# taz.de -- Kommentar Politik in Europa: Korruption, das geheime Leitprinzip
       
       > Tugendhafte Politik scheint heute aus der Zeit gefallen. Moralisch wirken
       > nur noch Terroristen, und Betrug gilt als nur allzu menschlich.
       
 (IMG) Bild: Scheiss auf Tugend und Moral! Wir wollen auf die Bahamas!
       
       BERLIN taz | Die europäischen Politiker geben derzeit ein ziemlich
       erbärmliches Bild ab. Viele ehemalige und aktuelle Staatsoberhäupter,
       Minister oder Abgeordnete sind auf die eine oder andere Weise in Skandale
       verwickelt, die im weitesten Sinne mit Korruption zu tun haben. Dabei geht
       es um Geld, aber auch um die Sicherung und Verteilung von wichtigen
       Positionen in Parteien und dem Apparat des Staats.
       
       Interessant ist nun, wie Spitzenpolitiker reagieren, wenn sie erwischt
       werden. Dann wird nämlich wahlweise geleugnet oder man ist sich schlicht
       keiner Schuld bewusst. Silvio Berlusconi etwa hat sich jahrelang
       erfolgreich als Opfer von Verschwörungen inszeniert.
       
       In Deutschland haben der Verteidigungsminister und die Bildungsministerin
       ihre Doktorarbeiten gefälscht, hielten das aber für lässliche Sünden, die
       keinerlei Auswirkung auf ihre Kompetenzen und Tätigkeiten haben müssten.
       Und der im letzten Dezember entlassene Chef des Kanzleramts, Ronald
       Pofalla, zeigte sich jüngst überrascht, dass die Öffentlichkeit seinen
       nahtlosen Wechsel zum staatseigenen Privatunternehmen nicht gutheißt.
       
       Nun soll es hier nicht um das pauschale „Bashing“ von Politikern gehen –
       ich habe in den letzten Jahren etwa auf kommunaler Ebene eine ganze Reihe
       von Menschen getroffen, die mit großer Ernsthaftigkeit und unter
       schwierigen Bedingungen das Beste für ihr Gemeinwesen wollten.
       
       ## Sympathie für Uli Hoeneß
       
       Aber je höher sie kommen, desto weniger erwecken Politiker noch einen
       vertrauenswürdigen Eindruck. Das hat enorme Auswirkungen auf die Moral der
       Bevölkerung, etwa in Steuerangelegenheiten.
       
       Kürzlich drückte mein längst pensionierter Vater mir seine Sympathie für
       den Steuerhinterzieher Uli Hoeneß aus. Er habe das Gefühl, dass der Staat
       ihn nur noch ausplündere. Und während „sein“ Geld in sinnfreie Großprojekte
       fließe, würden vor der Haustür nicht mal mehr die Schlaglöcher beseitigt.
       
       Diese Argumentation korrespondiert mit den Beliebtheitswerten von Hoeneß in
       der Bevölkerung: Der Mann habe ja nur sein Geld in Sicherheit gebracht.
       
       Untersuchungen zur Steuermoral zeigen, dass die sich keineswegs dann
       verbessert, wenn großmäulige Politiker die Kavallerie losschicken wollen,
       um „Steueroasen“ trockenzulegen und „Steuersünder“ zu fassen, sondern wenn
       die Bürger den Eindruck haben, ihre Beiträge würden dem gemeinsamen Wohl
       zugute kommen.
       
       ## Antiutopismus statt Tugend
       
       Dieser Eindruck verstärkt sich deutlich, wenn die Bevölkerung über Mittel
       der Einflussnahme verfügt („Bürgerhaushalte“ etc.), also wenn kooperative
       Verfahren der Verteilung existieren.
       
       Dabei stellt sich aber auch die Frage nach der Vorbildfunktion der
       Politiker. Müssen Politiker „tugendhaft“ sein, um das Gemeinwohl als
       Bezugspunkt verankern zu können? Tugend klingt in der Politik wie ein
       Begriff aus einer anderen Zeit. Im Jahr 1989 ist die Tugend verdrängt
       worden vom Antiutopismus, als völlig diskreditiert gilt sie seit dem
       Anschlag vom 11. September 2001.
       
       Tugendhaft wirken seitdem nur die Fanatiker dieser Welt, die mithilfe des
       Terrors den anderen ihre Lebensweise aufzwingen wollen. Diese Fanatiker
       scheinen sich dabei alle zu ähneln – kürzlich hat der Schriftsteller
       Frederick Forsyth in einem Interview bekräftigt, die Palette reiche von
       Faschisten, Kommunisten, Islamisten bis hin zu den westlichen Vertretern
       der „Political Correctness“.
       
       In diesem Sinne handelt auch Thilo Sarrazins neues Buch vom „neuen
       Tugendterror“. Die Demokratie dagegen, heißt es da, habe eben notwendig
       ihre Fehler. Das ist zweifellos richtig. Doch in der „alternativlosen“
       Realität der kapitalistisch-liberalen Ordnung hat sich der Fehler der
       Korruption zu einer Art geheimem Leitprinzip entwickelt.
       
