# taz.de -- Gerichtsbefragung per Video: Teddys, Sofas und Kameras
       
       > Um Kinder zu schonen, können sie von Richtern seit 15 Jahren per Video
       > befragt werden. Doch nur wenige Gerichte nutzen diese Möglichkeit.
       
 (IMG) Bild: „Möchtest du mir erzählen, was dann passiert ist?“
       
       MÜNCHEN taz | Julia sitzt auf dem Sofa in Zimmer 126 des Amtsgerichts
       München und versteckt ihr Gesicht hinter ihren Händen. Seit Minuten hat sie
       nichts gesagt. Jetzt, ihr erster Satz, ganz leise: „Ich schäme mich so.“
       Richter Robert Grain sitzt ihr gegenüber, statt Robe trägt er Jeans und
       Pullover. Auf den Regalen an der Wand stehen Teddybären, dazwischen
       Kameras. Sie übertragen alles in den Nebenraum.
       
       Dort beleuchten Neonröhren einen Konferenztisch und kahle Wände. Der
       Angeklagte, Jonas K., Julias Betreuer aus dem Kindergarten, ist da. Daneben
       sein Verteidiger, eine Sachverständige und die Staatsanwältin. Auf einem
       Bildschirm verfolgen sie Julias Vernehmung. Wenn der Verteidiger oder die
       Staatsanwältin das Mädchen befragen wollen, werden ihre Fragen in ein
       Chatprogramm getippt. Richter Grain liest sie von einem Monitor ab.
       
       Er spricht in ruhiger, einfacher Sprache mit der Zwölfjährigen: „Wie heißt
       denn die Straße, in der du wohnst?“ Auch die juristischen Regeln
       vereinfacht er: „Ich bin Strafrichter. Ich will Leute bestrafen, die etwas
       Böses gemacht haben. Du bist Zeugin. Das heißt: Du musst die Wahrheit
       sagen. Wenn du etwas nicht weißt, dann sagst du das auch. Aber denk dir
       nichts aus!“
       
       Langsam nähert sich Grain dem, wofür sich Julia schämt: „Was hast du denn
       an dem Tag gemacht?“ Sie sei auf einem Ausflug mit ihrem Kindergarten
       gewesen, erzählt sie. Schwimmen, Planschen, Ballspiele. Erst mit ihren
       Freunden, dann alleine. Im Wasser, am Beckenrand stehend, habe sie den
       anderen Kindern zugeschaut. In diesem Moment sei ihr Betreuer Jonas zu ihr
       geschwommen. Julias Erzählung stockt. Sie knetet ihre Hände in ihrem Schoß.
       
       ## Ein Stoppzeichen für alle Fälle
       
       Grain fragt vorsichtig nach: „Bisher hast du das sehr gut gemacht. Möchtest
       du mir erzählen, was dann passiert ist?“ Julia schüttelt den Kopf. Die
       Kameras übertragen ihr Schweigen. Sie zeigen, wie sie in den Sofakissen
       versinkt.
       
       In Zimmer 126 vernimmt Richter Grain nicht nur missbrauchte Kinder. Seit
       1998 ist die Videobefragung auch bei Menschenhandel und Mord erlaubt. Doch
       in den meisten Bundesländern – außer in Baden-Württemberg – wird die
       Technik kaum genutzt. Richter können die spezielle Vernehmung anordnen,
       Opfer und Zeugen haben kein Anrecht darauf. In München wird das Verfahren
       immer dann angewandt, wenn Kinder Opfer von Misshandlung oder sexueller
       Gewalt werden: im Durchschnitt 200-mal pro Jahr.
       
       Eva Maria Nicolai arbeitet für „Wildwasser“, die Arbeitsgemeinschaft gegen
       sexuellen Missbrauch an Mädchen. Nicolai betreut Kinder, die in Berlin vor
       Gericht aussagen müssen. Eine Videovernehmung ist in der Hauptstadt nicht
       üblich. „Wir spielen durch, was vor Gericht passiert.“ Dafür lässt sie sich
       den Verhandlungssaal aufschließen und geht mit den Kindern den Ablauf
       durch: „Da sitzt der Richter, da sitzt der Angeklagte.“
       
       Sie üben ein Stoppzeichen, das die Kinder machen können, wenn sie
       überfordert sind. Nicolai sitzt während der Verhandlung im Blickfeld des
       Kindes. Als Unterstützung. Hinterher erhalten die Kinder von ihr eine
       Urkunde: „Gerichtsexperten“.
       
