# taz.de -- Kongress der Lebensmittelretter: Die Anti-Wegwerfer
       
       > Sie sind sowas wie die niedrigschwellige Variante der Tafel. Sie sammeln
       > für den Müll bestimmte Lebensmittel und verschenken sie.
       
 (IMG) Bild: Zu schade zum Wegwerfen: Lebensmittel aus der Tonne.
       
       HAMBURG taz | In kleinen Grüppchen sitzen sie an Holztischen und schnippeln
       auf ihren mitgebrachten Tellern und Brettern. Brokkoli, Pilze und Tomaten
       hier, Salat, Spitzkohl und Weintrauben da. Mittags soll es Gemüsepfanne,
       Ofenkartoffeln, vegane Majonäse und Hollandaise geben.
       
       „Das sind alles Lebensmittel, die ohne uns in der Mülltonne gelandet
       wären“, sagt Christina Schlüter. Sie zieht einen Bund Radieschen aus einer
       Kiste. Die Blätter sind gelb und schlapp, unverkäuflich. Das Radieschen
       knackt, als sie draufbeißt.
       
       Schlüter hat den Kongress der Lebensmittelretter im Bürgerhaus in
       Hamburg-Jenfeld mitorganisiert. Rund 90 Aktivisten sind am Wochenende
       gekommen, um gemeinsam zu kochen, über Essen zu reden, sich zu vernetzen
       und in Workshops etwa darüber zu diskutieren, wie man Supermärkte dazu
       bringt, ihnen ihre Lebensmittel zu überlassen.
       
       2012 wurde das Foodsharer-Projekt gegründet und heute gibt es
       deutschlandweit rund 3.000 Aktivisten, die Lebensmittel sammeln, um sie zu
       verschenken. Sie klappern Supermärkte, Bäckereien, Tankstellen und
       Gemüsehändler ab und nehmen alles mit, was für die Tonne bestimmt ist.
       
       Als Schlüter vor einem halben Jahr bei den Lebensmittelrettern einstieg,
       hat sie fast 50 Ladeninhaber nach ihrer Wegwerfware gefragt. Sie nennt das
       gegen einen Fehler im System arbeiten. „Als Mutti habe ich viel Zeit“, sagt
       sie. Ihr Sohn ist elf Monate, im Juli muss sie wieder im Hotel arbeiten.
       Leider, sagt sie.
       
       Der Fehler im System ist die Überproduktion, das einkalkulierte Wegwerfen.
       Jedes Jahr landen laut einer Studie der Stuttgarter Universität elf
       Millionen Tonnen Lebensmittel in deutschen Mülltonnen. Um diese Wegwerfware
       entsteht langsam ein eigener Markt. Da gibt es die Tafeln, die in großem
       Stil unverkäufliche Ware an Bedürftige abgeben. Aber die kommen nicht für
       eine Tüte Äpfel, zwei Kisten Zwiebeln oder ein paar Brötchen. Die
       Lebensmittelretter schon.
       
       Sie schließen eine Lücke, sind so etwas wie die niedrigschwellige Tochter
       der Tafeln – ohne bezahlte Mitarbeiter, ohne große zentrale
       Lebensmittellager wie die 1.200-Quadratmeter-Halle in Hamburg-Barmbek und
       ohne Fuhrpark. Sie haben nur eine Internetseite, auf der gerettete
       Lebensmittel angeboten werden und selbst gebastelte Ausweise für die
       Mitglieder.
       
       Bei ihnen muss niemand seine Bedürftigkeit mit einem Harzt-IV-Bescheid
       nachweisen, um Essen geschenkt zu bekommen und eine Paprika ist ihnen
       ebenso willkommen wie 600 Packungen Hollandaise, die Schlüter letzten
       Donnerstag in ihre Dreizimmer-Wohnung geschleppt hat und die es heute zum
       Gemüse gibt.
       
       Beinahe wäre die Hollandaise allerdings verkohlt, jemand hat den Topf auf
       die falsche Herdplatte geschoben. Dabei darf schon nur „Das Kochkernteam“
       in die Küche, wie das Schild an der Küchentür verkündet. „Trotzdem Chaos“,
       sagt Anja Bischoff und zieht den Soßentopf von der Hitze, schmeckt die
       Gemüsepfanne ab („Salz und einen Spritzer Zitrone dazu, bitte!“), schaut
       nach den Ofenkartoffeln, räumt herumliegende Löffel weg, probiert mit
       spitzen Lippen den Nachtisch, der ihr auf einem Holzlöffel hingehalten
       wird. Ihre neonfarbenen Federohrringe fliegen nur so.
       
       Bischoff rettet Lebensmittel in Hamburg-Altona und sie hat den
       Lebensmittelüberschuss zum Thema ihrer Kunstpädagogik-Diplomarbeit gemacht,
       an der sie derzeit arbeitet. „Foodshariment“ nennt sie ihr Projekt, bei dem
       es darum geht, überschüssige Lebensmittel zu finden und zu verarbeiten. Das
       können alte Gewürze aus der letzten Regalecke sein oder altes Brot, ein
       typischer Überschuss, sagt sie.
       
