# taz.de -- Syrische Flüchtlinge in Deutschland: Ankunft Jena, Paradies
       
       > Familie Nowir lebt seit vier Monaten in Jena. Sie gehört zu den 10.000
       > Syrern, die Deutschland aufnehmen will. „Hier ist alles gut“, sagen die
       > Nowirs vorsichtig.
       
 (IMG) Bild: Sie mögen ihre neue Heimat: Salam (li.) und Nour Nowir machen Hausaufgaben für ihren Deutschkurs.
       
       JENA taz | Eisregen sprüht gegen die Fenster des Klassenraums. Draußen
       fällt schwaches, bläuliches Licht auf eine Gasse nahe dem Jenaer Bahnhof,
       der Paradies heißt, und für Nour und Salam ist diese aufgeräumte Stadt mit
       den weiß getünchten Giebelhäusern genau das. Ein Ort, an dem ihre Träume in
       Erfüllung gehen könnten.
       
       In den Glasscheiben spiegelt sich der hell erleuchtete Raum, blau
       gestrichener Stuck an der Decke. Das Institut für Interkulturelle
       Kommunikation hat sich auf Deutsch als Fremdsprache spezialisiert. Knapp 20
       meist junge Leute haben sich an den Tischen verteilt, Iraner, Afghanen,
       eine Chinesin, zwei Griechinnen. Nour und Salam sitzen hinten in der Ecke,
       ihr Lachen flattert durch das Stimmengewirr. „Ich lerne schnell, ich
       spreche gut“, sagt Nour, unterbricht sich, kichert, „nicht gut. Ein
       bisschen.“
       
       Es ist fünf Monate her, dass die Familie Nowir in Deutschland angekommen
       ist. Fünf Monate, in denen sich das Leben der Schwestern so rasant
       verändert hat, dass sie selbst kaum noch mitkommen. In Syrien ist seit drei
       Jahren Krieg; rund 130.000 Menschen sind gestorben.
       
       Aber die Kosten des Konflikts gehen weit über die Todeszahlen hinaus:
       Innerhalb des Landes sind rund vier Millionen Menschen auf der Flucht. Fast
       drei Millionen hat die Gewalt über die Grenzen getrieben. Deutschland hat
       sich im Mai bereit erklärt, 5.000 von ihnen aufzunehmen und die Zahl im
       Dezember um weitere 5.000 erhöht. Familie Nowir zählte zur ersten Gruppe,
       die im September eingetroffen ist.
       
       ## Ankunft im September
       
       Die Lehrerin teilt die Klasse in Gruppen, die Schüler sollen „weil“-Sätze
       üben. Sie legt einen Stapel Kärtchen auf die Pulte, auf denen
       Beispielfragen stehen. Noch etwas ungelenk setzen die Schüler Antworten
       zusammen. Eine Palästinenserin gerät ins Stocken. Salam neben ihr sagt:
       „Das Verb kommt ans Ende.“
       
       Salam ist 18, Nour 16. Sie haben ihre Kopftücher eng um ihre schmalen
       Gesichter gelegt, Salam ein pinkfarbenes, Nour ein rotes. Seit etwa zwei
       Monaten kommen sie jeden Tag in den Unterricht. Nun bleibt ihnen nicht mehr
       viel Zeit. Im August fängt das neue Schuljahr an, Nour und Salam wollen in
       die gymnasialen Oberstufe einsteigen. Die zwei machen gute Fortschritte,
       sagt die Lehrerin: „Besonders Salam hat eine sehr schnelle
       Auffassungsgabe.“ Es komme ihr zugute, dass sie sich mit einer der
       Griechinnen angefreundet hat. Deutsch ist die einzige Sprache, in der sie
       sich verständigen können. „Die Kleine ist sehr aktiv und versucht
       mitzuhalten. Beide haben eine hohe Motivation.“
       
       Gegen Mittag endet der Unterricht. Ein kalter Wind geht durch stille
       Straßen, auf den roten Klinkerdächern liegt etwas Schnee. Nour zieht ihre
       Jacke etwas fester um sich. „Es ist wirklich sehr kalt“, sagt sie, viel
       kälter als in ihrer Heimatstadt Hama, wo Schnee vielleicht alle vier, fünf
       Jahre fällt; Salam lächelt: „Ich find das Wetter schön.“
       
       ## Essen wie zuhause
       
       Nach etwa zehn Minuten sind sie zu Hause. Das Gebäude ist hellgrau,
       vierstöckig und so neu, dass es wie ein Modellhaus aussieht. Im Erdgeschoss
       öffnet die Mutter die Tür. Essensgerüche hängen im Flur. Der Küchentisch
       steht voll mit Platten, ein Reisgericht, Hähnchenschenkel, Bratkartoffeln,
       Salat. „Genauso haben wir in Hama auch gegessen“, sagt Amal Naef Dalloul,
       eine sehr schmale, blasse Frau, 34 Jahre alt, die im Haus ihre Winterjacke
       trägt. Neben ihr steht ihr Mann, Omar Hashem Nowir, 49, mit kurz
       geschorenen Haaren und Hemdkragen unterm Pullover.
       
