# taz.de -- Gorlebener Gebet: Beharrlicher Protest im Kiefernwald
       
       > Mal kommen zehn, mal 200, Protestanten, Katholiken, Muslime oder
       > "Kirchenferne" jeden Sonntag seit 25 Jahren zur atomkritischen Andacht
       > nach Gorleben.
       
 (IMG) Bild: Keine normale Andacht - und schon gar kein Gottesdienst: Gorlebener Gebet am nuklearen "Schwarzbau".
       
       GORLEBEN taz | Es gibt bequemere Orte. Auf einer Schneise im Kiefernwald
       zwischen Gorleben und Gedelitz stehen drei Kreuze im sandigen Boden. Eines
       ist so stark verwittert, dass es von einem Baum abgestützt werden muss.
       Grob behauene Stämme dienen als Bänke. Kaum mehr als 100 Meter entfernt,
       mit Zäunen gesichert: das Areal des Gorlebener Erkundungsbergwerks. Seit
       Ende der 1970er-Jahre wird der untertägige Salzstock auf seine Tauglichkeit
       als Endlager für hochradioaktiven Müll geprüft. Tatsächlich, so sehen es
       zumindest die Atomkraftgegner, ist unter dem Deckmantel der Erkundung
       längst eine Lagerstätte für den strahlenden Schrott aufgefahren worden –
       „Schwarzbau“ nennen sie deshalb das Bergwerk.
       
       Auf der anderen Seite der Straße, noch in Sichtweite des rustikalen
       Gebetsplatzes, erhebt sich wuchtig der andere Teil des Atomkomplexes: links
       die Lagerhalle für Castorbehälter, daneben das Zwischenlager für schwach
       und mittelradioaktive Abfälle. Die Fabrik mit dem hohen Schornstein ist die
       Pilotkonditionierungsanlage (PKA). Eines Tages, wenn die PKA ihren „heißen“
       Betrieb aufgenommen hat, könnten darin Castorbehälter zerschnitten und ihr
       strahlender Inhalt neu verpackt, das heißt für die Endlagerung
       konditioniert werden.
       
       „Hier ist es“, sagt Christa Kuhl. Hier, an den Kreuzen im Wald, treffen
       sich Menschen zum „Gorlebener Gebet“, Sonntag für Sonntag, seit inzwischen
       25 Jahren. Sie halten Andachten ab, singen Lieder und mahnen einen anderen
       Umgang an mit Atommüll und der Umwelt überhaupt. „Wir kämpfen gegen die
       Atomwirtschaft weltweit“, sagt Kuhl, „und für den Frieden.“
       
       ## Am Anfang: ein Protestmarsch
       
       Entstanden ist die Initiative „Gorlebener Gebet“ 1988 nach einem großen
       Protestmarsch, 1.113 Kilometer vom bayrischen Wackersdorf bis nach
       Gorleben, Landkreis Lüchow-Dannenberg, im äußersten Nordosten von
       Niedersachsen. 63 Tage lang hatten Demonstranten ein schweres Holzkreuz mit
       sich geschleppt, das sie am Schluss in den Gorlebener Waldboden rammten.
       Ein paar Beteiligte überlegten sich weitere Aktionen, zu einem festen
       Termin im wendländischen Protestkalender wurden die Gebete dann im
       Frühsommer des folgenden Jahres.
       
       Damals war Christa Kuhl noch nicht mit von der Partie. Vor elf Jahren zog
       die heute 75-Jährige mit ihrem Mann ins Wendland, „den Kindern hinterher“,
       sagt sie, „die hier schon lange im Widerstand waren“. Bis dahin hatten sich
       die Eheleute in Hameln gegen das nahe gelegene AKW Grohnde engagiert. Seit
       sieben Jahren koordiniert die pensionierte Lehrerin nun die Gorlebener
       Gebete. „Wir sind kein eingetragener Verein, haben auch keine Statuten, wir
       sind ein kleiner Kreis von Menschen, die sich dieser Sache verschrieben
       haben“, beschreibt Kuhl die Initiative.
       
       „Gorleben ist nicht nur Synonym für den energiepolitischen Irrwitz, der
       Ausdruck im Strahlenmüll findet“, sagt Wolfgang Ehmke von der
       Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (BI). „Es ist auch Ort der
       Hoffnung auf eine Umkehr und eine außergewöhnliche Form der
       interkulturellen Verständigung.“
       
       Das Gorlebener Gebet, das ist Christa Kuhl wichtig, ist eine ökumenische,
       ja sogar eine interreligiöse Initiative: Neben evangelischen und
       katholischen Christen haben schon eine jüdische Kantorin sowie Muslime die
       Veranstaltungen geleitet. Die erste muslimische Andacht vor drei Jahren
       bereiteten zwei arabischstämmige Ärzte aus dem Wendland vor, eine zweite
       wurde von muslimischem Frauen gestaltet.
       