       Dabei kann man gerade mit Brot so viel anfangen, auch wenn es nicht
       taufrisch ist. In ihren Workshops kochen sie frei Schnauze einfach drauf
       los und finden etwa für altes Brot neue Formen. Schlüter macht auch mit und
       hat beim letzten Mal die Plunserplinsen erfunden, eine Art Frikadelle aus
       Brot, Linsen, Mandeln und Joghurt.
       
       Bischoffs Professor wollte, dass am Ende des Projektes ein Kochbuch
       entsteht. „Aber das wäre der Tod der Idee“, sagt sie. Denn dann laufen die
       Leute nur los, um für die Rezepte einzukaufen. Bischoff will das Gegenteil,
       ihre Workshop-Teilnehmer sollen sich mit dem beschäftigen, was sowieso im
       Überfluss da ist und sonst auf dem Müll landet.
       
       Für Christina Schlüter fing es mit dem Griff in einen Müllcontainer an. Sie
       hatte Raphael Fellmer, den Gründer der Lebensmittelretter-Bewegung, im
       Fernsehen gesehen. Fellmer lebt ein Leben ohne Geld und sprach in der
       Sendung auch über das Containern. Kurze Zeit später kam sie mit ihrem Sohn
       vom Arzt und sah einen Mann vor einem Supermarkt in einem Container wühlen.
       Abends kam sie zurück und tat es ihm gleich.
       
       „Mein Herz hat geklopft wie verrückt“ und als sie mit eigenen Augen sah,
       was da alles im Müll lag, machte es irgendwie klick. Das war vor etwa fünf
       Monaten. Damals, sagt sie, wurde sie Lebensmittelretterin und war eine der
       ersten in Hamburg. Auf dem Kongress gehört sie zu den Erfahrenen.
       
       Schlüter ist auf einem Bauernhof in Niedersachsen aufgewachsen, weiß, wie
       Huhn und Schwein in die Packung kommen. Schade fand sie es schon immer,
       Lebensmittel wegzuwerfen, das war es aber. Sie lernte im Hotel, arbeitete
       eine Weile im Londoner Hilton und hat vor ihrer Babypause für ein Hotel in
       Hamburg Events organisiert. Jetzt würde sie viel lieber das
       Lebensmittelretten zum Beruf machen, sagt sie. Vielleicht könnte sie sowas
       wie eine Nachhaltigkeitsberaterin sein.
       
       Das Essen ist fertig und auf zusammengeschobenen Tischen haben die
       Küchenleute zwei Buffets aufgebaut. Anja Bischoff dirigiert die Teilnehmer
       mit eigenem Teller und die ohne auseinander, es muss seine Ordnung haben.
       Beim Essen landen die Gespräch immer wieder in Belgien und dem
       Anti-Wegwerf-Gesetz.
       
       Dort hat die Regierung ausgerechnet, dass die Summe der weggeworfenen
       Lebensmittel jedes Jahr belgienweit einen Verkaufswert von rund zwei
       Milliarden Euro hat. Um diese Verschwendung einzudämmen, hat das
       wallonische Parlament im März ein Gesetz verabschiedet, das großen
       Supermärkten verbietet, unverkäufliche Lebensmittel wie etwa angeditschtes
       Gemüse wegzuwerfen.
       
       Wer sich nicht daran hält, muss im schlimmsten Fall sein Geschäft
       schließen. In der wallonischen Stadt Herstal gilt dieses Gesetz bereits
       seit sechs Monaten und die Supermärkte geben ihre Wegwerfware an karitative
       Organisationen. Belgische Verhältnisse, das wäre was, sagt Schlüter.
       
       „Wegwerfen sollte bestraft werden“, sagt auch Marco Scheffler. Er soll nach
       der Mittagspause über seine Aktion „Götterspeise – Lebensmittel vor dem
       Müll retten“ erzählen. Scheffler trat als Direktkandidat bei den letzten
       beiden Bundestagswahlen an und machte die Lebensmittel zu seinem Thema,
       nachdem er den Film „Taste the Waste“ gesehen hatte.
       
       Sein Ansatz ist noch niedrigschwelliger als der der Lebensretter.
       Effektiver, wie er sagt: Er bekommt von einem Supermarkt um die Ecke jeden
       Tag zehn bis 15 Kisten mit Lebensmittel, die für den Müll bestimmt waren
       und verschenkt es direkt vor dem Markt. „Dafür braucht es keine
       übergeordnete Organisation“, sagt Scheffler. Man muss nur teilen wollen.
       
       Als Konkurrenz empfinden Schlüter und Scheffler sich nicht. Es gebe eben
       verschiedene Wege, dem Fehler im System zu begegnen.
       
       30 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilka Kreutzträger
       
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