# taz.de -- Diskriminierung von Patienten: Eine Herzenssache
       
       > Weil er kein Deutsch spricht, darf ein Flüchtling aus dem Irak nicht auf
       > die Warteliste für eine Herztransplantation. Seine Klage könnte zum
       > Präzedenzfall werden.
       
 (IMG) Bild: Organspender dringend gesucht: Werbeaktion des niedersächsischen Sozialministeriums.
       
       OLDENBURG taz | Cahit Tolan und Hassan Rashow-Hussein wollten nicht
       Medizinrechtsgeschichte schreiben in Deutschland. Der Rechtsanwalt aus
       Oldenburg und sein Mandant aus Peine, beide einst als Flüchtlinge
       hergekommen, Tolan, 37, aus der Türkei, Rashow-Hussein, 62, aus dem Irak,
       wollten bloß, dass Hassan Rashow-Hussein noch ein bisschen leben darf.
       Dafür braucht er ein Spenderherz. Sein eigenes ist zu schwach, um das Blut
       in ausreichender Menge durch den Körper zu pumpen, es muss ausgetauscht
       werden, seine Leistung beträgt 24 Prozent.
       
       „Die ganze Familie stand eines Tages hier in meiner Kanzlei, ich kannte sie
       überhaupt nicht, aber sie heulten rum, der Papa wird bald sterben, und ich
       müsse ihm helfen, die Klinik hätte gesagt, dass er kein Herz kriegt, weil
       er kein Deutsch kann.“ Anfang Mai 2010 war das. Dreieinhalb Jahre später
       sitzt Cahit Tolan hinter einem mächtigen Holztisch in seiner Kanzlei, ein
       Mann mit grauweißem Haar und Schauspielerqualitäten, er gestikuliert, er
       imitiert das Stimmengewirr von damals und seine Versuche, herauszufinden,
       worum es geht.
       
       Hier in Oldenburg hat sie begonnen, diese märchenhafte Geschichte von zwei
       Männern, die beide – unabhängig voneinander – als religiös verfolgte
       kurdische Flüchtlinge nach Deutschland kamen, der eine 1985 als
       achtjähriger Sohn eines Schafhirten und einer Analphabetin, der andere 2000
       als herzkranker Stoffhändler und Vater von neun Kindern.
       
       Diese beiden Männer haben nach einem Streit durch alle Instanzen das
       Bundesverfassungsgericht davon überzeugt, dass Hassan Rashow-Hussein
       Unrecht geschehen ist im solidarischen deutschen Gesundheitssystem. In
       einer lebensbedrohlichen Situation wurde ihm der Zugang zu einer
       medizinischen Versorgung versagt: einer Herztransplantation. Sie nähmen ihn
       nicht auf die Warteliste für ein Spenderorgan auf, entschieden Ärzte des
       Herzzentrums Nordrhein-Westfalen in Bad Oeynhausen Ende April 2009.
       Begründung: Der Patient spreche kein Deutsch.
       
       ## Das Grundgesetz gewinnt
       
       Ein Verstoß gegen das Grundgesetz, Artikel 3, Absatz 1, urteilte das
       Bundesverfassungsgericht Ende Februar 2013: Alle Menschen sind vor dem
       Gesetz gleich. Und es ordnete an, dass der Staat Hassan Rashow-Hussein
       Prozesskostenhilfe gewähren muss – damit er das Ausmaß des ihm
       widerfahrenen Unrechts vor Gericht klären kann.
       
       Ein neues Herz hat Hassan Rashow-Hussein deswegen immer noch nicht, die
       Nachfrage ist größer als das Angebot. Aber über seine Forderung nach
       Schmerzensgeld wird ab dem 20. Dezember vor dem Landgericht Bielefeld
       verhandelt: Hassan Rashow-Hussein gegen das Herzzentrum NRW. Es ist eine
       der renommiertesten Transplantationskliniken Deutschlands.
       