       ## „Zeugen fühlen sich oft wie Angeklagte“
       
       Die Arbeit von Wildwasser nennt sich „psychosoziale Prozessbegleitung“.
       Seit 2005 hat jedes Opfer laut Strafprozessordnung ein Anrecht darauf. Die
       Finanzierung ist schwierig, Vereinen wie Wildwasser fehlen häufig die
       Mittel. „Wenn die Strafprozessordnung das ermöglicht, muss die Finanzierung
       auch Teil der Gerichtskosten sein“, sagt Nicolai.
       
       Sie kritisiert die Mehrfachbefragungen vor Gericht: „Viele Kinder müssen
       zweimal vor der Kriminalpolizei aussagen, einmal für ein Gutachten, einmal
       vor Gericht. Und manchmal sogar noch in der nächsten Instanz.“ Bei der
       Videovernehmung wäre das nur einmal nötig, die Kinder müssten den Tätern
       nicht noch einmal begegnen.
       
       Julia soll jetzt erzählen, was genau ihr passiert ist. Sie will nicht, legt
       ihren Kopf in die Hände und sagt kaum verständlich: „Es ist mir peinlich.“
       Grain geht zu der Ablage mit der Kamera und den Teddybären. Julia wählt
       einen aus, er sitzt jetzt neben ihr auf dem Sofa. „Stell dir vor, der Teddy
       bist du. Und du bist Jonas. Zeig mir doch mal, wo er dich angefasst hat.“
       Sie windet sich einen Moment, zögert, dann deutet Julia auf den Schoß des
       Teddys.
       
       Wenn Grain später in seinem Amtszimmer am Schreibtisch sitzt, verändert
       sich seine Stimme. In ungeschönten Worten schildert er die Fälle, mit denen
       er sich Woche für Woche beschäftigten muss: ein Junge, der von seinem Onkel
       anal vergewaltigt wird und dafür keine Worte findet. Väter, die ihre Kinder
       auf der Straße vor dem Gericht abfangen, bevor sie aussagen. Ein Mädchen,
       das fragt, ob der Papa ins Gefängnis müsse, wenn sie jetzt rede. Grain
       knallt mit der Hand auf den Tisch: „Wahnsinn!“
       
       Seit 2000 ist er Richter am Amtsgericht München. 2005 wird Grain gefragt,
       ob er die Vernehmung im Kinderzimmer übernehmen wolle. Er habe erst einmal
       abgelehnt. „Natürlich“, sagt er, „ich habe doch selbst Kinder.“ Als er das
       erste Mal bei einer Videovernehmung zusieht, ändert er seine Meinung. Die
       Vernehmungsmethoden in der Hauptverhandlung sind Grain seitdem suspekt
       geworden. Auch weil es kaum Zeit gebe, sich mit Zeugen und Opfern zu
       beschäftigen. „Zeugen fühlen sich vor Gericht häufig selbst als Angeklagte.
       Nirgends sonst habe ich als Richter die Möglichkeit, so nah in Kontakt mit
       den Opfern zu kommen.“
       
       An Julia muss Grain jetzt ganz nah ran: „Wie nennst du das, wo dich der
       Mann angefasst hat?“ Julia schweigt. „Hat er dich noch an einer anderen
       Stelle angefasst?“ Sie schüttelt den Kopf. „Hat es dir wehgetan?“ Sie
       schweigt.
       
