# taz.de -- Auf dem Eurosonic-Festival in Groningen: Musikalischer Ausnahmezustand
       
       > Und jetzt alle so: Was ist der heißeste Scheiß? Ja, Panik, Jungle, MØ
       > oder Elliphant? Auf das Eurosonic-Festival muss man aus deutscher Sicht
       > neidisch sein.
       
 (IMG) Bild: War auch in Groningen: Der Pianist Benjamin Clementine gilt als männliche Nina Simone.
       
       Eigentlich kreisen zu nächtlicher Zeit wohl nur vereinzelt Möwen über dem
       Groninger Marktplatz, um die dort liegen gebliebenen Fritten aufzupicken.
       Jetzt aber ist ordentlich Betrieb. Menschenhorden ziehen durch die Straßen
       und Gassen dieser kleinen Stadt im Norden der Niederlande. Von überall hört
       man Gitarren, Beats, Bässe. Bewegt man sich irgendwo im Zentrum, kommt aus
       jedem dritten Gebäude, aus jedem zweiten Café, aus jedem Club: Musik.
       
       „Die Stadt ist eine andere in diesen paar Tagen“, sagt die Betreiberin der
       Pension in Groningen, in der ich unterkomme. „Es bringt eine Menge coole,
       offene Leute in die Stadt. Und es ist ein besonderer Vibe, wenn du während
       dieser Zeit mit dem Fahrrad durchs Zentrum fährst.“ Es hört sich an, als
       wollte sie sagen: Es ist nicht eines dieser x-beliebigen Festivals, zu dem
       die Leute nur zum Konsumieren kommen.
       
       Das Festival, von dem sie spricht, nennt sich Eurosonic/Noorderslag (das
       Eurosonic ist dreitägig und international, das Noorderslag eintägig und es
       treten nur niederländische Interpreten auf). Es findet bereits zum 28. Mal
       statt und ist eines der größten Clubfestivals Europas. Etwa 40.000 Besucher
       kommen, um Bands, DJs und Musiker aus ganz Europa zu sehen oder um die
       parallel stattfindende Musikkonferenz zu besuchen. Auf dem „Grote Markt“
       gibt es gar eine Open-Air-Bühne. Im Januar.
       
       Und wenn es einem dort zu kalt wird, dann zieht man umher, von einem
       stickigen, gedrängten Club zum nächsten, vom noblen städtischen Theater zu
       den provisorischen, von Matsch umgebenen Zelten, zwischen denen es
       Feuerstellen gibt. Man quert Grachten, auf denen Hausboote im Nieselregen
       liegen, man sieht viele Bauten, die noch aus der Zeit der Hanse stammen,
       man streift an beschaulichen niederländischen Klinkerbauten entlang.
       
       Die Locations, insgesamt mehr als 25, liegen alle nah beieinander. Einige
       sind überlaufen, die Besucher warten in langen Schlangen geduldig im
       strömenden Regen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.
       Derweil raunt man sich zu, wer wohl der angesagte Act in diesem Jahr ist.
       Der, den man auf keinen Fall verpassen darf. In der Verlosung sind Namen
       wie: Ja, Panik. Jungle. MØ. Elliphant.
       
       ## Treat your woman right
       
       Die ersten Höhepunkte sind andere. Die großartigste Dreiviertelstunde des
       Donnerstagabends teilen sich die belgische Rapperin Coely und der Londoner
       Pianist Benjamin Clementine. Die 20-jährige Coely mit dem Lockenkopf und
       dem karierten Hemd fegt mit wilder Gestik über die Bühne des Grand Teatre
       und verfügt vor allem über eine fantastische Stimme. Sie beginnt mit
       Zitaten aus „A woman’s worth“ von Alicia Keys, die sie solo vorträgt. Welch
       großer A-Capella-Soul! „Wanna please, wanna keep, wanna treat your woman
       right?“
       
       Coely, die schon mit Kendrick Lamar oder Nas getourt ist, legt im Anschluss
       ein powervolles HipHop-Set hin, um zwischendrin die Soulstimme wieder
       auszupacken. Dabei singt die kleine Flämin mit den kongolesischen Wurzeln
       von „rough, tough girls“, von den Frauen in ihrer Szene, oder sie erzählt
       die Migrationsgeschichte ihrer Familie beiläufig in Versen.
       
       Im Stimmvergleich kaum zurücktreten muss Benjamin Clementine. In puncto
       Haarpracht im Übrigen auch nicht – seine feinen, schwarzen Locken bilden
       einen imposanten Schopf. Clementine, gebürtiger Ghanaer, sitzt mit langem
       schwarzen Mantel am Piano und singt mit belegter, warmer Stimme traurige
       Lieder. Kein Wunder, dass man ihn mal als männliche Nina Simone bezeichnet
       hat – er wäre aber eine melancholischere Simone. Der 25-Jährige verbindet
       mal jazziges, mal souliges Klavierspiel mit dieser – Stimme!
       
       Clementine redet leise ins Mikrofon und macht Witzchen, als das Publikum
       sich in Zugabe-Rufen ergeht. „Es war toll mit euch. Ich weiß nicht, ob ich
       noch einen spielen kann. Ich denke nicht.“ Um es dann doch zu tun. Die
       Stadsschouwburg bietet ihm die richtige Bühne mit dem großen Saal, dem
       Opernfeeling vergangener Jahrhunderte, mit den rondellartigen Rängen im
       Rücken der großen Bühne.
       