       Es geht um 10.000 Euro, mehr verlangt Hassan Rashow-Hussein nicht als
       Kompensation dafür, dass ihm eine Lebenschance versagt wurde. 10.000 Euro,
       für eine Transplantationsklinik ist das ein Klacks, aber wenn die Klinik
       jetzt klein beigibt, dann könnte aus Rashow-Hussein womöglich ein
       Präzedenzfall werden. Und so sagt der Klinikdirektor Jan Gummert: „In
       laufenden Verfahren darf ich keine Stellung nehmen.“
       
       Generell gelte: Eine Transplantation nütze Patienten nur dann, wenn sie
       sich hinterher strikt an die straffe und komplexe Nachbehandlung hielten –
       unter Einsatz extrem potenter Medikamente, lebenslänglich einzunehmen.
       Andernfalls stoße der Körper das Organ ab. „Wenn die behandelnden Ärzte
       sicher sind, dass ein Patient dieser Herausforderung aufgrund seiner
       Gesamtlebenssituation nicht gewachsen sein wird, dann dürfen sie ihn nicht
       transplantieren“, sagt Gummert. „Es geht nicht darum, dem Patienten etwas
       vorzuenthalten. Es geht darum, ihn durch die Transplantation nicht in
       Lebensgefahr zu bringen.“
       
       ## Disziplin ist unumgänglich
       
       In Oldenburg sitzt Hassan Rashow-Hussein schräg gegenüber seinem Anwalt, er
       streicht seine frisch gefärbten schwarzen Haare zurecht. Der
       Herausforderung nicht gewachsen? Er legt vier Medikamentenschachteln auf
       den Tisch, immer wieder schaut er auf die Armbanduhr, jede Pille hat ihre
       Einnahmezeit, er kriegt das hin, auch ohne Deutsch, Cahit Tolan übersetzt:
       „Es wäre schön, wenn ich den Ausgang dieses Prozesses noch erlebe.“
       
       Entlassungsbericht des Patienten Hassan Rashow-Hussein, Herzzentrum NRW,
       29. April 2010: „Unter Zusammenschau der erhobenen Befunde ergibt sich auf
       Grund der gravierenden Verständigungsprobleme und der nicht sicheren
       Compliance [Mitwirkung des Patienten bei der Nachbehandlung: d. Red.] keine
       Indikation zur Herztransplantation.“ Vier Wochen hat Rashow-Hussein zuvor
       in der Klinik verbracht. Statt der Transplantation empfehlen die Ärzte die
       „Weiterführung der konservativen Therapie“, also mit Tabletten. Dass die
       Einnahme von Medikamenten ebenfalls Disziplin und Verlässlichkeit, kurz:
       Compliance erfordert, ist für die Ärzte kein Widerspruch.
       
       Die Familie ist verzweifelt. In Oldenburg, hört sie von Bekannten, gibt es
       diesen Anwalt. Der spreche nicht bloß Kurdisch, er gehöre auch ihrer
       Religionsgemeinschaft an, den Jesiden, zwei Millionen Mitglieder weltweit.
       
       Tolan verteidigt vor allem in Asyl- und Ausländerrechtsverfahren und in
       Fragen des Sozial- oder Strafrechts. Und nun ein Streit zwischen den
       Koryphäen der deutschen Herzchirurgie und einem mittellosen Flüchtling und
       Patienten? „Ganz ehrlich“, sagt Cahit Tolan, „ich wollte diesen Fall
       nicht.“
       
       Dennoch fühlt er sich verpflichtet. Die gemeinsame Religion, das gemeinsame
       Schicksal. Tolan will helfen, zumindest bei der medizinischen Versorgung.
       Er ruft in der nächstgelegenen Klinik an, die Herzen transplantiert, es ist
       die Uniklinik Münster, 114 Kilometer entfernt von Bad Oeynhausen. Mangelnde
       Deutschkenntnisse? Für die Münsteraner Ärzte kein Ablehnungsgrund.
       Rashow-Hussein steht fortan auf der Warteliste der Uniklinik Münster.
       
       ## Patient vierter Klasse
       
       Damit hätte Tolan seine Aufgabe erfüllt, wäre da nicht sein
       Gerechtigkeitsempfinden: Wie kann es sein, dass innerhalb Deutschlands so
       unterschiedlich entschieden wird? Die Aufnahme in die Warteliste ist keine
       Bagatelle, sie ist eine Entscheidung über Leben und Tod. Was steckt
       dahinter, wenn bei demselben Patienten die einen Ärzte den Daumen senken
       und die anderen ihn heben? Unwissenheit? Zufall? Willkür? Diskriminierung?
       Gesetzeslücken?
       
