# taz.de -- NS-Überlebender über Wehrmacht: „Hätte ihm ins Gesicht sehen wollen“
       
       > In Italien wurde der ehemalige Wehrmachtssoldat Alfred L. wegen eines
       > Massakers verurteilt. Die taz sprach mit dem Überlebenden Armando Tincani
       > und seinem Sohn.
       
 (IMG) Bild: In der Vergangenheit haben italienische Militärgerichte oft deutsche Wehrmachtsangehörige verurteilt – anders als viele deutsche Gerichte.
       
       taz: Vor siebzig Jahren fiel die Wehrmacht in Monchio ein. Wie konnten Sie
       überleben, Armando Tincani? 
       
       Armando Tincani: Ich verdanke das dem Zufall. In unserem Haus haben die
       Soldaten nur die Männer getötet, in anderen Häusern auch die Frauen und die
       Kinder. Meinen Vater, Ennio Tincani, richteten sie sofort vor meinen Augen
       hin. Meinen Großvater Raffaele Abbati und meinen Onkel Remo Abbati führten
       sie in die Ortsmitte und erschossen sie dort.
       
       Überall Leichen, ein zerstörter Ort: Sind Sie diese Bilder jemals
       losgeworden? 
       
       Armando Tincani: Mit dem Prozess sind sie noch realistischer geworden.
       Viele Jahre habe ich nicht darüber gesprochen, auch wenn ich oft daran
       gedacht habe. Ich war damals ein Kind, sechseinhalb Jahre alt und das Leben
       ging irgendwie weiter. Aber natürlich fehlte mir mein Vater, der mich an
       der Hand hielt, bis kurz vor seiner Erschießung. Mit dem Prozess habe ich
       gelernt, darüber zu sprechen.
       
       Wann haben Sie zum ersten Mal von den Erlebnissen Ihres Vaters gehört,
       Roberto Tincani? 
       
       Roberto Tincani: Erst im Zusammenhang mit dem Prozess. Ich wusste natürlich
       vieles so ungefähr, doch dass diese ganze Geschichte noch so lebendig in
       meinem Vater ist, das habe ich erst während der Vorbereitung auf den
       Prozess erfahren. Aber viel wurde vorher nicht geredet. Meine Eltern kommen
       aus alten Bauernfamilien, man arbeitete viel und man redete wenig.
       
       Sie sahen Ihren Vater bei den Schilderungen weinen. 
       
       Roberto Tincani: Ja, erst jetzt habe ich ihn auch den Körper meines
       Großvaters beschreiben hören, all das Blut und die Verzweiflung meiner
       Großmutter.
       
       Wurde in der Familie diese Geschichte verdrängt? 
       
       Roberto Tincani: Nein, es wurde als gegeben gesehen. An jedem 18. März
       waren die Gedenkveranstaltungen, da waren wir immer. Aber man redete eben
       nicht viel, noch weniger über erlittenes Leid und Not.
       
       Wie lebte die Familie weiter? 
       
       Armando Tincani: In totaler Armut. Aber meine Mutter hat unser Leben wieder
       aufgebaut. Angefangen mit unserem Haus. Sie hat es wieder gedeckt, wieder
       bewohnbar gemacht. Wir haben auf den Fensterbänken gegessen, da wir keine
       Möbel hatten. Die Soldaten hatten nicht nur unsere Angehörigen und Nachbarn
       getötet, sie brannten auch alles nieder, und was ihnen gefiel, nahmen sie
       mit.
       
       Roberto Tincani: Sie folgten der Strategie der verbrannten Erde. Es sollte
       ein Exempel statuiert werden wie in vielen Dörfern und Gemeinden.
       
       Armando Tincani: Aber meine Mutter gab nicht auf. Und zum Glück halfen uns
       unsere Nachbarn, wir hielten sehr zusammen.
       
       Das Urteil aus Italien hat keine Rechtskraft in Deutschland. Hat die
       Verurteilung für Sie dennoch eine Bedeutung? 
       
       Armando Tincani: Eine große Bedeutung! Es steht nun schwarz auf weiß, wer
       die Mörder waren. Nach siebzig Jahren ist höchstrichterlich alles
       aufgeklärt, es ist nicht mehr im Nebel der Geschichte. Für uns, über die
       diese Tragödie hereingebrochen ist, ist diese Klarheit sehr wichtig.
       
       Die verurteilten sechs ehemaligen Wehrmachtsangehörigen sind alle in hohem
       Alter. Alfred L. ist beinahe 90 Jahre alt. Wollen Sie ihn vor einem
       deutschen Gericht sehen? 
       
       Armando Tincani: Ich hätte gerne, dass die italienische Verurteilung in
       Deutschland umgesetzt würde. Wenn auch nur symbolisch, wenn auch nur für
       einen Tag. Es sollte klar gemacht werden, was Herr L. und seine Kameraden
       getan haben.
       
       Keiner der Verurteilten kam zu dem Verfahren. Herr L. sagte aber Medien
       gegenüber, er sei sich keiner Schuld bewusst. 
       
       Armando Tincani: Ich hätte ihm gerne zuhören wollen, was er zu seiner
       Verteidigung zu sagen gehabt hätte. Und ja, ich hätte ihm ins Gesicht sehen
       wollen, wie er wohl versucht hätte, jede Verantwortung von sich zu weisen.
       Im Beisein seiner Opfer.
       
       Herr L. fühlt sich zu unrecht verfolgt. Er sei bloß ein Melder gewesen, so
       sagt er. 
       
       Roberto Tincani: In der Urteilsbegründung heißt es fast wörtlich: Herr L.
       war an den Massakern beteiligt. Er handelte als Befehlsempfänger im
       ständigen Rapport mit dem Kommandanten seines Zuges. Das Gericht berief
       sich auch auf Tagebucheinträge von Herrn L., in denen von „Einsätzen gegen
       Banden“ und „blutiger Rache“ geredet wird.
       
       Das Verfahren hält Herr L. aber für politisch motiviert. 
       
       Roberto Tincani: Hier geht es um die Tötung von Zivilisten, um
       Kriegsverbrechen. Diese Verbrechen verjähren nicht, schon deshalb musste
       der italienische Staat diese Prozesse führen.
       
       Es besteht die Möglichkeit, dass in Deutschland kein Verfahren eröffnet
       wird. 
       
       Roberto Tincani: Aber noch ist nicht das letzte Wort gesprochen. Es gibt
       auch noch die Entschädigungskommission, ich hoffe, dass dort Gelder für
       Erinnerungsarbeit bewilligt werden. Wie spät die juristische Aufarbeitung
       passiert und wie schlecht, das darf nicht verschwiegen werden.
       
       8 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Speit
       
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