# taz.de -- Wohnungslosigkeit: Es kann jeden treffen
       
       > Die Zahl der Wohnungslosen steigt drastisch. Inzwischen trifft es vor
       > allem jüngere Menschen und Migranten aus Osteuropa. Die Zahl der
       > Schlafplätze hinkt der Entwicklung hinterher.
       
 (IMG) Bild: Vor allem im Winter ist das "Pik As" überfüllt: Auf 210 Plätze kommen teilweise mehr als 400 Männer.
       
       HAMBURG taz | Im vergangenen Jahr lebten 284.000 Menschen in Deutschland
       ohne Wohnung. Das sagt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe.
       Die Zahl ist besorgniserregend, denn seit 2010 stieg sie um 15 Prozent. Bis
       2016 rechnet man mit einem Zuwachs um weitere 30 Prozent auf 380.000
       Wohnungslose.
       
       In Hamburg leben nach offiziellen Angaben 1.029 Menschen auf der Straße.
       Doch die Zahl stammt aus dem Jahr 2009. Experten der Wohnungslosenhilfe
       gehen davon aus, dass die Zahl auch hier deutlich gestiegen ist. Bettina
       Reuter vom Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot sagt, dass es in Hamburg heute
       6.000 Menschen ohne Wohnung – eben auf der Straße oder in öffentlichen oder
       stationären Unterkünften – gibt.
       
       Obdachlos zu werden, geht oft ziemlich schnell und es kann fast jeden
       treffen. Der häufigste Auslöser ist eine Trennung. So steht es im letzten
       Statistikbericht der Wohnungslosenhilfe. Wenn man wenig Geld hat, schläft
       man vielleicht erst mal bei Freunden oder Verwandten. Irgendwann wird denen
       das zu viel. Man schläft in der S-Bahn, macht die Nächte durch – und findet
       sich schließlich auf der Straße wieder.
       
       Sozialsystem produziert Wohnungslosigkeit 
       
       Es sind oft Schicksalsschläge, die dazu führen, die eigene Wohnung nicht
       mehr halten zu können. Doch diese biografischen Ereignisse würden Menschen
       nicht in die Obdachlosigkeit treiben, wäre das Sozialsystem und
       Wohnungspolitik besser, sagt Stephan Nagel, Fachreferent für
       Wohnungslosenhilfe der Diakonie Hamburg. Der Armutsforscher Christoph
       Butterwegge geht noch einen Schritt weiter: das Sozialsystem produziere
       Wohnungslosigkeit, sagte er bei einer Tagung der Evangelischen
       Obdachlosenhilfe in Nürnberg.
       
       Die Auswirkungen politischer Maßnahmen zeigen sich auf der Straße schnell.
       Weil Hartz-IV-Empfänger, bis sie 25 Jahre alt sind, keinen Anspruch mehr
       auf eine eigene Wohnung haben, landen mehr Jugendliche auf der Straße. Der
       Staat hat verfügt, dass sie bei ihren Eltern bleiben sollen. Das lässt die
       Situation zu Hause aber nicht immer zu.
       
       In den letzten Jahren kamen durch das EU-weite Recht auf Freizügigkeit
       Migranten aus Osteuropa dazu. Vor allem aus Rumänien und Bulgarien fliehen
       sie vor krasser Armut. Um wie viele es sich handelt, ist unklar. Aber es
       genügt, um einen Streit darüber auszulösen, wer auf deutschen Straßen
       obdachlos sein darf und wer nicht.
       
       "Wiedereinreisesperre bei Missbrauch der Freizügigkeit" 
       
       Eine Debatte über die Überlastung der Sozialsysteme ist entbrannt. Gerade
       hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wieder gefordert, härter
       gegen die sogenannte Armutseinwanderung aus Europa vorzugehen und eine
       Wiedereinreisesperre bei Missbrauch der Freizügigkeit innerhalb der EU
       einzuführen.
       