       Tolan liest das Transplantationsgesetz. Darin steht, dass die
       Bundesärztekammer in Richtlinien den „Stand der Erkenntnisse der
       medizinischen Wissenschaft“ feststellt für „die Regeln zur Aufnahme in die
       Warteliste“. Die Bundesärztekammer? Ein Verein, in keiner Weise
       demokratisch legitimiert, entscheidet über Teilhaberechte? Wäre es im
       Rechtsstaat nicht Aufgabe des Parlaments, solche normativen Entscheidungen
       zu treffen?
       
       Tolan treiben dieselben Fragen um, die kritische Juraprofessoren wie Thomas
       Gutmann aus Münster, Wolfram Höfling aus Köln oder Gerhard Dannecker aus
       Heidelberg seit Jahren in juristischen Fachaufsätzen aufwerfen. Tolan aber
       hat einen Patienten, dem all das praktisch widerfährt, wovor die Juristen
       theoretisch warnen, einen Patienten, der bereit ist, sich zu wehren. Hassan
       Rashow-Hussein sagt: „Wenn Sie behandelt werden wie ein Patient vierter
       Klasse und schon kein neues Herz bekommen, dann wollen Sie wenigstens Ihre
       Würde zurück.“
       
       ## Was darf die Kammer?
       
       Der Fall wird für Tolan, wie er sagt, „zur Herzenssache im Wortsinn“. In
       der Richtlinie der Bundesärztekammer liest er, dass unzureichende
       Mitwirkung des Patienten bei der Behandlung tatsächlich ein Grund für den
       Ausschluss von einer Transplantation sein kann. Nur: Ist die Kammer
       überhaupt befugt, so etwas festzulegen? Ihr gesetzlicher Auftrag ist, die
       Aufnahme auf die Liste medizinisch zu begründen. Seit wann aber ist
       Patientenverhalten ein medizinisches Kriterium?
       
       Tolan listet auf: Sein Mandant wurde diskriminiert aufgrund seiner Sprache.
       Sein allgemeines Persönlichkeitsrecht wurde verletzt. Die
       Organvergabepraxis der Bundesärztekammer verstößt gegen das
       Demokratieprinzip. Gute Gründe für einen Prozess. Aber dafür braucht sein
       Mandant Prozesskostenhilfe. Das Landgericht Bielefeld und das
       Oberlandesgericht Hamm lehnen ab: Die Klage habe zu geringe
       Erfolgsaussichten.
       
       In die Verfassungsbeschwerde investiert Cahit Tolan eine Woche Arbeit. Im
       Februar 2012 schickt er sie nach Karlsruhe.
       
       Als das höchste deutsche Gericht der Beschwerde ein Jahr später stattgibt,
       sind die Fragen von Organmangel und Verteilungsgerechtigkeit kein
       Nischenthema mehr. Im Sommer 2012 hat ein Transplantationsskandal das Land
       erschüttert. Das System der Organverteilung ist nun ein Politikum.
       
       Wie groß der Reformbedarf ist, machte vor ein paar Wochen der Deutsche
       Ethikrat in Berlin deutlich: Einen Vormittag hörte der Rat Experten –
       eigens zur Wartelistenführung sowie Organverteilung. Das Schlusswort der
       Ratsvorsitzenden Christiane Woopen klang wie ein Appell an das Parlament:
       „Wir haben es primär mit einer ethischen Entscheidung zu tun“, sagte
       Woopen, „die erst in zweiter Linie operationalisiert werden muss, das heißt
       in die Hände anderer Organe gegeben werden kann wie beispielsweise der
       Bundesärztekammer.“ Heißt so viel wie: Der Gesetzgeber muss ran.
       
       Ähnlich liest sich die Mahnung des Bundesverfassungsgerichts: Die
       Verteilungsgerechtigkeit, die Rolle der Bundesärztekammer sowie die
       Zulässigkeit der Richtlinien, heißt es in der Entscheidung zu
       Rashow-Hussein, „wurden in der Rechtsprechung bislang nicht geklärt“.
       
       Vor dem Landgericht Bielefeld werden diese Fragen möglicherweise nur eine
       Nebenrolle spielen, verhandelt wird über das Schmerzensgeld. Aber wer weiß?
       Cahit Tolan und Hassan Rashow-Hussein sagen: „Wenn es eine Möglichkeit
       gibt, grundsätzlich zu werden, nutzen wir sie.“
       
       16 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heike Haarhoff
       
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