# taz.de -- Jüdische Gemeinde zu Berlin: Vor der Spaltung?
       
       > Die Einheitsgemeinde in Berlin ist seit Jahren heillos zerstritten. Jetzt
       > droht ihr endgültiges Zerbrechen – wegen eines Antrags zur Neuwahl der
       > Führung.
       
 (IMG) Bild: Symbol jüdischen Lebens: Die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte.
       
       BERLIN taz | Allein die Diskussion der Reihenfolge der Tagesordnungspunkte
       dauerte knapp zwei Stunden. Und schon dabei ging es ganz schön zur Sache:
       Die wenigen ZuschauerInnen bei der jüngsten Sitzung, die die
       Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin am vergangenen
       Donnerstag überhaupt noch anzog, wurden Zeugen eines beharrlichen
       Austauschs höflicher und weniger höflicher gegenseitiger Kränkungen.
       
       Dabei war auch nach weiteren zwei Stunden zwar viel verhindert und vertagt
       worden – aber über die tatsächlichen Probleme der Gemeinde noch immer kein
       Wort gefallen. Etwa den Umgang der Gemeindeführung mit den fast 2.000
       Unterschriften, die die Opposition für Vorstandsneuwahlen gesammelt hat und
       um deren Prüfung sich die jüngste Eskalation des Konflikts in der immer
       hoffnungsloser zerstrittenen Gemeinde dreht. Oder die Streiks von Schüler-
       und LehrerInnen des Jüdischen Gymnasiums, wo die Gehälter der Lehrkräfte
       seit Jahren nicht erhöht wurden. Oder die etwa 8 Millionen Euro Schulden,
       mit der die 10.000-Mitglieder-Gemeinde mittlerweile beim Berliner Senat in
       der Kreide steht.
       
       Immerhin bot die Repräsentantenversammlung eine gute Gelegenheit, einen
       Eindruck der verfahrenen Lage von Deutschlands größter jüdischer Gemeinde
       zu gewinnen. Nicht, weil dort über wichtige Angelegenheiten entschieden
       wurde – im Gegenteil. Doch genau das gibt Aufschluss über die Situation.
       
       Zwar hat die „Koach“ (Stärke)-Fraktion des Gemeindevorsitzenden Gideon
       Joffe nach mehreren Austritten nur noch eine knappe Mehrheit in dem
       gewählten Parlament. Doch die genügt, um damit alle Anträge der Opposition
       zu blockieren. Die geht derzeit nicht nur deshalb mit einer
       Neuwahlinitiative gegen den amtierenden Vorstand vor, dem sie
       Misswirtschaft und „Verstöße gegen elementare Regeln der Demokratie“
       vorwirft.
       
       ## Schulden von über 4 Millionen Euro
       
       Rund 18 Millionen Euro jährlich erhält die Jüdische Gemeinde vom Senat,
       teils zweckgebundene Gelder wie für die Schulen und Kitas in
       Gemeinde-Trägerschaft, die Pflege ihrer Friedhöfe oder die
       Sicherheitsvorkehrungen, die aus den Töpfen der zuständigen
       Senatsverwaltungen kommen und deren Verwendung den jeweiligen Richtlinien
       entsprechend belegt und abgerechnet werden müssen. 5,5 Millionen der
       Gesamtsumme sind pauschale Staatszuschüsse zum Ausgleich nicht gedeckten
       Ausgabebedarfs. Auch deren Verwendung muss die Gemeinde belegen. Und um die
       geht es beim Finanzstreit mit dem Land.
       
       Durch zu hohe Pensionsleistungen hat die Jüdische Gemeinde beim Senat
       Schulden von über 4 Millionen Euro angehäuft, zu denen mittlerweile Zinsen
       in etwa gleicher Höhe kommen. Schulden also, die über Jahre angehäuft
       wurden und die der amtierende Vorsitzende Joffe – der auch von 2006 bis
       2008 Vorsitzender war – keineswegs allein zu verantworten hat.
       