       „Natürlich pocht in mir auch das Herz eines Strafrichters“, sagt Grain.
       „Ich will die Wahrheit herausfinden, und wenn es einen Täter gibt, will ich
       den rankriegen.“ Aber bei der Vernehmung müsse er auch das Wohl des Kindes
       im Blick haben: „Wenn ich merke, dass ein Mädchen sehr unter meinen Fragen
       leidet, muss ich auch abbrechen können.“
       
       ## Manchmal werden Verhandlungen überflüssig
       
       Grain schaut jetzt zu dem Bildschirm, der neben ihm auf einem Couchtisch
       steht. Dort leuchten einige Zeilen auf. Es sind die Fragen des Verteidigers
       von Julias Betreuer: „Hat der Jonas dich vielleicht nur an den Schultern
       durchs Wasser gezogen? Habt ihr zusammen im Wasser gespielt?“
       
       Grain ist vom Erfolg der Videovernehmung überzeugt. „Es ist nicht immer
       sinnvoll, dass es nur eine große Verhandlung gibt.“ Manchmal wird die
       Hauptverhandlung durch die Videovernehmung sogar überflüssig. Dann, wenn
       die Täter im Nebenraum zusammenbrechen und gestehen.
       
       Vor Gericht würden Kinder häufig wie Beweisstücke behandelt, sagt Veit
       Schiemann von der Opferschutzorganisation Weißer Ring: „Aber sie sind kein
       blutiges Messer, das hinterher zurück in die Asservatenkammer geschickt
       wird.“ Vor Gericht spiele häufig keine Rolle, wie sehr die Opfer unter der
       Befragung leiden. Es gehe nur um ein Ziel: die Bestrafung des Täters.
       
       Schiemann schildert den Fall der elfjährigen Claudia. Sie war auf dem Weg
       vom Spielplatz nach Hause und wurde von einem Serientäter in einer
       Toreinfahrt überrascht. Er drückte Claudia in eine Hausnische und
       vergewaltigte sie. Beim Verfahren ist Claudia als Zeugin geladen. Fünf
       Jahre sind seit der Tat bereits vergangen. Mittlerweile hat das Mädchen
       eine Psychotherapie hinter sich, sie ist stabil.
       
       Vor Gericht muss sie im Hauptverfahren aussagen. Dort wird sie mit dem
       Täter konfrontiert. Noch im Gerichtsgebäude bricht Claudia zusammen. In
       einem Gutachten heißt es: „Das Mädchen erlitt dabei ein so schweres Trauma,
       dass sie dauerhaft psychologisch betreut werden muss.“ Ihre Symptome:
       Migräne, Ess- und Schlafstörungen, Albträume, Depression.
       
       ## „Viele Richter sträuben sich“
       
       Wegen Mädchen wie Claudia reist Richter Grain durch Deutschland und hält
       Vorträge vor seinen Kollegen. Er will, dass die Videotechnik bundesweit
       genutzt wird, auch wenn sie einen großen Mehraufwand für die Richter
       bedeute und es keine Fortbildungen gebe, in denen sie die besondere Form
       der Befragung lernen könnten. „Viele Richter sträuben sich, vor laufender
       Kamera zu arbeiten“, sagt Grain. Häufig fehle auch das Geld für die
       Technik, in München kostete sie 35.000 Euro.
       
       Grain geht die Forderung nach besserer Ausstattung und Fortbildungen aber
       nicht weit genug. Regelmäßig schreibt er ans Justizministerium und bittet
       um eine Ausweitung des Gesetzes zur Videobefragung. Künftig sollten auch
       vergewaltigte Erwachsene gesondert vernommen werden dürfen. Um die
       Situation von Kindern weiter zu verbessern, fordert er einen kostenlosen
       Anwalt als Beistand für jedes Kind, das vor Gericht aussagen muss. Auch
       heute gibt es bereits die Möglichkeit, von einem Anwalt unterstützt zu
       werden, doch die Initiative dafür muss noch von den Kindern ausgehen.
       Eltern könnten ihre Kinder vor Gericht nicht unterstützen: „Die sind doch
       meist selbst total überfordert“.
       
       Julia hat es geschafft, Richter Grain hat keine weiteren Fragen an sie.
       Wenn ihr Betreuer in der Hauptverhandlung vor Gericht angeklagt wird, muss
       sie die quälenden Fragen nicht noch einmal beantworten. Sie habe das sehr
       gut gemacht, sagt Grain. Dann wird er ein letztes Mal förmlich: „Die Zeugin
       wird entlassen“. Grain bringt Julia zu ihrer Mutter, die im Vorzimmer
       wartet.
       
       4 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kersten Augustin
       
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