       Sie können auf Deutsch erst ein paar Worte sagen. Dalloul hat in der Nähe
       ein arabisches Geschäft gefunden. Sonst geht sie im Supermarkt einkaufen,
       und wenn sie nicht weiterweiß, benutzt sie die Übersetzungs-App auf dem
       Handy. „Schön, die Wohnung, oder?“, fragt Nowir, läuft auf Socken über das
       dunkle Laminat, zeigt nach rechts und nach links in die Zimmer.
       
       Von den 10.000 Syrern, die im Libanon ausgewählt wurden, sind erst 3.000 in
       Deutschland angekommen. Sie sind als Teil der Sonderaktion erheblich besser
       gestellt als andere Flüchtlinge. Das Ehepaar Nowir und ihre sechs Kinder
       haben dieselben Ansprüche wie eine deutsche Familie, die hilfsbedürftig
       ist. Sie leben von Hartz IV; die Stadt zahlt die Miete für die
       150-Quadratmeter-Wohnung.
       
       Durch die Innenstadt hastet die Frau, die den Neuankömmlingen hilft, sich
       zurechtzufinden. Sana Al-Mudhaffar ist Sozialarbeiterin für
       Flüchtlingsarbeit vom Fachdienst für Migration und Integration bei der AWO.
       Sie hat viel zu tun dieser Tage; gerade erst sind acht weitere Syrer
       eingetroffen. Die Kontingentflüchtlinge werden nach einem Schlüssel auf die
       einzelnen Bundesländer aufgeteilt; auf Thüringen entfallen 2,8 Prozent.
       
       ## Keine Klage
       
       Al-Mudhaffar nickt einer jungen Frau mit Kinderwagen zu, die ihr auf der
       Straße entgegenkommt. Auch sie stammt aus Syrien, lebt jedoch in einem nahe
       gelegenen Heim. Im Jahr 2013 haben fast 13.000 Syrer Asyl in Deutschland
       beantragt, die vor demselben Krieg geflüchtet sind, aber keine Wohnung
       bekommen und auch keine Sprachkurse.
       
       Omar Hashem Nowir oder seine Frau sind fast jeden Tag bei Al-Mudhaffar im
       Büro. „Sie sind leicht zu betreuen“, sagt die Sozialarbeiterin. „Sie
       kooperieren gut und beklagen sich nie.“
       
       Sie haben Glück gehabt, sehr viel Glück. Allein im Libanon leben inzwischen
       mehr als eine Million syrische Flüchtlinge, oft in Garagen, Ställen und
       Zelten. Nowir und Dalloul haben sich auf ihr pfirsichfarbenes Sofa gesetzt;
       Salam und Nour kauern daneben. Inmitten der neuen hellen Holzmöbel, der
       bunten Vorhänge, wirken sie wie Statisten einer Vorabendserie. Nur in ihren
       Gesichtern liegt ein matter, beklommener Zug, der nicht richtig zu den
       fröhlichen Farben passt. „Hier ist alles gut“, sagt Amal Naef Dalloul, „die
       Menschen sind nett.“ Sie antwortet, lächelt, wartet auf die nächste Frage,
       wie bei einer Befragung auf dem Amt. Ihren knappen Sätzen ist anzumerken,
       wie tief ihre Unsicherheit sitzt, die Sorge, etwas Falsches zu sagen und
       dieses ganze große Glück womöglich aufs Spiel zu setzen.
       
       Dann klingelt es an der Tür; Sana Al-Mudhaffar tritt hinzu. „Die Mutter der
       armen Leute“, sagt Omar Hashem Nowir, Al-Mudhaffar lächelt. Sie hat
       manchmal bis abends nach gebrauchten Möbeln für die Familie gestöbert. Die
       jüngste Tochter, Rama, ist geistig behindert, die hat sie in einer
       Förderschule untergebracht. Abdallah geht auf dieselbe Schule; Fatma und
       Hamza besuchen eine Gesamtschule. Jeden Nachmittag erhalten sie
       Förderunterricht. Die Eltern sind noch die meiste Zeit damit beschäftigt,
       Termine einzuhalten, Briefe übersetzen zu lassen, Anträge auszufüllen. Ab
       Februar werden auch sie einen Sprachkurs belegen. „Ich wollte, dass die
       Kinder zuerst versorgt sind“, sagt die Sozialarbeiterin, „damit die Eltern
       den Rücken frei haben.“
       