       ## An den Wänden Mudhoney-Plakate
       
       Rockiger und auch ein bisschen traurig geht es am Donnerstagabend im Vera
       zu. Mit dem Vera-Club hat Groningen eine echte Indie-Institution, an den
       Wänden hängen abgewetzte Dinosaur-Jr.-, Wipers- oder Mudhoney-Plakate aus
       den 80ern. Hier ist der Boden siffig und verklebt, die Luft im Raum
       alkoholgeschwängert, es stellt sich schnell das richtige
       Rock-’n’-Roll-Gefühl ein. Die extrem gehypten Österreicher Ja, Panik kommen
       hier überraschenderweise nicht so gut an. Liegt es daran, dass Sänger
       Andreas Spechtl nicht so viel mit dem Publikum kommuniziert? Liegt es
       daran, dass vieles bei den Wahlberlinern aus Wien über die deutschen Texte
       funktioniert? Wohl beides.
       
       Ja, Panik spielen dennoch ein solides Set – wenn Tocotronic sich mal
       auflösen sollten, muss man sich keine Sorgen machen: „Wo wir sind, ist
       immer Libertatia / Worldwide befreit, von jeder Nation“, singt Spechtl im
       Titeltrack des in diesen Tagen erscheinenden Albums. Der österreichische
       Schwerpunkt, den sich das Eurosonic-Festival in diesem Jahr gesetzt hat,
       scheint indes in der puren Masse an Bands ein wenig unterzugehen.
       
       Während man am Abend durch Groningen schwirrt, kämpft man sich am Tage
       durchs Konferenzprogramm. Am interessantesten dabei die Debatte um die
       Streamingdienste, also die Frage, ob Programme wie Spotify, Deezer und
       Simfy die Musikmärkte bald neu ordnen. Die Entwicklung in Ländern wie
       Schweden, Norwegen und den USA, in denen sich die Umsätze der
       Streamingportale zuletzt jährlich verdoppelten bis vervierfachten, könnte
       ein Indikator sein, dass dem Streaming die Zukunft gehört.
       
       In Schweden, wo Spotify den Unternehmenssitz hat, machen Streams mehr als
       80 Prozent des digitalen Markts aus. Als Allerletztes profitieren davon:
       die Künstler. Durchschnittlich etwa 0,004 Cent kriegen sie pro Track von
       Spotify. Heißt: 1 Million Klicks, 4.000 Dollar (3.000 Euro).
       
       ## Staunendes Publikum
       
       Auf dem Podium im Konferenzgebäude De Oosterpoort sitzen am Donnerstag
       Pierre Niboyet, Kurator von Deezer Frankreich und Jonathan Davies von
       britischen Start-up Shazam, das eine App für Musikerkennung auf den Markt
       gebracht hat. Während Davies davon berichtet, wie man als Nächstes den
       TV-Markt für Mobilgeräte aufmischen wolle, wie man mit Firmenkooperationen
       Geld macht und was das Tablet oder Phablet in der Zukunft kann, spricht
       Niboyet immerhin auch von denen, die den „Content“ liefern: den Künstlern
       und Produzenten. Er erzählt von DIY-Interpreten, die exklusiv bei Deezer
       veröffentlichen und so bekannt wurden, er erzählt von einer Partnerschaft
       mit den Pixies oder von den Deezer Studio Sessions, die wohl den legendären
       John Peel Sessions nachempfunden sind.
       
       Angesichts der Ausführungen Niboyets hat man vielleicht doch Hoffnung, dass
       ein für alle Akteure tragbares, zukunftsfähiges Modell gefunden wird. Bei
       Deezer Frankreich waren es 2012 immerhin etwa 0,03 Cent, die die Künstler
       pro Klick verdienen.
       
       Marktdiskurse schön und gut, gegen Ende des Eurosonic aber bewegt doch alle
       eher die Frage: Was war denn nun der heißeste Scheiß? Schwer zu sagen,
       zumal man sowieso nur einen Bruchteil aller Bands sieht. Elliphant? Die
       schwedische HipHop-/Dancehall-Interpretin spielt ein tolles Set, ist ein
       Powerbündel mit Herrschaftsgebiet Bühne. Claire? Die Band aus München
       navigiert traumwandlerisch sicher durch das Feld Indie, Dancefloor und
       HipHop. Insgesamt aber zu sauber und zu glatt. Die australische
       Wahlberlinerin Kat Frankie, die irgendwo zwischen Singer-Songwriter, Gospel
       und frühem Rock ’n’ Roll anzusiedeln ist, hätte den Durchbruch allemal
       verdient. Sie sorgt für ein mucksmäuschenstilles, staunendes Publikum im
       News Café.
       
       Ballett School? Na ja. Mighty Oaks? Okay fürs Lagerfeuer. Eine positive
       Überraschung sind die belgischen Düster-Doom-Wave-Rocker von The Black
       Heart Rebellion. Und die hoch gehandelten Briten Jungle, die Dänin MØ?
       Sollen gut gewesen sein. Insgesamt waren auf dem Eurosonic viel soulige
       Klänge zu vernehmen. Die Wiederentdeckung der Stimme scheint im Digital Age
       mehr und mehr Thema zu sein.
       
       Auf die Popfestivalkultur, wie sie sich etwa in Groningen zeigt, kann man
       aus deutscher Sicht etwas neidisch blicken. Denn es ist nur eines unter
       vielen lohnenden Indoor-Festivals (neben dem Crossing Borders in Den Haag
       oder dem Take-Root-Festival, ebenfalls in Groningen). Möglich ist dies
       durch mehr staatliche Subventionen als in Deutschland – unter anderem von
       der Popmusik-Stiftung, heute Muziek Centrum Nederland, die bereits seit den
       70ern existiert. Die Groninger jedenfalls, so viel ist klar, lieben den
       Ausnahmezustand in ihrer Stadt, der pünktlich jedes Jahr Mitte Januar
       einsetzt.
       
       20 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
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