# taz.de -- Debatte Ukraine: Gefährliche Nationalisierung
       
       > Die Proteste auf dem Maidan richteten sich gegen die Korruption. Doch nun
       > sprechen alle nur vom Konflikt zwischen Russen und Ukrainern.
       
 (IMG) Bild: Nationalismus schlägt Korruption: Prorussische Demonstranten in Donezk.
       
       In Paris weigerte sich der russische Außenminister Lawrow, mit dem neuen
       ukrainischen Außenminister der Interimsregierung zu sprechen, schließlich
       sei dessen Regierung illegal.
       
       Der Vorwurf verblüfft. Gerade ein ehemaliger Sowjetbürger weiß, dass
       Revolutionen immer illegal sind. Solidarität mit der Revolution zeigen also
       nur die USA und die anderen westlichen Staaten. Sie unterscheiden sich
       allerdings in ihren Mitteln. Die US-Regierung, der eine republikanische
       Partei im Nacken sitzt, die Kriege weder scheut noch verantworten muss, ist
       für eine „harte Linie“. Einige EU-Staaten, darunter Deutschland, wollen
       durch Sanktionen verhindern, dass die Situation außer Kontrolle gerät.
       
       Der Legalitätsanspruch der russischen Aktionen ist so fadenscheinig, dass
       sich die Frage aufdrängt, ob dahinter ein Hilferuf nach Schonung verborgen
       ist. Auch die Behauptung, Russland sei an den Protesten unbeteiligt, ist
       dünn. Die Machtübernahme auf der Krim wäre ohne ihre Sicherheitsapparate
       nicht denkbar gewesen. Die russischen Begründungen dafür waren ebenfalls
       schräg: etwa dass es sich in Kiew um einen faschistischen Putsch gehandelt
       habe oder dass russische Staatsbürger in Gefahr seien. Der sowjetische
       Gebrauch des Wortes „faschistisch“ kann offenbar noch heute starke Gefühle
       auslösen.
       
       Mit solch fantastischen Anschuldigungen gelang es, in den
       russischsprachigen Regionen Teile der Bevölkerung zu mobilisieren. Die
       jungen Männer, die wie Zwillingsbrüder jener aussehen, die auf dem Maidan
       die Sicherheitskräfte von Janukowitsch entschlossen bekämpften, sind schon
       da – und Massenaktionen sind nie vollständig steuerbar.
       
       ## Aufstand gegen Korruption
       
       Die Demonstrationen in Kiew, die zum Aufstand wurden, richteten sich gegen
       ein von oben bis unten korruptes Gemeinwesen, in dem Politiker staatliche
       Gelder stahlen oder staatliche Gelder in private Taschen anderer
       umleiteten, in dem die Justiz gefügiges Werkzeug korrupter Politiker war
       und die Ordnungskräfte sich wie kriminelle Gangs benahmen. Diese Lage hatte
       all jene verärgert, die rechtsstaatliche Verhältnisse und eine positive
       wirtschaftliche Perspektive wollten. Viele von ihnen sahen sich als
       russischsprachige Ukrainer oder als russische Demokraten.
       
       Aber es gab schon vorher eine Tendenz, die zivilgesellschaftlichen
       Ansprüche national zu buchstabieren. Die schlechte Gegenwart wurde Russland
       zugeschrieben genauso wie die sowjetische Vergangenheit den Russen als
       nationales Verbrechen an der ukrainischen Nation. Man kennt überall die
       Nationalisierung sozialer und politischer Konfliktlagen. Sie sind dann
       nicht mehr über Reformen und institutionellen Neuaufbau lösbar, sondern
       scheinbar nur noch über den Kampf gegen die Feinde.
       
       Entsprechend fanden sich auf der Siegesfeier auf dem Maidan unzählige
       Fahnen, wurden patriotische Lieder gesungen und Märtyrer aufgebahrt. Die
       russischsprachigen Bürger der Ukraine, die sich an den Protesten beteiligt
       hatten, müssen damit umgehen, dass sie angeblich einer fremden und zutiefst
       uneuropäischen Kultur angehören – sollen sie doch Ukrainisch lernen.
       