       ## Genf und Syrien sind weit weg
       
       Nur einen Fernseher haben sie noch nicht. Nachrichten können sie also nicht
       sehen, die deutschen Zeitungen verstehen sie nicht. Dass das Assad-Regime
       gerade in Genf mit der Opposition verhandelt, wissen sie nicht. Keiner von
       ihnen versucht, sich über den Konflikt in der Heimat zu informieren. Das
       alles ist nun sehr weit weg, sagt Amal Naef Dalloul. Ab und an kommen die
       Gedanken an Syrien in ihr hoch. Sie schiebt sie dann gleich wieder weg.
       „Ich versuche zu vergessen. Das muss ich, denn ich hatte Depressionen
       deswegen.“
       
       Hama, ihre Heimatstadt, liegt im Westen Syriens. Nowir führte dort eine
       Autowerkstatt. Die Familie flüchtete Anfang 2012 nach Beirut; die
       Geheimdienste fahndeten nach Nowir. Von dort flogen sie im Herbst nach
       Deutschland. Sie verbrachten ein paar Wochen im Erstaufnahmelager Friedland
       nahe Göttingen, dann ging es weiter nach Jena.
       
       Ob ihnen die Heimat fehlt? Sie alle schütteln den Kopf. Dann sagt Dalloul:
       „Ich vermisse die Zeit früher, als wir zu Hause in Sicherheit waren. Jetzt
       ist jeder an einem anderen Ort. Egal wie schlimm es unter Assad war, wir
       waren alle zusammen.“ Nun hat sich ihre Familie verstreut, in Syrien und
       außerhalb. Manchmal spricht sie mit ihren Schwestern und Cousinen am
       Telefon. Wenn sie fragen, wie es ist in Deutschland, sagt sie: „Wie im
       Paradies.“ Das klingt etwas dick aufgetragen, aber so empfindet sie es.
       
       Omar Hashem Nowir kann seine Verwandten nicht anrufen. Sie wurden aus Hama
       vertrieben, ihre Häuser zerstört. Seither hat er nichts mehr von ihnen
       gehört. „Mein Bruder wird vermisst, niemand weiß, wo er ist, ob die Polizei
       oder die Geheimdienste ihn haben“, sagt er. Seit März 2011 sind mehr als
       100.000 Menschen in den syrischen Gefängnissen verschwunden. Nowir wendet
       den Blick ab, er zeigt auf die Porzellanhühner im Regal, Spenden von der
       Caritas, er lacht: „Sind die nicht niedlich?“
       
       ## Der Neffe braucht Hilfe
       
       Seine Frau kramt ihr Handy aus der Tasche; sie lässt einen kleinen Film
       laufen. Ihr Neffe ist zu sehen, ein zwölfjähriger Junge. Die Bomben haben
       ihm beide Hände abgerissen. Er ist jetzt in der Türkei, aber dort kann er
       nicht richtig behandelt werden. Sana Al-Mudhaffar unterstützt die Familie,
       damit sie das Kind bald nachholen kann. Die Anträge sind gestellt, nun
       warten sie auf die Antwort der Behörden.
       
       Noch brauchen sie ihre ganze Kraft, um den Alltag zu bewältigen. Beide
       wollen so schnell es geht Arbeit finden. Er würde gerne im Autohandel
       arbeiten. Sie ist gelernte Schneiderin. Sie haben schon ein paar neue
       Bekannte, Dalloul trinkt ab und an Kaffee mit der Inhaberin des arabischen
       Ladens. Aber sie gehen selten aus. In Hama ist Nowir oft in die Moschee
       gegangen. In Jena nicht. Betet er dann zu Hause? Er schüttelt knapp den
       Kopf. Er betet nicht mehr. „Ich hab zu viel Stress“, sagt er. „Vom Gefühl
       her stehe ich ständig unter Druck.“
       
       Aber ein neues, ziemlich deutsches Hobby haben sie gefunden: Sie haben sich
       Fahrräder gekauft in einem Aktionsverkauf, damit machen sie manchmal
       Ausflüge. Amal Naef Dalloul hat nicht mehr auf einem Rad gesessen, seit sie
       Kind war. In Syrien sind Fahrrad fahrende Erwachsene ungewöhnlich, vor
       allem Frauen. Nun macht sie sich oft auf den Weg, sagt sie, lacht. Dann
       zieht sie ihre Schleifen um diese fremde, kalte, ruhige Stadt, in der sie
       jetzt zu Hause ist.
       
       2 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriela Keller
       
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