       Joffe selbst war vor seiner erneuten Wahl 2012 mit harscher Kritik an
       seiner Vorgängerin Lala Süßkind angetreten, die zu wenig „Durchblick und
       Sachverstand“ habe, um die Verhandlungen mit dem Senat „erfolgreich zu Ende
       zu bringen“. Doch auch er brachte die Sache nicht zu Ende – sondern vor
       Gericht.
       
       Joffe klagte gegen den Senat. Der hatte von November 2012 an 100.000 Euro
       der monatlich gezahlten Staatszuschüssen zur Schuldentilgung einbehalten.
       Dagegen erwirkte der Gemeindevorsitzende eine einstweilige Verfügung: Der
       Senat muss in alter Höhe weiterzahlen. Zugleich forderte Joffe die Erhöhung
       der Staatszuschüsse um 11 Prozent – allerdings ohne dafür nötige
       Begründungen oder Wirtschaftspläne vorzulegen.
       
       ## Stolz der Stadt
       
       „Deshalb konnten wir gar nicht prüfen, ob die Erhöhung grundsätzlich
       angemessen gewesen wäre“, sagt Günter Kolodziej, Sprecher der zuständigen
       Senatskulturverwaltung. Was Kolodziej nicht sagt: Zu einer einvernehmlichen
       Lösung des Finanzstreits hat Joffe damit nicht beigetragen – im Gegenteil.
       Dabei wäre die auch dem Senat um manches lieber als die weitere Eskalation
       des Streits in der und um die Jüdische Gemeinde.
       
       Die Einheitsgemeinde, die verschiedene religiöse Strömungen unter ihrem
       Dach vereint, ist ein Stolz der Stadt – und ein fragiles Gebilde. 6.000 von
       einst 160.000 Juden hatte Nazideutschland in Berlin 1945 hinterlassen, die
       anderen: emigriert, deportiert, ermordet. Zuwachs gab es in den ersten
       Nachkriegsjahrzehnten kaum. Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion wuchs die
       Gemeinde wie viele andere in Deutschland beträchtlich: durch Einwanderer
       aus Exsowjetrepubliken, was in Berlin wie andernorts durchaus nicht
       konfliktfrei verlief.
       
       Heute wird die Zahl der jüdischen Berliner auf 40.000 geschätzt – doch nur
       jeder Vierte gehört der Gemeinde noch an. Dafür existieren bereits mehrere
       unabhängige Synagogen, erst kürzlich gründete sich eine neue orthodoxe
       Gemeinschaft. Dass die Einheitsgemeinde ganz zerfällt – wie etwa in
       Hannover, wo es mittlerweile vier jüdische Gemeinden gibt – will niemand,
       auch die Senatsverwaltung nicht.
       
       Es war nicht zuletzt Gideon Joffes Umgang mit dem Senat, der Carola
       Melchert-Arlt, Mitglied der Repräsentantenversammlung, bewog, das
       Wahlbündnis des amtierenden Vorsitzenden zu verlassen und sich der
       Opposition anzuschließen. Joffe sei auf Kompromissangebote nicht
       eingegangen, habe „keine Gespräche geführt, sondern Forderungen gestellt“.
       
       ## Autokratischer Führungsstil
       
       Bei der Vorstandswahl 2012 war Melchert-Arlt für Koach angetreten. Bis
       Anfang 2013 war sie stellvertretende Vorsitzende und Bildungsdezernentin
       der Gemeinde. Doch dann enthob Joffe sie ihrer Ämter, „weil ich ihm
       undemokratisches Verhalten vorgeworfen habe“. Der autokratische
       Führungsstil des Vorsitzenden habe ihre Zweifel an seinem
       Demokratieverständnis genährt: Joffe leite nicht, „er herrscht“, sagt
       Melchert-Arlt.
       