       Rund 1.500 Veranstaltungen hat es inzwischen gegeben. „Kein einziges Mal“,
       versichert Kuhl, sei das Gorlebener Gebet ausgefallen, „auch bei Eis,
       Schnee und Regen nicht“. Im Durchschnitt kommen zwischen zehn und 30
       Menschen, manchmal mehr, selten weniger. Sie kommen auch deshalb, weil die
       Gorlebener Gebete keine normalen Andachten sind – und Gottesdienste schon
       gar nicht. „Für viele“, sagt Kuhl, „ist das Gorlebener Gebet eine
       Möglichkeit, ihr Christsein und ihre Spiritualität auf eine Art zu feiern,
       wie es in den festgefügten Ritualen der Kirche oft nicht möglich ist.“
       
       Feste Rituale gibt es dabei auch hier: Rollt ein Castortransport ins
       Wendland, sind die Veranstaltungen besonders gut besucht, am Sonntag vor
       der bislang letzten Atommüllfuhre im November 2011 versammelten sich an den
       Holzkreuzen 200 Menschen. „Die Aktivisten, die in den Tagen und Nächten
       danach in den Widerstand gehen und sich an den Blockaden beteiligen, werden
       alle persönlich gesegnet“, sagt Kuhl. Ein weiteres Ritual: Nach dem Gebet
       trifft man sich zu Kaffeetrinken und Klönschnack im Gasthaus Wiese in
       Gedelitz, einer der traditionellen Widerstandskneipen rund um Gorleben.
       
       Überhaupt sieht sich das Gorlebener Gebet als Bestandteil des Widerstandes
       im Wendland – als eigenständigen Bestandteil allerdings, sagt Kuhl:
       „Widersetzen, x-tausendmal quer, die Bäuerliche Notgemeinschaft, die BI –
       wir machen mit denen keine gemeinsamen Aktionen, aber wir unterstützen
       einander. Es gibt eben unterschiedliche Wege zum gemeinsamen Ziel.“
       
       ## Besuch vom „Politrentner“
       
       Am vorletzten Sonntagnachmittag haben sich rund 70 Menschen auf der kleinen
       Lichtung zum Gorlebener Gebet versammelt. Besuch von auswärts hat sich
       angekündigt: Die Teilnehmer eines ökumenischen „Kreuzweges für die
       Schöpfung“, gestartet am 9. März in Hildesheim und am Tag zuvor am maroden
       Atommülllager Asse zu Ende gegangen, machen Station in Gorleben. Auch der
       frühere sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt, ein Christdemokrat,
       ist ins Wendland gekommen. Die katholische Kirche hat den 69-Jährigen, bis
       dahin nie als Atomfachmann aufgefallen, in jene Kommission entsandt, die ab
       April Grundlagen für die Endlagersuche erarbeiten und das im vergangenen
       Jahr verabschiedete Suchgesetz evaluieren soll.
       
       Als „Politrentner“ sei er niemandem verpflichtet, entgegnet Milbradt im
       Anschluss an das Gebet in der Gorlebener Kapelle Zuhörern, die argwöhnen,
       er werde in der Kommission Unions-Positionen vertreten. Er sehe seine
       Funktion auch nicht als Vertreter der Katholiken, eher als Vermittler: „Die
       Beteiligten müssen zueinander kommen“, dazu wolle er einen Beitrag leisten,
       sagt Milbradt und zieht wiederholt Parallelen zu seiner Rolle als
       Schlichter bei Tarifverhandlungen.
       
       „Bei der Endlagersuche gibt es keine Formelkompromisse, da geht es um
       weitgehende Sicherheit“, sagt Wolfgang Ehmke von der BI. Es sei positiv,
       dass Milbradt gekommen sei und sich am Gorleben-Gebet beteiligt habe. „Zum
       Gorleben-Gefühl gehört eben auch, dass die Menschen über 35 Jahre lang
       getäuscht wurden. Von Milbradt hatten wir klare Worte erhofft: Wie sollen
       Menschen Vertrauen in einen offenen und fairen Suchprozess gewinnen, wenn
       an Gorleben festgehalten wird?“
       
       Ein gutes Verhältnis haben die Leute vom Gorlebener Gebet inzwischen zur
       Amtskirche, sogar zu deren Leitung. „Viele Pastoren aus dem Wendland sind
       ja im Widerstand“, sagt Kuhl. Bei Castortransporten sind bis zu 50 Pfarrer
       als Streitschlichter und Vermittler unterwegs. Beim Gorlebener Gebet selbst
       übernehmen Amtsträger wie auch Ruhestandspastoren Andachten.
       
