# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 6: Hundert Seiten Liebesbriefe
       
       > Manchmal grabe ich in den alten Dokumenten meiner Großmutter. Sie riechen
       > nach Dachboden, das Papier ist brüchig.
       
 (IMG) Bild: Mütterchen 1943 in der Rolle der Minna von Barnhelm
       
       Gestern habe ich mein Zimmer aufgeräumt. Das passiert nicht häufig, deshalb
       verkünde ich es jedes Mal im Internet. „Ich räume gerade auf“, hab ich
       getwittert, „Applaus bitte!“ Ja, Rampensau. Bin ich. Na und?
       
       Vier Gutscheine hab ich gefunden. Zweimal Kino, einmal Therme, einmal
       Klamotten. Da sag noch einer, Ordnung sei nichts wert.
       
       Unter einem Stapel Papier lag auch ein zehn Jahre alter Liebesbrief:
       „Grüßen möchte ich dich von ganzem Herzen, brennen tut das Feuer der Lust
       wie Omas Kerzen.“ Handschriftlich. Mit Zeichnungen. Wunderschön. Keine
       Ahnung, wie der da hingekommen ist.
       
       Meine Großmutter hat immer gesagt, es gibt zwei Sorten Menschen: die
       ordentlich Unordentlichen und die mit der unordentlichen Ordnung.
       
       „Die eenen legen immer allet auf Kante“, hat sie gesagt, „die finden
       nachher nischt mehr wieder. Bei den andern isset zwar nich wie jeleckt,
       aber gut organisiert.“
       
       Als Mütterchen schon über neunzig war, haben wir ihr eine neue Putzfrau
       organisiert. Die alte hat einfach nicht mehr sauber gemacht, sondern nur
       noch mit Mütterchen Kaffee getrunken und Schnittmuster getauscht. „Kann’se
       ja machen“, hat Tante Erna gesagt, „aber dafür müssen wir sie nich
       bezahlen.“ Meine Großmutter hat protestiert. Saß in ihrem Sessel und schlug
       die Hände überm Kopf zusammen: „Nun lasst mir doch die einzige Freiheit,
       die ich habe!“, hat sie gerufen. Melodrama. Alte Schule. Die neue Putzfrau
       hat zwar endlich mal die ganzen Stecknadeln vom Teppichboden weggesaugt,
       aber sie hat auch Mütterchens Sachen weggeräumt. Auf Kante. Unauffindbar.
       
       Es ist eine Systemfrage. Oder der theoretische Überbau für die eigene
       Schlampigkeit. Mir kommt das sehr gelegen.
       
       Im Zuge meiner Aufräumarbeiten hab ich auch die beiden Koffer wieder
       vorgeholt, die bei meinem Freund im Zimmer unterm Bett lagern. Zwei
       Reisekoffer voll mit Fotoalben, vergilbten Briefen, Reisetagebüchern,
       Theater-Programmheften, Filmdrehbüchern, Zeugnissen. Mütterchens Nachlass.
       
       Manchmal grabe ich in den alten Dokumenten. Sie riechen nach Dachboden. Das
       Papier ist brüchig. Nach Themen in Plastiktüten geordnet. Eine Tüte „Zelten
       in Bakenberg“. Eine Tüte „Faust II am DT“.
       
       Letzten Winter saß ich drei Monate am Rechner und habe die Liebesbriefe
       abgetippt, die mein Großvater meiner Großmutter zwischen Anfang Dezember
       1944 und Ende März 45 geschickt hat. Er war damals unter der Bezeichnung
       „privilegierter Mischling ersten Grades“ in einem Arbeitslager der
       Organisation Todt in Jena interniert. „Der hat in Jena Schott und Zeiss
       unter die Erde gebuddelt“, sagte Mütterchen immer. Ich habe das nie richtig
       verstanden. Irgendwas müssen sie am Stollen gearbeitet haben. Zum Kotzen
       schwere körperliche Arbeit. Der Mann war Philosophiestudent damals, 24
       Jahre alt, Brillenträger, ein halbes Hemd. Der hat vorher und nachher nie
       wieder ein Werkzeug in die Hand genommen, das nicht zum Schreiben,
       Zigarettenanzünden oder Flaschenöffnen gedacht war.
       
       Am Montag, dem 8. Januar 1945, schreibt er:
       
       „Mein liebes Mädchen.
       
       Dieser Vormittag dürfte an Scheußlichkeit alle Rekorde schlagen. Peter,
       Egon und ich waren noch vom Sonntag unausgeschlafen, hatten (wegen
       Erkältung von der blöden Nacht zum Sonntag vielleicht) wehtuende Bäuche –
       gleich alle drei – und dann, gegen 8 haute eine volle Lore kurz vorm
       Übergang in die horizontale Schlussruhe plötzlich wieder nach unten ab, ein
       Nürnberger unten sprang ungeschickt beiseite, und ihm wurde der ganze
       Kiefer zerschlagen. Zuerst wollte man Peter die Schuld geben, aber
       Christofzik wies nach, dass es ein Maschinendefekt war – wir blieben sogar
       weiter an der Winde. Aber da in den nächsten Tagen alle Leute unter 40
       Jahren, die nicht Brillenträger sind (das rettet mich, in weiser Ahnung
       hatte ich’s ja auch im Dienstbuch der OT vermerken lassen), in den Stollen
       kommen, wird der Verein [der Philosophenfreundeskreis, den mein Großvater
       im Lager begründet und geleitet hat] sicher bald gesprengt (Brillenträger
       kommen wegen Beschlagen der Gläser nicht herunter.) Das Wochenende wird
       aber hoffentlich noch mit der langen Freizeit zustande kommen. Jedenfalls
       brauche ich dich ziemlich heftig. Beim Anblick des gleich heraufgebrachten
       Schwerverletzten ist mir nach ziemlich kurzer Zeit schlecht geworden – war
       wohl auch Schuld des verdorbenen Magens.“
       
       Ich habe meinen Großvater nie persönlich kennengelernt. Er starb, als ich
       noch ein Baby war. Jetzt suche ich ihn zwischen diesen engen Zeilen aus
       winzig kleinen Buchstaben. Schwarze Tinte auf vergilbtem Papier.
       „Ameisenkacke“ hat Mütterchen die Schrift ihres Mannes genannt.
       
       Wie verliebt sie ineinander waren! Wie er sich an sie geklammert hat, seine
       „Juschka“. So hat er sie genannt. Und sie ihn „Sandy“. Meine Großmutter war
       für ihn die personifizierte Hoffnung, das fleischgewordene Leben außerhalb
       des Lagers. Die fleischgewordene Lebenslust auch. Das Briefeschreiben hat
       ihn durchhalten lassen, da bin ich sicher. In nur vier Monaten ist ein
       Textkorpus entstanden, der abgetippt fast einhundert Normseiten entspricht.
       Hundert Seiten nur Liebesbriefe an Mütterchen.
       
       Ich hab die Koffer wieder unters Bett geräumt. Wenn sie zu lange bei mir im
       Zimmer stehen, rücken sie mir auf den Leib. Dann kann ich nicht mehr
       schreiben. Muss ständig lüften.
       
       Jetzt sind sie geschlossen. Bis nächste Woche.
       
       Auf Twitter hat jemand auf meinen Tweet geantwortet: „Klatsch, klatsch,
       klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch, klatsch,
       klatsch, klatsch, klatsch, klatsch!“
       
       Verbeugung. Kusshand. Ab.
       
       9 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lea Streisand
       
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