       ## Gegen den Ausverkauf des Gemeinwohls
       
       Schön findet die Korruption niemand, sie wird auch bekämpft, aber zugleich
       gilt sie als menschliches, allzu menschliches Gegengift für Extremismus.
       Also muss sie „in Kauf“ genommen werden in unserer mangelhaften Welt, die
       dennoch die beste aller Welten ist, wie sich nach dem Fall der Mauer ein
       für alle Mal herausgestellt hat.
       
       Nun scheinen die Bevölkerungen vieler Länder mit diesem „Geschäft“ nicht
       mehr zufrieden zu sein. Die jüngsten weltweiten Protestbewegungen richten
       sich auch gegen Korruption im weitesten Sinne: etwa gegen den „Ausverkauf“
       des Gemeinwohls an private Interessen. Die Leute auf den Straßen sind oft
       Kinder des Neoliberalismus, also keine Gegner von Leistung und Wettbewerb.
       
       In seinem Buch „Why It’s Kicking Off Everywhere. The New Global
       Revolutions“ hat Paul Mason zwei Gruppen als dominante Träger der Proteste
       ausgemacht: zum einen junge, gut ausgebildete Personen, global vernetzt,
       die jedoch aufgrund von Seilschaften und Senioritätsprivilegien keine
       Chance zum Aufstieg haben; zum anderen eher schlecht ausgebildete Personen,
       die enorme Probleme haben, angesichts von Lohndumping, prekären Jobs und
       Preissteigerung über die Runden zu kommen.
       
       Beiden Gruppen fehlt die Perspektive. Tatsächlich haben diese Gruppen kein
       gemeinsames Ziel und oft genug auch keine genaue Vorstellung, wie die
       teilweise sehr komplizierten Probleme der Welt zu lösen sind. Sie wollen
       und sie benötigen eine „gute Regierung“, die in der Lage ist, soziale
       Durchlässigkeit sowie rudimentäre Mittel zum Leben zu garantieren. Die
       Tugend ist weder ein politisches Ziel noch eine Strategie. Dennoch ist sie
       eine Voraussetzung für „gute Regierung“.
       
       ## Die Seele der Republik hängt von der Moral ab
       
       In den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft war die Tugend eine
       revolutionäre Vorstellung. Die Französische Revolution wandte sich gegen
       die Korruption einer herrschenden Ordnung, die nicht auf Leistung basierte,
       sondern auf Geburt, und die der Bevölkerung nicht ausreichend
       „Lebens-Mittel“ zur Verfügung stellen konnte.
       
       In seiner Rede „über die Grundsätze der politischen Moral“ hat Maximilien
       Robespierre die „öffentliche Tugend“ definiert. Sie sei nur in einer
       Demokratie möglich, denn nur in der Republik könnten alle Individuen in
       ihrer Gleichheit ein Interesse am gemeinsamen Wohl entwickeln.
       
       Die Tugend und die Gleichheit erscheinen Robespierre daher als „Seele der
       Republik“. Das gibt den Politikern, die den Souverän vertreten, aber auch
       eine besondere Verantwortung: „Das Gesetz muss vor allen Dingen über
       diejenigen herrschen, die das Organ des Gesetzes sind.
       
       Die Regierung muss sich selbst kontrollieren […]. Aber wer hält diese
       Körperschaft in ihren Grenzen, wenn nicht ihre eigene Tugend?“ Diese Tugend
       soll dazu eingesetzt werden, den Bürgern ihre „Lebensmittel“ zu
       garantieren, worunter Robespierre eben nicht nur Nahrung, sondern alle
       „Mittel zum Leben“ verstand.
       
       ## Ein Drama auf Ebene der Grundbedürfnisse
       
       Wenn man seine Reden von damals noch einmal liest, erscheinen die Probleme
       erstaunlich aktuell – etwa die Teuerung durch Spekulation mit
       Nahrungsmitteln.
       
       Bekanntlich hat die Revolution das Eigentum nicht infrage gestellt, doch
       Robespierre wollte den Besitz an bestimmte Regeln binden, letztlich
       wiederum an die tugendhafte Verwendung.
       
       „Das Eigentum“, meinte er, „darf weder die Sicherheit, die Freiheit, die
       Existenz noch das Eigentum unserer Mitmenschen beeinträchtigen.“ Genau das
       geschieht aber, wenn die Regierungen die „Mittel zum Leben“ zunehmend nicht
       gewährleisten.
       
       Aktuell spielt sich das Drama auf der Ebene der Grundbedürfnisse ab: Die
       Teuerung betrifft Nahrung, Miete, Strom, Wasser, Bildung oder öffentliche
       Verkehrsmittel. Sicher, im letzten Wahlkampf hingen überall Plakate, die
       auf diese Missstände hingewiesen haben. Doch viele Bürger glauben nicht
       mehr, dass die Politiker, einmal an der Macht, die „öffentliche Tugend“
       besitzen, um genau diese Ziele auch zu verfolgen.
       
       In den letzten Jahrzehnten wurde die Tugend implizit als Bedrohung der
       Demokratie gesehen. Tatsächlich aber höhlt der Mangel an Tugend die
       Demokratie langsam, aber sicher von innen aus.
       
       26 Jan 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mark Terkessidis
       
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