       ## Nationalisierung des politischen Konflikts
       
       Vergleiche können Dinge verdeutlichen, auch wenn sie hinken: Belgien stand
       bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg unter sprachlicher Hegemonie des
       Französischen. Dann verschoben sich aus wirtschaftlichen Gründen die
       Gewichte. Was würde heute geschehen, wenn Flämisch als einzig legitime
       Sprache im ganzen Land durchgesetzt werden sollte? Es käme in Frankreich zu
       Reaktionen und viele Wallonen würden sich von Belgien lösen wollen, nicht
       ohne Brüssel. Der Konflikt ist für Belgien unwahrscheinlich.
       
       Der ukrainische Nationalismus indessen hat die Möglichkeit von
       Mehrsprachigkeit nicht in Betracht gezogen. Die Ost- und Südukraine mitsamt
       der Krim hatten zwar eine wechselvolle Geschichte, zumindest sprachlich
       aber keine ukrainische. Zum nationalen Denktypus gehört jedoch, dass das
       Territorium, so wie es ist, heilig bleiben muss. Die jeweils andere Seite
       hält ihre Ansprüche ebenfalls für heilig.
       
       Für Putin selbst ist die Nationalisierung des politischen Konflikts
       angenehm. Sie passt zu seiner eigenen Politik. Seit Jahren hat er gar nicht
       erst versucht, um die ukrainische Bevölkerung zu werben, und stattdessen
       Sanktionen und Drohungen gegen ein ganzes Land eingesetzt. Dabei hat er es
       mit Korruption, Unterschlagungen und bröckelnder Infrastruktur zu tun. Eine
       Massenbewegung wie auf dem Maidan könnte auch seiner Kamarilla gefährlich
       werden.
       
       Aber auch in Russland ist die zivilgesellschaftliche Bewegung
       vergleichsweise schwach. Was Russland im Unterschied zur Ukraine mächtig
       erscheinen lässt, sind allein die noch immer riesigen Vorräte an Erdgas,
       Erdöl und Holz.
       
       ## Putin ist nicht so mächtig
       
       Der Nationalismus denkt nicht wirtschaftlich und rational, wie die
       Oligarchen es tun, die sich in der Ukraine hinter die neue Regierung
       gestellt haben – alle Oligarchen, selbst Rinat Achmetow, der Janukowitsch
       finanziert hatte. Der Oligarch Sergei Taruta wurde in Donezk Gouverneur,
       Igor Kolomojskij in Dnipropetrowsk. Dass sich die Interimsregierung an die
       Oligarchen als Retter wendet, zeigt, für wie gefährlich sie die Situation
       hält. Aber auch den Oligarchen könnte die Macht entgleiten. Die von unten
       aufsteigenden neuen Politiker kommen nicht aus demokratischen Milieus,
       sondern solchen, aus denen sich eher gewaltbereite Kämpfer rekrutieren.
       
       Man sollte daher Putins Macht nicht überschätzen. Führungsfiguren tun immer
       so, als hätten sie alles im Griff. Als gedemütigter und unterlegener
       Verlierer könnte er jedoch rasch als „Verräter“ und „Schwächling“ von jenen
       gestürzt werden, auf die er sich bislang stützte. Was danach käme, dürfte
       weitaus kriegsbereiter sein als Putin.
       
       Leider bedienen sich westliche Politiker und westliche Medien oftmals naiv
       nationalistischer Denkformen und operieren mit entsprechenden moralischen
       Kategorien wie „Entschiedenheit“, „Festigkeit“, „Feigheit“ oder
       „Zurückweichen“. Damit baut man keine zivilen Gesellschaften auf, sondern
       verstärkt noch die Tendenz zu Gewalt, die nur anfangs befriedigt.
       
       7 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erhard Stölting
       
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