       Dass sich diese Herrschaft vor allem auf die Unterstützung der neueren
       Mitglieder aus der Ex-UdSSR stütze, die nach manchen Schätzungen
       mittlerweile die Mehrheit in der Gemeinde stellen, wird von anderen
       Mitgliedern gern kolportiert – auch von Joffe selbst. Die Oppositionellen
       regt das auf. Er selbst sei „mehr Russe als Joffe“, sagt etwa Sergey
       Lagodinsky (38), bei der letzten Vorstandswahl Joffes Gegenkandidat. 1975
       im sowjetischen Astrachan geboren, kam Lagodinsky mit 18 Jahren nach
       Deutschland – und Joffe, in Tel Aviv als Kind lettischer Juden geboren,
       schon als Vierjähriger.
       
       Die Aufteilung der Konfliktparteien in Alteingesessene und Zuwanderer sei
       nicht ganz falsch, meint Michal Bodemann, Soziologieprofessor, Autor von
       Büchern über die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und Mitglied der
       Berliner Gemeinde. Es sei vor allem „der ältere und ärmere Teil der
       Einwanderer“, auf den sich Joffe stützen könne – von denen viele auf
       ökonomische und soziale Unterstützung der Gemeinde angewiesen sind. „Sie
       hängen sich geradezu verzweifelt an Leute wie Joffe, die in der Gemeinde
       Macht haben. Und die haben dadurch Kontrolle über diese Mitgliedergruppe.“
       Das bringe viele Stimmen.
       
       44 Prozent der Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sind über 60
       Jahre alt. „Patronagesystem“ nennt das Lagodinsky. Joffe docke „geschickt
       an Verhaltensmuster an, die einem Teil der sowjetischstämmigen Zuwanderer
       biografisch vertraut“ seien. Er arbeite mit „Halbwahrheiten, Manipulation,
       Provokation“.
       
       ## Die Stimmung sei „ausgewogen“
       
       Harte Worte eines Konkurrenten. Von Joffe selbst oder der
       Gemeindepressestelle sind schon lange keine Stellungnahmen mehr zu
       bekommen. Bei einer Pressekonferenz Mitte Januar war es der Vorsitzende der
       Repräsentantenversammlung, Michael Rosenzweig – Mitglied von Koach –, der
       die acht eingeladenen JournalistInnen mit der Einschätzung, dass die
       Stimmung in der Gemeinde doch „recht ausgewogen“ sei, ebenso überraschte
       wie mit einer ungewöhnlichen Überprüfungsmethode der von der
       Neuwahlinitiative eingereichten Unterschriften.
       
       Zwar habe, so Rosenzweig, die Initiative das für ein Neuwahlbegehren
       notwendige Quorum von 20 Prozent wahlberechtigter Gemeindemitglieder
       eigentlich erreicht. Doch alle Befürworter des Begehrens wurden von der
       Gemeinde erneut angeschrieben, um ihre Stimmabgabe schriftlich zu
       bestätigen. Wer das nicht innerhalb von zwei Wochen tut, dessen Stimme gilt
       als ungültig.
       
       Die Neuwahlinitiative will sich das nicht gefallen lassen. Man werde „alle
       Möglichkeiten prüfen, gegen das Verfahren vorzugehen“, sagt Mitglied Micha
       Guttmann. Mehrere hundert Gemeindemitglieder hätten bereits eine
       entsprechende Petition an den Zentralrat der Juden in Deutschland
       unterschrieben.
       
       Bringen werde das aber alles nichts, fürchtet der Oppositionelle
       Lagodinsky. Für ihn ist die neue Prüfmethode „eindeutig eine Aushebelung
       des demokratischen Instruments des Neuwahlantrags“, die eines belege: „Die
       Jüdische Gemeinde zu Berlin“, so Lagodinsky, „bietet derzeit die
       einzigartige Möglichkeit, mitten in einem Rechtsstaat in einem totalitären
       Regime zu leben.“
       
       3 Feb 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alke Wierth
       
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