicht betreten dürfen. „Aus Angst vor Neid“, glaubt
       Herwig. „Sie schotten sich, wenn’s um Reichtum und Finanzen geht, ab.
       Früher waren das alles Landarbeiter. Und jeder hatte das gleiche, wenige
       Geld. Und ’ne marode Bude hatte auch jeder.“
       
       Herwig hat Luftbilder gemacht, auf denen er zeigen kann, dass die
       Swimmingpools in Neu-Diepensee immer größer geworden sind. „In
       Alt-Diepensee, da hatten ’se auch Pools, die aufblasbaren aus der
       DDR-Produktion.“
       
       Und so klebt Neu-Diepensee wie eine bunte Fahrradklingel am alten Drahtesel
       Deutsch-Wusterhausen, zwischen Autobahn und Freilandfläche, sieben
       Kilometer südöstlich vom alten Zuhause. Der Standort: eine
       Mehrheitsentscheidung. Damals sahen die Diepenseer einen brachliegenden
       Kartoffelacker, wo heute sechs geteerte Straßen durch ein ganzes Dorf
       führen. Im Zentrum, an der Hauptstraße, liegt das Gemeindehaus, gezimmert
       aus den Backsteinen der alten Friedhofsmauer.
       
       „Damals war die Grundfläche Diepensees auf einem großen Tisch im
       Kindergarten ausgelegt, jeder durfte sich ein Fähnchen nehmen, seinen Namen
       darauf schreiben und dann das Fähnchen da hinstecken, wo er das Grundstück
       haben wollte“, erklärt der Ortsvorsteher. Nur der Platz der Mieterblöcke,
       neben dem Gemeindehaus im Zentrum des Ortes, der wurde vom Ortsbeirat schon
       vorher bestimmt. Die ehemaligen Karl-Marx-Straßen-Bewohner leben jetzt in
       Blöcken unter dunkelgrauen Dächern, mit isolierten Fenstern und Kleingärten
       im Hinterhof, die eigene Wasseranschlüsse haben.
       
       ## Keiner sollte benachteiligt werden
       
       „Viele hatten Angst um ihre Zukunft. Wir werden ’zwangsumgesiedelt‘, das
       war die Vorstellung der Leute.“ Der Ortsbeirat hatte sich an das Land
       Brandenburg gewandt, bekam einen Berater gestellt, Listen mit
       Architekturbüros, Gutachter und Anwälte. „Da lief alles nach Recht und
       Ordnung ab“, sagt Helmut Mayer. Alles sei transparent gewesen. Damit keiner
       sich benachteiligt fühlen würde.
       
       „Dit hat allet wunderbar jeklappt“, meint er. Nur das Menschliche, das
       fehlt ein bisschen. Die Atmosphäre von früher, die konnte eben nicht
       umgesiedelt werden. Er klingt bekümmert, auf einmal.
       
       „Heute kann man, wenn man übern Gartenzaun schaut, dem Nachbarn auf den
       Teller schauen“, sagt Eric Fischer. Er war erst 14 Jahre alt, als das Haus
       seiner Familie 2004 einbetoniert wurde. „Früher war ein großes Feld
       zwischen uns und dem Nachbarn, bis man mit dem quatschen konnte, musste man
       schon ein paar Meter laufen.“ Trotz der räumlichen Nähe sprechen viele vom
       fehlenden Zusammenhalt im neuen Diepensee: Rahmlows, Mayer, Günther Herwig
       und auch Eric Fischer. Aber sie können nicht so genau sagen, woran das
       liegt.
       
       Fischer ist mit 24 Jahren jüngster Feuerwehrleiter der Region
       Königs-Wusterhausen. Seit acht Jahren arbeitet er am Flughafen und fährt
       jeden Tag dort vorbei, wo früher sein Dorf stand. Den ganzen Rückbau konnte
       er miterleben. „Die Mieter waren die letzten, die weggezogen sind. Es war
       schon wie eine Geisterstadt. Da hat man hier und da noch mal ein Licht
       funzeln sehen, da war das Haus schon leer, dort das Haus schon halb
       abgerissen.
       
       Nur einer wollte nicht gehen. Der war 2007 noch da und hat natürlich mit
       dem Flughafen gepokert.“ Der Mann wohne jetzt in Zeuthen in einer Villa.
       
       ## Der zugezogene Ortschronist
       
       Eric Fischer wohnt nicht mehr im neuen Diepensee. „Ich sag mal, irgendwo in
       dieser ganzen Umsiedlung hat man meine Generation vergessen.“ Er hat kein
       lebenslanges Umsiedlungsstatut, weil er zum Stichtag noch nicht volljährig
       war. Deswegen müsste er die normalen Mieten zahlen, nicht die alten
       Mietpreise von 3 Euro pro Quadratmeter. Er möchte Pferde hinter dem Haus,
       er mag die Landwirtschaft. „Ich bin da ein junger Alt-Diepenseer.“
       
       Das Umsiedlungsstatut besitzt auch Günter Herwig, der 72-jährige
       Ortschronist, nicht. Seine Mission ist die Geschichte eines Dorfes, in dem
       er nie gelebt hat. Er ist Zugezogener, zugezogen nach Neu-Diepensee. Ihn
       stört es, dass sich junge Leute wie Fischer nicht für die Geschichte
       interessieren. Wenn er vom alten Diepensee spricht, leuchten seine Augen.
       
       Er sammelt Kindergartenfotos, auf denen er nie zu sehen ist, und hat am
       Flughafen beantragt, die letzten Steine der alten Dorfstraße abtragen zu
       dürfen. Herwigs Identifikation mit Diepensee ist so groß, dass er manchmal
       auch Sätze sagt wie: „Wir vermissen den alten Teich schon“. Wir.
       Alt-Diepenseer. Wir. Zugezogene.
       
       Vor ein paar Monaten wurden die BER-Flugrouten geändert. Die nun zu
       erwartende Hoffmannkurve lässt alle Flugzeuge knapp vor Diepensee abbiegen.
       Eigentlich hatten die Bewohner andere Flugrouten, einen anderen Lärmpegel
       im Vertragsanhang stehen. „Umgesiedelt, und dann den Lärm aus erster Hand.
       Aber mit dem Klagen, da muss man vorsichtig sein, und sich erst mal
       Rechtssicherheit holen“, sagt der Ortsvorsteher Mayer. Denn im
       Umsiedlungsvertrag steht, dass die Diepenseer nicht gegen den Flughafen
       klagen dürfen. „Außerdem bleibt die Frage, ob so kleine Kurven machbar sind
       und die Passagiere nicht das Flugzeug vollreiern.“ So ein Satz von ihm, da
       steckt Wut drin.
       
       Alt-Diepensee gegen Neu-Diepensee, Gemeinschaft gegen Vereinzelung, so
       einfach ist das nicht. Der Ortsvorsteher sagt, niemand dürfe sich
       beschweren, der hier wohnt. Nicht über die Häuser, die im Alter zu groß
       sind, und nicht über die Nachbarn, die sie sich selbst aussuchen durften.
       „Das ist unser Schicksal.“ Seins, das seiner Frau und seiner Enkel, die nie
       sehen werden, über welche Schwelle er seine Frau vor sechzig Jahren
       getragen hat.
       
       8 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hanne Bohmhammel
       
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