       ## Die Kirchenoberen waren skeptisch
       
       So viel Harmonie war nicht immer: „In den Anfangsjahren gab es
       außerordentlich politische und theologische Auseinandersetzungen“, erinnert
       sich Ruhestandspastor Kurt Schaefer aus Otterndorf bei Stade, der zu den
       Begründern der Gebete gehört und ein Buch über die Initiative verfasst hat.
       Noch nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 sei das
       Engagement im Wald von der Kirchenleitung skeptisch gesehen worden, erzählt
       Schaefer. „Die Andachten wurden ja nicht immer von Theologen gestaltet und
       manchmal auch von Gruppen, die etwas kirchenfern waren.“
       
       Zur offiziellen Geburtstagsfeier kommt jetzt am 29. Juni der hannoversche
       Landesbischof Ralf Meister nach Gorleben. „Wir haben da einfach mal ganz
       oben angefragt“, erklärt der Initiativkreis, „und eine Zusage erhalten.“
       Gratulieren wollen auch die übrigen Anti-Atom-Gruppen aus dem Wendland: mit
       einem „Widerstandsmarathon“.
       
       23 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reimar Paul
       
       ## TAGS
       
 (DIR) AKW
 (DIR) Entsorgung
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Atomkraftwerk
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
 (DIR) Tschernobyl
 (DIR) Gronau
 (DIR) Atom
 (DIR) Anti-Atom-Bewegung
 (DIR) AKW
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) AKW Stade strahlt länger: Atomaufsicht außer Kontrolle
       
       Niedersachsens Umweltministerium hat den Austritt von Radioaktivität aus
       dem Reaktor Stade verschwiegen. Der Abriss wird sich um Jahre verzögern.
       
 (DIR) Der Müll, den niemand wüll: AKW-Schrott ohne Abnehmer
       
       Der Reaktor Stade wird „rückgebaut“ – doch Betreiber Eon findet keine
       Deponien.
       
 (DIR) Sicherheitsbedenken in Niedersachsen: AKW Grohnde weiter außer Betrieb
       
       Nur unter Protest sollen Techniker Schweißnähte notdürftig geflickt haben.
       Niedersachsens Umweltminister Wenzel schaltet die Staatsanwaltschaft ein.
       
 (DIR) Jede Menge Probleme beim E.ON-Meiler: AKW Grohnde bröselt weiter
       
       Neun Federbrüche im Reaktorkern, der Ersatzgenerator ist rostig: AKW-Gegner
       fordern das endgültige Aus für das Atomkraftwerk.
       
 (DIR) Havarie im AKW Grohnde: Fremdkörper im Reaktorkern
       
       Techniker entdecken ein zerstörtes Bauteil im AKW. Atomkraftgegner fordern
       umfassende Sicherheitschecks, Basis-Grüne die endgültige Abschaltung.
       
 (DIR) 28 Jahre nach Tschernobyl: Fitte Vögel dank Radioaktivität
       
       Sie sind größer und haben weniger Gendefekte. Das haben Biologen bei Vögeln
       in Tschernobyl festgestellt. Ihre Ergebnisse lassen Raum für Zweifel.
       
 (DIR) Atommüll in Gronau: Vom Zwischen- zum Endlager
       
       Deutschlands einzige Uran-Fabrik produziert Massen von Atommüll – und
       lagert ihn unbefristet vor Ort. Gronau könnte damit zum Präzedenzfall
       werden.
       
 (DIR) Kommission für Atomendlager: Bundestag müht sich um Verbände
       
       Die Parteien wollen das Problem mit dem Atommüll lieber heute als morgen
       vom Hals haben. Die Suchkommission soll endlich arbeiten.
       
 (DIR) Streit über Atommüll-Kommission: Finde das Endlager
       
       Die Kommission zur Endlagersuche soll in zwei Wochen eingesetzt werden.
       Politik und Umweltverbände sind in wichtigen Punkten unverändert
       unversöhnlich.
       
 (DIR) Atomkraftwerk Grafenrheinfeld: Steuer sorgt für früheres Aus
       
       Das Atomkraftwerk in Unterfranken soll im Februar 2015 abgeschaltet werden,
       sieben Monate vor Laufzeitende. Das AKW rechne sich nicht mehr, erklärt der
       Betreiber.