       Friedrich sagte, die Freizügigkeit umfasse nicht das Recht, Leistungen zu
       erschleichen. Anfang des Jahres hatte die Hamburger Sozialbehörde seinen
       Kurs schon vorweggenommen: Sie schaltete den Zoll ein, um zu kontrollieren,
       ob Erwerbstätige die Obdachlosenunterkunft des städtischen
       Winternotprogramms missbrauchen. Vor dem Gebäude kontrollierte der Zoll
       Menschen, die augenscheinlich auf dem Weg zur Arbeit waren. Anschließend
       erklärte die Sozialbehörde, dass diejenigen, die arbeiten, nicht
       „tatsächlich bedürftig“ seien.
       
       Als der Winter vorbei war, gab die Hamburger Sozialbehörde bekannt, dass
       das letzte Winternotprogramm das größte war, das es in der Stadt je gegeben
       hat. 2.559 Menschen haben die Übernachtungsstätten in Anspruch genommen,
       pro Nacht waren es rund 1.000, obwohl es eigentlich nur 800 Schlafplätze
       gab. Im Jahr zuvor waren es nur 576 Plätze gewesen.
       
       Die Sozialbehörde hat Buch geführt, wer das Notprogramm nutzte. Während
       früher vor allem ältere Obdachlose kamen, sind es heute meist jüngere
       zwischen 26 und 49 Jahren. Fast die Hälfte kam aus Osteuropa.
       
       Das Diakonische Werk kritisierte die Zustände in den Unterkünften. Zwar sei
       es im vergangenen Winter immer noch gelungen, das Winternotprogramm ohne
       Zugangsbeschränkungen aufrechtzuerhalten, sagte Diakonie-Vorstand Gabi
       Brasch, „hoch problematisch war jedoch die Situation in den Unterkünften
       selbst: Alle Einrichtungen sind überbelegt. Bis zu zwölf Personen mussten
       sich zum Beispiel im ’Pik As‘ ein Zimmer teilen, viele Menschen schliefen
       auf dem Fußboden.“ Im bevorstehenden Winter müsse sich daran etwas ändern.
       
       Zu wenig Schlafplätze im Winter 
       
       Doch der Hamburger SPD-Senat ist zurückhaltend. Bislang verfolgt er lieber
       die Strategie, nicht genügend Schlafmöglichkeiten bereitzustellen. Jede
       Einrichtung, die eröffnet werde, sei schon am nächsten Tag voll, erklärte
       Sozialsenator Detlef Scheele (SPD). In Bremen gibt es dagegen kein
       Winternotprogramm, weil die vorhandenen Unterkünfte noch ausreichen.
       Obdachlose, die keine öffentliche Unterbringung wollen, können im Winter in
       den „Jakobustreff“ des Vereins für Innere Mission ausweichen.
       
       Und während am Hamburger Hauptbahnhof Betrunkene und Obdachlose von den
       überdachten Vorplätzen und aus den Tunneln verbannt werden, wurde in Bremen
       im Winter am Bahnhof niemand vertrieben. Die Bremer Straßenbahn (BSAG) ließ
       2012 sogar zum ersten Mal Wohnungslose im Winter umsonst Tram und Bus
       fahren.
       
       Wenn in knapp drei Wochen in Hamburg wieder das Winternotprogramm beginnt,
       steht zu befürchten, dass es wieder zu wenig Plätze gibt. Das Diakonische
       Werk appelliert darum an die Stadt, das städtische Wohnungsunternehmen SAGA
       stärker in die Pflicht zu nehmen: Die Hälfte der jährlich etwa 9.000 frei
       werdenden Wohnungen sollen an „vordringlich Wohnungssuchende“ vergeben
       werden, 2.000 davon an Wohnungslose.
       
       Das Hamburger Aktionsbündnis fordert, den Obdachlosen leer stehende Büros
       zur Verfügung zu stellen. Für den 31. Oktober hat es zu einer
       „Solidaritätsplatte“ vor dem Hauptbahnhof geladen.
       
       11 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lena Kaiser
       
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